Streit in der EU über Sanktionen gegen Russland - Das Energie-Problem

Das beabsichtigte Öl-Embargo gegen Russland droht die EU zu spalten. Denn die Abhängigkeit von russischen Energieträgern fällt in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich aus. Insbesondere Ungarn beansprucht eine Sonderrolle. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum Brüssel jetzt das Rechtsstaatsverfahren gegen Budapest forciert.

Wladimir Putin und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bei einem Treffen im Jahr 2019 / picture alliance
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Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Am 27. April gab Russland bekannt, dass Gazprom die Gaslieferungen an Bulgarien und Polen eingestellt hat, nachdem diese die von Russland gesetzten Fristen für die Zahlung in Rubel nicht eingehalten hatten. Die Europäische Union bemüht sich, darauf zu reagieren, während die Mitglieder über den Inhalt ihres nächsten Sanktionspakets verhandeln, das ein Verbot russischer Öleinfuhren beinhalten würde. Doch wie fast immer in der EU gibt es auch hier Uneinigkeit. Deutschland, Polen und die Niederlande mögen Russlands größte Kunden in Europa sein, doch Ungarn scheint weiteren Sanktionen gegen Russland am wenigsten abgewinnen zu können. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat Anfang April erklärt, dass Ungarn auch in Rubel zahlen würde, wenn Russland dies verlangt. 

Diese Forderung dürfte sich nur begrenzt auf die europäische Energiesicherheit auswirken, aber sie wird erhebliche politische Folgen haben, insbesondere für Ungarn, dem es immer schwerer fallen wird, seine Position gegenüber Russland – und der EU – zu behaupten.

Lieferstopp nach Polen und Bulgarien

Die Ankündigung Russlands, ganz zu schweigen von der Unterbrechung der Exporte nach Polen und Bulgarien, wurde als Vertragsbruch bezeichnet – aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, wird es keine allzu großen Auswirkungen haben. Polen importiert zehn Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas pro Jahr, und der Vertrag mit Russland sollte ohnehin im Dezember auslaufen. Bulgarien importiert drei Milliarden Kubikmeter. Zusammen machen sie nur acht Prozent der gesamten EU-Einfuhren aus. Beide Länder planen bereits, den Wegfall durch Lieferungen aus Norwegen und Aserbaidschan sowie durch importiertes Flüssig-Erdgas auszugleichen.

Es ist unklar, welchem Land Moskau als nächstes den Hahn zudrehen will. Die Fristen sind der Öffentlichkeit nicht bekannt und hängen von den Einzelheiten der Verträge und Verhandlungen zwischen Gazprom und seinen Kunden ab. Aus Branchenkreisen ist jedoch zu hören, dass es bereits im Mai so weit sein könnte. Wie dem auch sei, die Europäische Kommission hat die Mitgliedstaaten aufgefordert, dafür zu sorgen, dass ihre Anlagen bis November zu mindestens 80 Prozent gefüllt sind, und obwohl es schwierig ist, die Lagerbestände der einzelnen Mitgliedstaaten in Erfahrung zu bringen, beträgt die Lagerkapazität innerhalb der EU derzeit nur 33 Prozent.

Es ist auch unklar, was Russland künftig genau tun will. Moskau kann es sich heute weniger denn je leisten, auf allzu viele Einnahmen zu verzichten. Vielleicht ist das der Grund, warum Russland seinen europäischen Kunden zunächst einen scheinbaren Kompromiss angeboten hat: Die Energieimporteure würden demnach zwei Konten bei der Gazprombank eröffnen, die derzeit nicht von Sanktionen betroffen sind, und die europäischen Käufer würden Euro auf ein erstes Konto einzahlen, woraufhin die Bank sie in Rubel umrechnen und das Geld auf ein zweites Konto einzahlen könnte. Anschließend würde die Summe an Gazprom überwiesen.

Aber das Angebot war auch strategisch. Moskau wusste, dass das alles zu Unstimmigkeiten zwischen den europäischen Staaten führen und möglicherweise das westliche Bündnis schwächen würde – eines seiner wichtigsten Ziele in der Ukraine. Der Vorschlag spaltet die EU-Mitglieder im Wesentlichen in drei Gruppen. Die eine besteht aus Ländern wie Belgien, Spanien und Rumänien, die wenig oder gar kein Gas aus Russland importieren und sich daher einem Kompromiss verweigern können. Zur zweiten Gruppe gehören Länder wie Polen, die nur teilweise von russischem Gas abhängig sind und deren Verträge möglicherweise bald auslaufen. Diese Länder sind bereits auf der Suche nach neuen Lieferanten und könnten in nächster Zeit einen Kompromiss in Betracht ziehen. Die dritte Gruppe besteht aus großen Abnehmern wie Deutschland und Italien, die Schwierigkeiten haben, ihre Importe schnell zu ersetzen, und die den Kompromiss annehmen könnten, wenn die drohende Kürzung der Lieferungen ihre Wirtschaft drastisch beeinträchtigt. Sie überlegen, ihre Gaslieferanten zu ersetzen und alternative Gasquellen zu finden. Für sie sind Zeit und Anpassungsfähigkeit von entscheidender Bedeutung.

Sonderfall Ungarn

Ungarn ist in diesem Zusammenhang ein bisschen ein Ausreißer. Im Kontext der jüngsten EU-Geschichte ist Budapest zu einem wichtigen Partner für Russland geworden. Seit 2008 hat die EU mit sozioökonomischen Problemen und seit Anfang der 2010er-Jahre mit einer Flüchtlingskrise zu kämpfen. Infolgedessen gingen die Unterstützung und die finanzielle Förderung für die osteuropäischen Länder, die noch neu in der EU waren, zurück, während Westeuropa mit noch nie dagewesenen Problemen konfrontiert war. Nationalismus, Populismus und Euroskepsis haben unterdessen in ganz Europa zugenommen. Die Energiesicherheit war für die meisten europäischen Staaten schon lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zu einem Problem geworden.

Inmitten dieser Probleme begann Ungarn, sich stärker mit Russland einzulassen, das Energiesicherheit und Investitionen bieten konnte. Diese Entscheidung rief natürlich Kritik aus Brüssel hervor, und Ministerpräsident Viktor Orbán nutzte sie, um die Unterstützung im eigenen Land zu stärken, indem er sich als Verfechter der Souveränität und Unabhängigkeit gegenüber einem immer zudringlicheren Europa positionierte.

Derzeit kommen rund 75 Prozent der ungarischen Erdgas- und 65 Prozent der Erdölimporte aus Russland. Das bedeutet, dass die Importpreise eine Frage der politischen Stabilität sind. Budapest hat im vergangenen Herbst die Energiepreise gedeckelt, um die inländischen Verbraucher vor steigenden Ölpreisen zu schützen. Die Regierung gewährt Steuervorteile und Subventionen, und die Kosten des Preisstopps werden derzeit zwischen den großen Anbietern, den kleinen Tankstellen und der Regierung aufgeteilt. Man kann also verstehen, warum die Regierung zögert, Russland zu sanktionieren.

Doch Ungarns Verbundenheit mit Russland geht über den Energiebereich hinaus. Der geopolitische Imperativ Ungarns und die sich daraus ergebende Strategie besteht darin, die innere Sicherheit aufrechtzuerhalten und gleichzeitig zu versuchen, seinen Einfluss und seine Macht über die derzeitigen Grenzen hinaus auszuweiten. Dies erfordert ein Gleichgewicht zwischen seiner Ausrichtung auf den Westen und seinen Beziehungen zu Russland.

Ungarns ungewisse Strategie

Zwei historische Ereignisse sind für die Strategie Ungarns maßgeblich. Das erste und wichtigste ist der Vertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg, durch den Teile der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie auf dem Balkan und in Osteuropa abgetreten wurden, als die Nationalstaaten in der Region im Entstehen begriffen waren. Seitdem war es das Ziel Ungarns, Einfluss zu bekommen und schließlich das Land zurückzugewinnen, das es als ungerechtfertigt verloren betrachtete. Während des Kalten Krieges war Budapest nicht stark oder unabhängig genug, um diese Gebiete zurückzuholen, aber seit dem Ende des Konflikts bemüht es sich intensiv um die ungarischen Communities im Ausland, die dort an den ungarischen Wahlen teilnehmen.

Das zweite Ereignis ist die ungarische Revolution von 1956. Der Aufstand wurde von den Sowjets nach heftigen Kämpfen niedergeschlagen, und nachdem sich die USA als unwillig erwiesen, dem sowjetischen Vorgehen entgegenzuwirken, scheiterte er schließlich. Viele Ungarn sehen darin den Beweis dafür, dass man Amerika nicht trauen kann. Dennoch wurde Ungarn Mitglied der Nato, als es die Überlegenheit des Westens gegenüber Russland erkannte, und es trat der EU bei, als es die wirtschaftlichen Vorteile der Mitgliedschaft zur Kenntnis nahm. Dennoch haben die Ungarn keiner der beiden Organisationen je volles Vertrauen geschenkt und ihre Beziehungen zu Russland nie ganz aufgegeben.

All dies erklärt die Position Ungarns. Budapest ist von russischer Energie abhängig, und obwohl es von den westlichen Institutionen aufgenommen wurde, braucht es immer noch gute Arbeitsbeziehungen zu Moskau – und umgekehrt. Russland hat keine Bedingungen für seine Investitionen in und seine Geschäftsbeziehungen zu Ungarn gestellt. Dass sich das Verhältnis zum Westen in letzter Zeit verschlechtert hat, machte die ungarisch-russische Romanze umso schlüssiger.

Daraus ergibt sich auch die ungarische Reaktion auf den Einmarsch in der Ukraine. Budapest hat Russland nicht harsch verurteilt, wie es andere getan haben – und sich stattdessen darauf konzentriert, die ungarischen Gemeinschaften in Osteuropa zu schützen, während es in gewisser Weise dazu beigetragen hat, ukrainische Flüchtlinge in das übrige Europa zu bringen (was es bei anderen Einwanderungskrisen nur ungern getan hat, als die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika kamen). Budapest tat das Nötigste, um die Nato bei der Verstärkung der Ostflanke zu unterstützen, und erlaubte der Nato, Truppen im Land zu stationieren. Allerdings lehnte die ungarische Regierung die Lieferung von Waffen und Ausrüstung aus Nato-Mitgliedstaaten und von US-Verbündeten an die Ukraine ab. (Auch hier ist wieder Innenpolitik im Spiel: Während des jüngsten Wahlkampfs sah Budapest die Möglichkeit, dass Russland gewinnen würde – und erkannte daher eine Gelegenheit, seinen Einfluss in den Unterkarpaten auszuweiten und gleichzeitig die Energiesicherheit des Landes zu gewährleisten.)

Trotz der offensichtlichen Vorteile ist Ungarns Strategie aber keineswegs so erfolgreich, wie es scheint. Da der Ausgang des Krieges immer unklarer wird, besteht der einzige greifbare Vorteil darin, dass das Land russisches Gas zu einem Zeitpunkt günstiger bekommt, an dem sich alle anderen um das Gas streiten. Doch selbst dieser Vorteil könnte durch die weitere Entwicklung der Dinge in Frage gestellt werden.

Brüssel setzt Budapest unter Druck

In der Zwischenzeit scheint die Europäische Kommission mit ihrer Drohung ernst zu machen, die EU-Mittel für Ungarn zu kürzen, wenn das Land seine Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit nicht in den Griff bekommt. Sie hatte diese Drohung bereits vor der russischen Invasion in der Ukraine ausgesprochen, aber da Budapest sie nicht ernst nahm und es schwierig war, Ungarn dazu zu bringen, sich der EU (und den USA) bei der Verurteilung Russlands anzuschließen, hat die Kommission ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, wodurch die Forderung realistischer wurde. (Auch wenn die EU abstreitet, dass dieses Verfahren mit dem Konflikt in der Ukraine zusammenhängt, ist der Zeitpunkt jedenfalls bezeichnend).

Es ist das erste Mal, dass die Kommission ein solches Verfahren einleitet, das auf dem Grundsatz beruht, wonach die Auszahlung von EU-Mitteln von der Einhaltung etwa der Rechtsstaatlichkeit abhängt und das dazu führen könnte, dass Länder mit systemischen Problemen keine Mittel mehr erhalten. Das Verfahren wird voraussichtlich zwischen fünf und neun Monaten dauern. Außerdem sind zwei Konsultationsrunden mit Budapest vorgesehen. Sollten die Gespräche jedoch ergebnislos verlaufen, wird die Kommission „administrative Abhilfemaßnahmen“ entwerfen, die die anderen EU-Länder mit qualifizierter Mehrheit im Rat annehmen oder abändern müssen – ein Prozess, der maximal drei Monate dauern wird.

Viele sehen darin den Versuch Brüssels, einen Präzedenzfall zu schaffen: eine Warnung an andere europäische Länder in Bezug auf EU-Gelder und demokratische Normen. Zum Teil ist das auch so, aber da die Fehde zwischen Brüssel und Budapest schon seit Jahren andauert, deutet der Zeitpunkt auf etwas anderes hin: dass dies eine Folge der Unterstützung Russlands ist oder zumindest der Tatsache geschuldet, dass man sich in Bezug auf den Krieg nicht bedingungslos auf die Seite der EU stellt. In den bevorstehenden Gesprächen wird es an Budapest liegen, seine Position zu verhandeln und zu entscheiden, ob Europa oder Russland für Ungarn ein zuverlässigerer und finanziell ergiebigerer Partner ist.

Es könnte sein, dass die Antwort Ungarns an Brüssel in den kommenden Monaten die Reaktion von Gazprom auf Budapests Energiesicherheitsbedenken beeinflussen wird. Doch wie auch immer die Entscheidung ausfällt: Das Energieproblem in Europa bleibt bestehen. Russland kennt und nutzt einige wichtige Schwachstellen, und Brüssel kämpft darum, Politik und Wirtschaft zu koordinieren, während die Nationalstaaten um Stabilität ringen.

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