Wirtschaftspolitische Kehrtwende der USA - Was „Bidenomics“ für Deutschland und Europa bedeuten

Mit seiner Rede im April erklärte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan mehr als 75 Jahre amerikanischer Wirtschaftspolitik für beendet und erläuterte die Eckpfeiler einer künftigen Biden-Doktrin. Doch wie verändert das die Architektur der globalen Wirtschaftsordnung? 

Joe Biden bei einer Rede in Philadelphia, Pennsylvania / dpa
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Autoreninfo

Joachim Lang ist Jurist und war von 2017 bis 2022 Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Seit 2022 ist er geschäftsführender Gesellschafter der Strategic Minds Company und Senior Advisor der Strategieberatung Oliver Wyman.

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Wenn die Mächtigen planen, etwas Wichtiges zu sagen, dann wählen sie gerne eine akademische Stätte. Der französische Präsident Macron hielt seine berühmte Europa-Rede 2017 an der Sorbonne-Universität. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, verkündete die neue europäische China-Strategie im März 2023 bei einer Veranstaltung der Thinktanks „European Policy Centre“ und „Merics“.  

Und so verwundert es nicht, dass die wichtigste Veränderung in Dekaden amerikanischer Außenwirtschaftspolitik in den Räumen des Thinktanks „Brookings“ stattfand. Mit seiner Rede am 27. April 2023 erklärte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, mehr als 75 Jahre amerikanischer Wirtschaftspolitik für beendet und erläuterte die Eckpfeiler einer künftigen Biden-Doktrin. Wie konnte es dazu kommen?

„Renewing American Economic Leadership“ 

Kein anderes Land hat die globale Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit stärker geprägt als die USA. Die Schaffung internationaler Organisationen wie die Vereinten Nationen, Weltbank, IWF oder die Welthandelsorganisation WTO gehen auf den amerikanischen Anspruch zurück, nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg nicht nur eine militärische, sondern die wirtschaftspolitische Führungsmacht zu sein. Insbesondere die WTO wurde mit dem Ziel gegründet, Handelshemmnisse abzubauen, damit den internationalen Handel zu fördern und dem Westen unter der Führung der USA globale Märkte zu erschließen. Steuersenkung, Privatisierung, Deregulierung und Freihandel waren die Schlagwörter der Liberalisierung seit den 1980er Jahren.  

In seiner Grundsatzrede mit dem bezeichnenden Titel „Renewing American Economic Leadership“ bekennt Sullivan, dass diese Politik – in Deutschland „Wandel durch Handel“ genannt – den USA im Ergebnis mehr Nach- als Vorteile gebracht habe. Die Hoffnung, wirtschaftliche Integration von Staaten in eine regelbasierte Ordnung mit Freihandel und wirtschaftlicher Prosperität führe zu verantwortungsbewusstem Handeln und friedlicher Kooperation, habe sich in zu wenigen Fällen realisiert.

Vor allem der Beitritt Chinas zur WTO habe sich nicht so entwickelt wie erhofft. China sei keine Marktwirtschaft geworden, subventioniere in großem Stil traditionelle Industriesektoren wie z.B. Stahl, aber auch Schlüsselindustrien der Zukunft wie saubere Energie, digitale Infrastruktur oder Biotechnologien, und verzerre damit fairen Wettbewerb. Im Ergebnis hätten die USA nicht nur Waren, sondern auch Arbeitsplätze und Knowhow exportiert. 

Sullivan beklagt, dass man nicht nur den Maschinenbau verloren habe, sondern überhaupt die Wettbewerbsfähigkeit bei Zukunftstechnologien. Zudem habe der durch die Globalisierung entstandene beträchtliche Wohlstand die amerikanische Mittelklasse nicht erreicht, wodurch deren Vertrauen in die Demokratie erschüttert worden sei. Auch die über Jahrzehnte entstandene weltweite Verflechtung von Wirtschaftsbeziehungen habe zu Abhängigkeiten in einzelnen Bereichen geführt, die sich nun als nachteilig erweisen würden, da sie zur Durchsetzung nationaler Interessen missbraucht werden könnten. 

 

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Die Antwort auf diese zum Teil schmerzhaften Einsichten und die Konsequenz aus der Analyse der US-Administration ist eine Neuorientierung der amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik an den Interessen und Bedürfnissen der amerikanischen Mittelklasse. Zur Umsetzung setzt die US-Administration in Abkehr früherer Politiken auf eine klare Industriepolitik. Sie unterscheidet dabei drei Kategorien: Sektoren, die fundamental für die wirtschaftliche Entwicklung der USA sind, Sektoren, die aus Gründen nationaler Sicherheit strategische Bedeutung haben, und Sektoren, in denen private Unternehmen nicht die erforderlichen Investitionen tätigen können, die nötig sind, um die nationalen Ziele zu erreichen.

Sullivan wehrt sich gegen den Vorwurf, Amerika schotte sich ab

In diesen drei Bereichen soll der Staat mit öffentlichen Investitionen dazu beitragen, die Kraft der Märkte, des Kapitalismus und des Wettbewerbs so zu entfalten, dass damit die Grundlage für langfristiges Wachstum gelegt werden kann. Sullivan verweist fast entschuldigend darauf, dass Industriepolitik immer schon Bestandteil amerikanischer Politik gewesen sei, von DARPA zum Internet und von der NASA zu kommerziellen Satelliten. 

Sullivan wehrt sich gegen den Vorwurf, Amerika schotte sich ab. Es gehe nicht um Autarkie, sondern um eine Stärkung der Resilienz und Sicherheit in den Lieferketten. Als erste Erfolge verweist er auf den CHIPS and Science Act, der zu einer Vervielfachung der Investitionen in die Halbleiterindustrie geführt habe. Gleiches sei vom Inflation Reduction Act (IRA) zu erwarten, der sich zu einer Quelle der Stärke und Verlässlichkeit entwickeln werde. Die enorme Verlagerung von Produktion und die erheblichen Investitionen aus Deutschland in den USA deuten darauf hin, dass er Recht behalten wird.

Sullivan legt viel Wert darauf, zu unterstreichen, dass es sich um eine Industriepolitik für die amerikanische Mittelklasse handele, die sich jedoch nicht gegen jemanden richte. Vielmehr sei es auch für Amerikas Partner erstrebenswert, eine starke, widerstandsfähige und hochinnovative technologisch-industrielle Basis zu haben. Dieses Denken bilde auch die Basis für künftige Freihandelsabkommen, deren vorrangiges Ziel der Aufbau diversifizierter und resilienter Lieferketten sein müsse, gefolgt von der Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze. 

Man müsse um einige wenige Technologien einen Zaun errichten

Ausführlich widmet sich Sullivan dem Verhältnis zu China. Ein China, das durch Kreditvergabe Einfluss ausübt, das seinen Rohstoffreichtum als Druckmittel einsetzt, das in vielfältiger Hinsicht ein Wettbewerber ist und seine militärischen Fähigkeiten stetig ausbaut. Ein China, das eine Politik des De-Risking erfordere. Deshalb gelte ab sofort eine Politik des „small yard, high fence“. Man müsse um einige wenige Technologien einen hohen Zaun errichten, insbesondere um die Halbleiterindustrie. Auch ausländische Direktinvestitionen in den USA werde man genauer unter die Lupe nehmen; ebenso amerikanische Investitionen in neue Technologien im Ausland.

Es handele sich nicht um eine Technikblockade, wie China behaupte, sondern darum, China den Zugang zu militärisch nutzbarer Technologie zu erschweren. Davon abgesehen gebe es ausgezeichnete bilaterale Wirtschaftsbeziehungen zu China, der Handel habe gerade erst einen neuen Rekordstand erreicht. 

Trump-Lager auf Dauer den Boden entziehen

Sullivan schließt damit, dass diese Industriepolitik sicherlich zu vielerlei Diskussionen führen werde, aber die internationale Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit sei auch nicht über Nacht entwickelt worden. Soviel dazu. Was über Jahrzehnte galt, gilt nicht mehr. Ab jetzt gilt, was der amerikanischen Mittelklasse nützt. Das ist nunmehr die offizielle Doktrin der USA und damit der Leitstern für die Biden-Administration. Vielleicht aber auch für die Zeit danach. Denn Ursprung der Analyse ist die Frage, warum so viele Wähler für Trump votiert haben. Sullivan legt schonungslos offen, wo die Schwächen der amerikanischen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre lagen und wozu sie geführt haben.

Um dem Trump-Lager auf Dauer den Boden zu entziehen, muss sich die wirtschaftliche Lage weiter Teile der Bevölkerung verbessern. Dazu muss die Beschäftigung steigen, bessere Löhne gezahlt und Aufträge zurückgeholt werden. Das wird auf Dauer nur möglich sein, wenn wesentliche Sektoren der amerikanischen Wirtschaft wieder in den USA produzieren. Und wenn diese Bedingungen dazu führen, dass ausländische Unternehmen diesem Beispiel folgen, dann werde das begrüßt.

Sei es über Programme wie „Buy American“ mit strengen Beschaffungsvorgaben für die öffentliche Hand oder Quoten an heimischer Produktion, um in den Genuss von Fördermitteln zu gelangen. Hinzu kommen sehr attraktive Steuernachlässe für Investitionen zur Erreichung der Klimaziele in den USA, die schon jetzt eine hohe Anziehungskraft entfalten. 

Handel als Waffe schien undenkbar in einer Welt des Freihandels

Was bedeutet das nun für Deutschland und Europa – Akteure, denen die enge Verknüpfung von Außenpolitik, Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik fremd ist? Deutschland und Europa hatten in der Vergangenheit eine vielleicht zu optimistische Sicht auf die Globalisierung. In einer Welt regelbasierter Ordnung, in der alle nur noch darauf hinarbeiten, das Klima des Planeten in den Griff zu bekommen, hätte man zu einem großen Player werden können.

In den USA, China, Russland und Indien spielen jedoch schon seit einigen Jahren Fragen der wirtschaftlichen Sicherheit und protektionistische Strömungen eine wachsende Rolle. Unbemerkt oder ignoriert von weiten Teilen Europas. Die Nutzung wirtschaftlicher Macht zur Durchsetzung politischer Interessen gilt hier als unschicklich, während andernorts die Sorge vor dem Missbrauch wirtschaftlicher Macht stieg.

Handel als Waffe schien undenkbar in einer Welt des Freihandels. Die Worte Geoökonomie wie auch Geopolitik sind Begriffe, die man in Deutschland ungern verwendet, weil sie einer längst vergangenen Welt zu entstammen scheinen, in der Großmachtinteressen die Geschicke bestimmten. Zu lange ruhte man sich auf den Lorbeeren des Falls des Eisernen Vorhangs aus, reduzierte die Bundeswehr auf ein untaugliches Maß und nannte es Friedensdividende. Die ernstzunehmende Kritik an der Nichterfüllung des zugesagten Zwei-Prozent-Ziels der Beteiligung an den Nato-Kosten wollte man nicht hören.

Erst im Zuge der Vorbereitungen auf den G7-Gipfel im Mai 2023 in Hiroshima gelang es, den Europäern den Begriff der Economic Security nahezubringen, der im Juni zur Verabschiedung einer eilig zusammengestellten Strategie führte, die nur der Beginn einer Diskussion auf europäischer Ebene darüber ist, wie man sich in einer veränderten Welt aufstellen will, die nach anderen Regeln spielt, als man selbst möchte. 

Vor Deutschland und Europa liegen schwere Zeiten

Es ist unbestritten, dass die Welt, die sich die EU und auch Deutschland vorstellen, ein erstrebenswertes Ideal ist. Aber es führt kein Weg daran vorbei, anzuerkennen, dass alles darauf hindeutet, dass wir viele Jahre vor uns haben, in denen Politik anderen Regeln folgen wird. Wollen Deutschland und Europa dabei eine Rolle spielen, müssen wir diese neuen Regeln lernen, ob wir wollen oder nicht.

Die Rede von Jake Sullivan stellt den Ausgangspunkt für einen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel dar, der enorme Auswirkungen haben wird. Ganz besonders auf die Länder, die sich in einer Partnerschaft mit den USA befinden, denn von diesen Ländern wird erwartet, dass sie sich mit diesen Zielen identifizieren. 

Wieviel Spielraum bleibt der Europäischen Union für eine eigenständige Rolle? Der Abzug der Truppen in Afghanistan kam für Europa überraschend. Die militärische Unterstützung der Ukraine wäre ohne den Beitrag der USA nicht ausreichend, und in der aktuellen Krise im Nahen Osten spielt die EU eine blamable Rolle. Die Migrationsprobleme bekommen bisher weder die EU noch Deutschland in den Griff. Was traut man Europa in dieser Lage zu und was kann die EU realistisch zur Lösung der globalen Fragen beitragen? 

Vor Deutschland und Europa liegen schwere Zeiten. Um auf der Weltbühne relevant zu bleiben, wäre es wichtig, die Realität anzuerkennen und alle Kräfte darauf zu richten, wieder zu wirtschaftlicher Stärke zurückzukehren und diese dann zur Lösung politischer Fragen einzusetzen. Ohne wirtschaftliche Stärke gibt es keine Mitsprache. Ohne wirtschaftliche Stärke gibt es keine militärische Stärke und ohne militärische Stärke gibt es keine Sicherheit, weder in Deutschland noch in Europa. 

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