Lieferkettengesetz - Ein gut gemeintes, aber selbstgerechtes Blendwerk

Das EU-Lieferkettengesetz wird wohl am Widerstand der FDP scheitern. Schon das nationale Lieferkettengesetz lässt deutsche Mittelständler verzweifeln, für die es eigentlich gar nicht gedacht ist, und schwächt diejenigen Länder, die es vor Ausbeutung schützen soll.

Kinderarbeit wie hier in Bangladesch wird das Lieferkettengesetz der Bundesregierung nicht beenden. Es sorgt aber dafür, dass mehr Menschen in unkontrollierte Arbeitsverhältnisse kommen / dpa
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Carsten Korfmacher ist Wirtschafts- korrespondent von Nordkurier und Schwäbischer Zeitung in Berlin.

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Sie sei „müde gekämpft“, sagt Martina Nighswonger. Die gebürtige Mannheimerin ist Chefin des mittelständischen Familienunternehmens Gechem im pfälzischen Kleinkarlbach. Mit ihren 160 Mitarbeitern stellt sie chemische Produkte her, entweder aus eigener Rezeptur oder nach einer vom Kunden gewünschten Formulierung. Doch momentan beschäftigt sie meist etwas anderes: das zu Jahresbeginn in Kraft getretene Lieferkettengesetz.

„In den ersten Monaten des Jahres sind die Formulare nur so auf uns eingeprasselt“, sagt die Unternehmerin. „Wir waren richtig verzweifelt. Da waren auf einmal so viele Dokumente und Fragebögen, die wir bearbeiten mussten, mal auf Deutsch, mal auf Englisch, mal kurz, mal lang, mal zum Ausfüllen, mal zur Kenntnisnahme.“ Neben den unzähligen Stunden Mehrarbeit, die sie selbst an Abenden und am Wochenende verrichtet, muss Nighswonger eine komplette Vollzeitkraft abstellen, nur um den bürokratischen Anforderungen eines Gesetzes gerecht zu werden, das sie als Mittelständlerin eigentlich gar nicht betreffen sollte.

Das ­„Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ verpflichtet deutsche Firmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern dazu, menschenwürdige und umweltfreundliche Standards entlang ihrer Lieferketten sicherzustellen. Es ist die Antwort der Politik auf die entsetzlichen Bedingungen, unter denen weltweit viele Millionen Menschen leben und arbeiten. Kinder graben in kongolesischen Minen für Hungerlöhne nach Gold oder Kobalt. Toxische Minenschlämme machen in Brasilien ganze Flusstäler unbewohnbar. Und in Bangladesch reißen einstürzende Textilfabriken Tausende Arbeiter in den Tod.

NGOs wie die internationale Entwicklungsorganisation Oxfam lassen keinen Zweifel daran, wer aus ihrer Sicht dafür verantwortlich ist: „Mit skrupellosen Geschäftspraktiken“ tragen deutsche und europäische Firmen „maßgeblich zu gefährlichen Arbeitsbedingungen, ausbeuterischer Kinderarbeit und zerstörten Regenwäldern auf der Welt bei“.

Was kann schon falsch daran sein?

Das deutsche Lieferkettengesetz soll dem ein Ende bereiten. Firmen, die darunterfallen, müssen Risikomanagementsysteme aufbauen, Beschwerdemechanismen einrichten und regelmäßige Prüfungen durchführen, um sicherzustellen, dass in der eigenen Lieferkette keine Menschenrechts- oder Umweltverstöße begangen werden. Darunter fallen Kinderarbeit, Hungerlöhne, Diskriminierung, Verunreinigungen von Böden oder Gewässern oder Verstöße gegen das Recht, eine Gewerkschaft zu bilden. Alle Maßnahmen müssen dokumentiert und veröffentlicht werden. In Arbeit ist zudem ein europäisches Lieferkettengesetz, das für EU-Firmen mit mehr als 250 Mitarbeitern gelten soll und vorsieht, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen vereinfacht Schadensersatzforderungen gegen europäische Unternehmen geltend machen können. Bei Missachtung des Gesetzes sind hohe Geldstrafen vorgesehen.

Es sind hehre Ziele. Denn was kann schon falsch daran sein, für mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen? Doch die realen Auswirkungen des Gesetzes sind verheerend. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Lieferländern.

Hierzulande sind es die gewaltigen bürokratischen Lasten, die selbst große Mittelständler mit eigenen Nachhaltigkeitsabteilungen schwer treffen. So wie die genossenschaftliche Sporthandelskette Intersport Deutschland mit ihrer Zentrale in Heilbronn: „Der personelle, zeitliche und finanzielle Aufwand ist beträchtlich“, sagt Intersport-CEO Alexander von Preen. Das könne mit der bestehenden Belegschaft nicht realisiert werden. Hinzu kämen Kosten für Mitarbeiterschulungen, Software oder umfangreiche Lieferantenprüfungen. „Mittelfristig werden sich auch die Endverbraucherpreise erhöhen müssen, da die Kosten der regulatorischen Anforderungen nicht gestemmt werden können“, so von Preen. „Wir sind eindeutig und klar für die Einhaltung von sozialen und ökologischen Werten, doch der Staat bürdet die Aufwände der notwendigen Kontrollen den Unternehmen auf.“

Unternehmen wenden die Vorschriften einfach nicht mehr an

Intersport hat schon vor Jahren begonnen, Nachhaltigkeit im sozialen und ökologischen Bereich in der eigenen Unternehmensstrategie zu verankern. Kleinere Mittelständler wie das pfälzische Chemieunternehmen Gechem sind weniger vorbereitet. Auch sie bekommen die Folgen des Gesetzes zu spüren, obwohl es offiziell wegen der geringeren Mitarbeiterzahl für sie gar nicht gilt. Der Grund: Die Bürokratie wird in der Lieferkette durchgereicht. „Um die eigenen Sorgfaltspflichten einzuhalten, wenden sich die direkt betroffenen Unternehmen an ihre Lieferanten und Geschäftspartner, häufig kleine und mittlere Unternehmen, und verpflichten sie über vertragliche Klauseln zu umfassenden Nachweisen“, sagt Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer. Die Zahl der Betroffenen ist enorm. Laut Tim Geier, Geschäftsführer des Mittelstandsverbunds, werden im deutschen Mittelstand „wohl 70 Prozent aller Unternehmen die Auswirkungen des Lieferkettengesetzes spüren“.

In der Praxis bedeutet das: Kleinere Unternehmen wie Gechem müssen zahlreiche Fragebögen ausfüllen oder Erklärungen abgeben, um weiterhin Geschäfte mit jenen größeren Firmen machen zu können, die unter das Gesetz fallen – und je mehr Auftraggeber ein Mittelständler hat, desto mehr Papiere trudeln bei ihm ein. Teilweise beinhalten diese oft 30 bis 40 Seiten langen Dokumente Fragen zu Sachverhalten, über die Gechem-Chefin Martina Nighswonger gar keine Auskunft geben will. „Zum Beispiel wurden mir Fragen zum Geschlecht und dem Alter meiner Mitarbeiter gestellt“, sagt sie. In einem anderen Dokument sollte sie garantieren, dass ihre Zulieferer die Anforderungen ihrer Auftraggeber einhalten. „Da es hier auch um Haftungsfragen geht, habe ich natürlich angegeben, dass ich das nicht gewährleisten kann. Daraufhin wurde mir vorgeworfen, dass ich mich nicht um meine Lieferanten kümmern würde“, so die Unternehmerin konsterniert. „Das ist doch absurd.“ Allein für die ersten sechs Monate des Jahres beziffert Nighswonger die Kosten, die das Lieferkettengesetz für Gechem mit sich bringt, auf rund 50.000 Euro. 

 

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Für den Mittelstand kommt die Einführung des Lieferkettengesetzes zwischen Corona-Pandemie, Ukrainekrieg und demografisch bedingtem Fachkräftemangel zur Unzeit. Neben den hohen Energiepreisen ist es vor allem die Regulierungswut der Politik, die den Betrieben zu schaffen macht. Viele Unternehmen sind deshalb in den Selbstverteidigungsmodus übergegangen und betreiben „autonomen Bürokratieabbau“, wie es Deutschlands führende Verwaltungswissenschaftlerin Sabine Kuhlmann formuliert. „Sie wenden bestimmte Regelungen einfach nicht mehr an, weil sie schlicht überlastet sind“, sagt Kuhlmann.

Die Wissenschaft hat gewarnt

Das Gesetz richtet aber auch am anderen Ende der Lieferkette erheblichen Schaden an. Das zeigt ein Blick in die Handelsstatistik. So sind die wertmäßigen Warenimporte aus den als problematisch eingestuften asiatischen Staaten Bangladesch und Kambodscha in den ersten sechs Monaten des Jahres, also seit Inkrafttreten des Lieferkettengesetzes, um 13 beziehungsweise 7 Prozent gesunken. Im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre verzeichneten die Warenimporte in der ersten Jahreshälfte aber jeweils ein Wachstum von 16 und 7 Prozent.

„Somit deuten die Handelszahlen bereits jetzt darauf hin, dass seit Jahresbeginn eine Neuaufstellung der Lieferketten global orientierter deutscher Unternehmen stattfindet“, sagt Außenhandelsexpertin Galina Kolev-Schaefer, die die Daten am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln untersucht – und zwar „zu Ungunsten von Ländern mit problematischen Rahmenbedingungen“. In einer IW-Umfrage gab jedes dritte deutsche Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern an, sich aus Problemländern mit schwacher Regierungsführung zurückziehen zu wollen. Die „unerwünschten Nebeneffekte dürften zunehmen“, sollte das europäische Lieferkettengesetz „in der aktuell veröffentlichten Form in Kraft treten“, so Kolev-Schaefer.

Überraschend kommt das nicht; Wirtschaftsforscher hatten es vorausgesagt. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) legte im Mai 2021 im Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestags ein Sachverständigengutachten vor, das ausdrücklich vor den Folgen in den Lieferländern warnte und Alternativen vorschlug, um die erwünschten Effekte zu erzielen. In der Politik stießen die Einwände aus der Wissenschaft aber auf taube Ohren.

Politiker wälzen ihre Verantwortung auf die Wirtschaft ab

Die Kieler Forscher befürchteten nicht nur eine Schwächung deutscher Unternehmen und gleichzeitig eine Stärkung von Firmen aus Ländern wie Russland oder China, die nichts zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Lieferländern unternehmen. Sie prognostizierten auch, dass sich die Arbeitsbedingungen in den Lieferländern massiv verschlechtern würden: „Lieferkettengesetze vertiefen den bereits bestehenden Graben zwischen den formalen und den informellen Arbeitsmärkten, bewirken eine Abdrängung von Arbeitskräften in die informellen und damit ungeschützten Arbeitsmärkte und erschweren es Regierungen in Lieferländern, diesen Graben einzuebnen“, heißt es in dem IfW-Gutachten.

Mit anderen Worten: Das Lieferkettengesetz sorgt nicht dafür, dass Kinder in die Schule statt zur Arbeit gehen, sondern dass Kinder in vollständig unregulierte Branchen wie Bergbau, Hausdienste, Straßenverkauf oder gar in die Prostitution gedrängt werden. Schließlich ist der Grund für Kinderarbeit die bittere Armut vieler Familien, die ohne einen Beitrag ihrer Kinder nicht überleben könnten. Das eigentlich Perfide am Lieferkettengesetz ist, dass es um die Bekämpfung dieser Armut gar nicht geht. Sondern es geht um das Erteilen einer Absolution, um das moralische Reinwaschen.

Das ist nicht das einzig Verstörende. Faktisch stellt das Gesetz eine Verlagerung der Verantwortung aus der Politik in die Wirtschaft dar. Verantwortlich für die Umsetzung von multilateral vereinbarten Menschenrechten sind die Regierungen der Lieferländer, auf die die Bundesregierung über völkerrechtliche Instrumente Einfluss nehmen könnte. Das wäre effektiv, weil dadurch die Haftbarkeit dort entsteht, wo Menschenrechte und Umweltstandards verletzt werden. Zum Beispiel könnte die EU, wie von vielen Wirtschaftsverbänden gefordert, Negativlisten für Länder, Branchen, Regionen oder einzelne Unternehmen aufsetzen. Europäische Firmen dürften keinen Handel mit sanktionierten Unternehmen betreiben. Das wäre zielgenau, rechtssicher und mit einem niedrigen bürokratischen Aufwand für die Firmen der Empfängerländer verbunden. Gleichzeitig könnten auf politischer Ebene echte Lösungen für die betroffenen Länder erarbeitet werden, die in der Verantwortung wären, sich um Menschenrechtsverstöße, Korruption oder Umweltprobleme zu kümmern.

Verbraucher müssen die steigenden Bürokratiekosten tragen

Stattdessen entbindet das Lieferkettengesetz die Regierungen der Lieferländer – und damit auch die deutsche Politik – von ihrer Verantwortung und wälzt diese auf die Unternehmen in den Empfängerländern ab. Am Ende auch auf die Verbraucher, die die steigenden Bürokratiekosten der Unternehmen in Form von höheren Preisen mittragen müssen.

All das zeigt, was das Lieferkettengesetz eigentlich ist: ein gut gemeintes, aber selbstgerechtes Blendwerk, das vom Schein der guten Tat lebt, in Wahrheit aber Verantwortung verlagert – und dabei genau dem Ziel schadet, das es eigentlich erreichen will. Das Erstaunliche ist, dass dieser Modus Operandi der deutschen Politik – moralisch überhöhtes Wunschdenken mit schädlicher Wirkung – schon lange als Scharlatanerie hätte entlarvt sein müssen, weil er sich ständig wiederholt: wie in der Genderdebatte, die Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache sucht und so von der Verantwortung entbindet, echte Probleme zu lösen. Oder wie in der Energiepolitik, die den Bürgern das Märchen des sauberen Deutschlands erzählt, während die Bundesrepublik zu den größten CO2-Emittenten in Europa wird, weil ohne Kernkraft vor allem die Kohle als Rückgrat für Wind und Sonne bleibt.

Eine Mischung aus Resignation und Wut

Im deutschen Mittelstand ist man sich dieser ideologisierend-planlosen Wohlfühlpolitik bewusst – und kaum noch jemand ist bereit, ihre Lasten weiter zu tragen. „Ich setze mich immer für Gerechtigkeit ein und ich würde nie mit Unternehmen zusammenarbeiten, die Kinder für sich arbeiten lassen. Aber wie soll ich das denn alles kontrollieren?“, fragt Gechem-Chefin Martina Nighswonger ratlos. Neben der ausufernden Bürokratie ist es vor allem diese Ratlosigkeit, die den deutschen Mittelstand zermürbt: die Mischung aus Überforderung und dem Gefühl, dass all das, was überfordert, überhaupt keinen Sinn ergibt. Das Lieferkettengesetz ist dabei nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. 

„Manchmal frage ich mich, ob ich meinem Sohn diesen ganzen Ärger antun will oder ob ich nicht lieber frühzeitig verkaufe“, so die ehemalige Bankerin. Dieses Gefühl verfolge nicht nur sie, sondern auch viele befreundete Familienunternehmer. Unter diesen sei die Stimmung in den vergangenen Jahren gekippt. „Ich bin diese Gängelei leid“, sagt Nighswonger, und es mischt sich etwas Kraftvolles in die zuvor müde und resignierend klingende Stimme. Es ist Wut. „Wir Mittelständler sollten busweise nach Berlin und Brüssel fahren und den Verantwortlichen das ganze Zeug einfach vor die Füße knallen.“

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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