Stimmung in der Baubranche - „Die Industrie muss komplett umgebaut werden“

Die Stimmung in der Baubranche ist denkbar schlecht. Die gestiegenen Zinsen und Baukosten führen zur Stornierung von Bauprojekten. Im Interview erklärt die Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht, Ipek Ölcüm, wieso die Branche ein umfangreiches Maßnahmenpaket benötigt.

„Die Aussichten für die Baubranche stimmen nicht hoffnungsvoll“, sagt Ipek Ölcüm / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Ipek Ölcüm ist Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht sowie Wirtschaftsmediatorin (IHK). Sie ist Gründungsmitglied des Industrieverbands Lehmbaustoffe e.V. und dort seit Juni 2023 Geschäftsführerin. Ölcüm verfügt über langjährige Berufserfahrung als Rechtsanwältin für Privates Bau-, Architekten- und Vergaberecht. Sie war beim Deutschen Institut für Bautechnik tätig und leitete dort die gemeinsame Marktüberwachungsbehörde der Länder für harmonisierte Bauproduktion.

Frau Ölcüm, wie geht es dem Wohnungsbau? 

Dem Wohnungsbau geht es schlecht, und die Aussichten nach dem letzten Geschäftsklimaindex des Ifo-Instituts stimmen nicht hoffnungsvoll. Die Baubranche steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen, die die Lebenswirklichkeit von uns allen betreffen. Der Bedarf an bezahlbaren und damit auch sozialen Wohnungen ist immens. 

Können Sie das konkretisieren?

Schauen wir uns zur Verdeutlichung Berlin als eines der deutschen Ballungszentren im Jahr 2022 an: Ein Nettozuzug von circa 80.000 Menschen bei angespannter Wohnungslage, und neu gebaut wurden demgegenüber nur 17.000 Wohnungen. Dabei ist die Herausforderung, die unvereinbar scheinenden Ziele kostengünstiges und, angesichts des Klimawandels, klimaverträgliches und zugleich klimaangepasstes Bauen zusammen zu bringen.

Kann klimaverträgliches und bezahlbares Bauen gelingen? 

Es braucht ein Miteinander der drei Säulen der Nachhaltigkeit Ökologie, Ökonomie und Soziales. Das leben wir mit dem Industrieverband Lehmbaustoffe e.V. und sind der Überzeugung, dass klimaverträglich und bezahlbar Hand in Hand geht. Die Lösungen liegen in weniger Hightech und mehr Lowtech, hin zu einem einfacheren Bauen auch mit Lehmbaustoffen, die kreislauffähig und energiearm sind und ein klimaangepasstes Bauen ermöglichen.

Zuletzt bereitete ja auch die Zinslage Akteuren in der Baubranche Kopfschmerzen.

Mehr als nur Kopfschmerzen. Allem voran der starke Anstieg des Leitzinses in so kurzer Zeit seit Mitte 2022 von 0,0% auf aktuell 4,5%, um die durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Inflation zu bekämpfen, was volkswirtschaftlich sinnvoll ist und auch seine gewünschte Wirkung zeigt. Gleichzeitig wirkt die Erhöhung der Zinsen direkt auf die Bauvorhaben. Das hängt damit zusammen, dass Bauen oft fremdfinanziert ist. Wenn das zur Verfügung gestellte Kapital teurer wird, steigen die ohnehin schon hohen Baukosten weiter. 

Also erlebt die Wohnungsbaubranche aktuell multiple Krisen?

Ipek Ölcüm / privat

Ja, einerseits exogene und andererseits hausgemachte Krisen. Erstere kann niemand wirklich beeinflussen. Sie wirken sich auf Märkte aus und schaffen auch angesichts der geopolitisch veränderten Lage eine toxisch wirkende Unsicherheit. Die hausgemachten Krisen sind komplex und gehen nicht zuletzt auf die föderale Struktur von Bund-Länder-Kommunen zurück sowie die jahrzehntelange verschleppte Modernisierung, Digitalisierung und Entbürokratisierung etablierter Strukturen sowie viel zu hohe technische Komfort- und Baustandards, die sich in den erhöhten Baukosten niederschlagen, aber beeinflussbar sind. Wir müssen beim Bauen weg von Hightech hin zu Lowtech, wenn wir ernsthaft Kosten senken wollen. Die Gebäude- und Wartungstechnik ist ein Kostentreiber, davon können Bauunternehmen berichten.  

Was können wir uns unter „Baukosten“ vorstellen? 

Material-, Baustoff-, Gebäudetechnik-, Energie- und Finanzierungspreise, aber auch die Bodenpreise. Anders als die Zinskosten sind die Energiekosten nicht nur wegen der Ukraine-Krise gestiegen. Ein Instrument zum Bestreiten des Klimapfades ist die steigende Bepreisung des CO2-Ausstoßes seit 2021. Das macht sich vor allem bei der energieintensiven Baustoffindustrie wie bei der Zement- oder Ziegelherstellung und auch Keramik bemerkbar. Insofern tragen auch die steigenden Klimaauflagen zu den steigenden Preisen bei manchen Baustoffen – nicht aber bei Lehmbaustoffen – bei. Aber auch hohe Komfort-, Qualitäts- und Sicherheitsstandards verteuern das Bauen. In den letzten zehn Jahren kannten Baukosten nur eine Richtung – nämlich nach oben. Diese Erhöhungen werden an den Bauherrn und schließlich an den Käufer beziehungsweise Mieter weitergegeben.

Allerdings steigen die Mieten in Ballungszentren und belasten zunehmend auch die Mittelschicht. Wie kann es sein, dass Bauherren nicht an diesen Mieterhöhungen verdienen?

Es muss hier zwischen dem Miet- und dem Verkaufsmarkt unterschieden werden. Entscheidend ist, dass der Wohnraum bezahlbar sein muss. Im Durchschnitt können sich Bürger zehn bis 12 Euro Miete pro Quadratmeter leisten. Aber alles, was aktuell gebaut wird, müsste pro Quadratmeter mindestens 18 Euro kosten, damit es sich für Investoren lohnt. 

Ein Wahlversprechen der Regierung war der Bau von 400.000 Wohnungen pro Jahr. Wird sie dieses Ziel 2024 erreichen? 

Gebaut werden die Gebäude von Unternehmen und nicht von der Politik. Die Bundesregierung muss hierfür den Rahmen schaffen. Fairerweise muss man sagen, dass das Versprechen vor dem Krieg gegen die Ukraine datiert und die Baubranche sich im Dezember 2021 gerade von den Wirkungen der Pandemie zu erholen schien. Für 2024 gehen Berechnungen von 225.000 Wohnungen aus.

Wird die Regierung ihr Versprechen einhalten können und jährlich 100.000 Sozialwohnungen bauen?

Von den 400.000 Wohnungen, die jährlich gebaut werden sollten, sollte ein Viertel sozialgebunden sein. Ausweislich der aktuellen Pestel-Studie fehlen 900.000 Sozialwohnungen. Ein erster erfreulicher Schritt ist, dass in den Bundesetats für 2024 und 2025 jeweils eine Milliarde Euro für ein Zinsverbilligungsprogramm bei der KfW zusätzlich eingestellt wurde. 

Wie kommen wir noch schneller zum Bau der erforderlichen Sozialwohnungen?

Dafür braucht es verschiedene Maßnahmen: So beispielsweise die Novelle des Baugesetzbuchs, um Bauland zu mobilisieren. Und dann sind wir auch schon bei den Aufgaben, die nicht mehr in der Kompetenz des Bundes, sondern bei den Ländern liegen: das Bauordnungsrecht für mehr Innovation von nachhaltigen Bauprodukten, weniger Hightech, mehr Lowtech, schnelleres Bauen durch serielles und modulares Bauen erleichtern, Typengenehmigungen für Gebäude, die in allen Bundesländern anwendbar sind und die Nachverdichtung der Städte bzw. das Bauen im Bestand ermöglichen. Auch ein Absenken der Grunderwerbssteuer wäre zum Senken der Kosten geeignet, um mal nur einige Beispiele zu nennen.

 

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Wir sprachen von multiplen Krisen der Branche. Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie?

Die Aufzählung scheint mir schier unendlich: verschlafene Digitalisierung, Fachkräftemangel wegen des demographischen Wandels, zu viele und sogar für die Experten schwer überschaubare technische Standards, die Innovation verhindern, zu lange und komplexe Genehmigungsverfahren, Nachhaltigkeits- und Umweltauflagen, die alle zeitgleich zu kommen scheinen und viele Dokumentations- und Berichtspflichten auslösen, Komfort-, Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen, die ungern in Frage gestellt werden, steigende Personalkosten, ein Bauordnungsrecht, das keinen Raum für kreative neue Lösungen lässt, und mangelnde Stärkung der heimischen Rohstoffindustrie. 

Verfügt die Baubranche über ausreichend Rohstoffe oder herrscht auch hier ein Mangel vor?

Ich greife hier die heimische mineralische Rohstoffindustrie heraus. Aus geologischer Sicht kann man sagen, wir sind reich an Sand, Kies, Lehm und anderen mineralischen Rohstoffe. Doch die Genehmigungsverfahren zur Gewinnung dieser Rohstoffe können mit Rechtsstreitigkeiten bis zu zehn Jahre dauern. Deutschland hat bei der Rohstoffgewinnung sehr hohe naturschutzrechtliche und umwelttechnische Auflagen, und gleichzeitig ist die Akzeptanz in der Bevölkerung zu gering. Es braucht eine Verfahrensbeschleunigung, sonst münden wir hier in eine künstliche Verknappung der so reichlich vorhandenen Rohstoffe. Bei Rohstoffen wie Stahl oder Bitumen sind wir auf den Import angewiesen. Rohstoffe, die importiert werden, unterliegen zwangsweise den geopolitischen Unsicherheiten. Hier braucht es diverse Allianzen und Partnerschaften mit verschiedenen Ländern weltweit.  

Wie schätzen Sie den Fachkräftemangel in Ihrer Branche ein?

Da geht es der Baubranche wie allen anderen Branchen in Deutschland. Der demographische Wandel wird zu einem vermehrten Ausfall der Babyboomer-Generation führen. Nachrückende gibt es nicht in gleichem Maße. Und gleichzeitig meldete die Bauindustrie kürzlich, dass 2024 wegen der Auftragslage Entlassungen drohen, wo man doch eigentlich Personal halten möchte. Allerdings sind wir in der Lehmbranche mit unserem nachhaltigen Image attraktive Arbeitgeber, so dass ich hier bisher eher keine negativen Rückmeldungen vernommen habe.

Wen machen Sie für das Zusammenspiel dieser multiplen Krisen und das fehlende Katastrophenmanagement verantwortlich?

Ich würde nicht von fehlendem Katastrophenmanagement sprechen. Die Probleme sind vielschichtig, und auch die föderalen Strukturen machen es nicht einfacher. Einzelne Zuweisungen werden nicht helfen, wurden Maßnahmen doch über mehrere Legislaturen verschleppt. Früher sprach man davon, dass dieses Land fertig gebaut ist. Heute stehen wir bekanntlich nicht nur vor dem Ausbau der Erneuerbaren Energien und der dazugehörenden Netzinfrastruktur. Die aktuellen Entwicklungen und vermehrt auftretenden Krisen verunsichern Investoren. Auch private. Wer jetzt zwar ein gewisses Eigenkapital hat und ein Haus kaufen könnte, tut es wohl eher nicht, weil der Gedanke an die Anschlussfinanzierung ängstigt. 

In öffentlichen Diskussionen sind öfter Stimmen zu hören, die die Energie- und Klimawandelauflagen der jetzigen Regierung für diese Entwicklungen verantwortlich machen. Stimmt diese Einschätzung?

Das würde ich nicht so bewerten. Verständlich ist, dass man nach Verantwortlichen sucht. Und doch ist der Veränderungsdruck, ausgelöst vom Klimawandel, hin zu einer Umwelt- und Klimakompatibilität Realität, und das nicht erst seit 2021. Der Weg dahin geht über einen klugen Klimapfad. Als ein Instrument hat man dafür die CO2-Bepreisung vorgesehen. Und natürlich führt das auch zur weiteren Kostensteigerung. Das ist gesetzt, und von diesem Vorhaben können wir nicht abrücken, es ist umgesetzt im Klimaschutzgesetz auf Grundlage von völkerrechtlichen Verträgen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dazu 2021 schon eindeutig entschieden. Und doch fehlt mir in der Kommunikation sowohl dieser als auch der Vorgängerregierungen das Bekenntnis, dass die Umgestaltung des Gebäudesektors sozialverträglich erfolgt.

Allerdings beobachten wir aktuell, dass Immobilienpreise sinken. Macht Ihnen diese Entwicklung Hoffnung auf eine Entspannung auf dem Bau- und Wohnungsmarkt?

Die Immobilienpreise sinken, aber zu einer Entspannung führt dies nicht. Denn der Kauf einer Immobilie ist in der Regel fremdfinanziert, und die Zinsen sind, auch wenn diese gerade wieder sinken, noch zu hoch, und es gibt zu wenig Neubau. Außerdem haben einige, die eigentlich bauen oder kaufen wollten, davon Abstand genommen. Jetzt sind sie wieder auf der Suche nach Wohnraum als Mieter. Dadurch wird der Mietmarkt nochmal enger. 

Was könnte ein Ansatz sein, um die Situation auf dem Wohnungsmarkt zu entschärfen?

Es braucht ein Maßnahmenpaket auf den verschiedenen föderalen Ebenen: Bund, Länder, Kommunen. Beim Wohngipfel im Bundeskanzleramt im September letzten Jahres hatte man 14 Maßnahmen identifiziert, die alle das Ziel verfolgen, mehr zu bauen. Viele davon kann der Bund übrigens nur anstoßen und nicht umsetzen, weil die Kompetenz bei den Ländern liegt. Dieses Paket muss nun schnell umgesetzt werden. Ein weiterer Ansatz wäre, Kleinstädte und Dörfer attraktiver zu gestalten und so Ballungsräume zu entlasten.

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Akteuren aus dieser Branche? Wie ist deren Zufriedenheit mit den baupolitischen Entscheidungen der Regierung?

Ich erhalte sehr diverse Rückmeldungen. Meine Unternehmen haben sich der Nachhaltigkeit verschrieben und tun aus Überzeugung viel für das nachhaltige und bezahlbare Bauen. Und was die Bauindustrie und das Baugewerbe angeht, vergeht kein Tag, an dem man nicht liest, wie sehr sich die Unternehmen um Zuversicht bemühen müssen. Es braucht mehr Investitionen in eine lebenswerte Zukunft Deutschlands. Zum Bauen, für die Energiewende und die Mobilitätswende braucht es Investitionen in die Zukunft. Die Industrie muss im Zuge der Transformation komplett umgebaut werden, es geht also um extrem hohe Kosten. Diese werden die Unternehmen nicht alleine stemmen können. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. 

Also stimmt die Branche den Maßnahmen der Regierung insgesamt zu?

Der Klimapfad ist richtig und wichtig. Das ist allen in der Baubranche klar. Hier muss die gesamte Branche mit ihrer Energieausstattung und ihren sonstigen Strukturen umgebaut werden. Das braucht Zeit und Geld. 

Weitere Investitionen gibt die Schuldenbremse allerdings nicht her …

Ja, das ist in ihrer derzeitigen Ausgestaltung zutreffend. Die Transformation hin zur Klimaneutralität ist für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes nötig. Das braucht Zukunftsinvestitionen – wie dies von Experten schon länger gefordert wird. 

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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