Fachkräfte und Asylbewerber aus der Türkei - „Für Deutschland ist ihr Zuzug ein Gewinn, für die Türkei ein großer Verlust“

Zehntausende Türken verlassen ihre Heimat Richtung Deutschland. Darunter Studenten und Fachkräfte ebenso wie Asylbewerber. Im Interview erklärt Yunus Ulusoy von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, was diese Menschen weg- und antreibt.

Blick auf die Hagia Sophia Moschee vom Bosporus, Istanbul / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Yunus Ulusoy ist Leiter des Programmbereichs „Migration und Integration im deutsch-türkischen Grenzraum“ bei der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. 

Im Jahr 2023 stellten bisher rund 45.000 Türken einen Asylantrag in Deutschland. Damit bilden sie laut Bundesamt für Migration nach Antragstellern aus Syrien die zugangsstärkste Bevölkerungsgruppe. Neben der chronischen Wirtschaftskrise und sozialen Spannungen sind es zunehmend politische Repressalien, die türkische Staatsangehörige dazu bewegen, nach Deutschland auszuwandern. 

Mehr als in anderen europäischen Staaten können sie in Deutschland auf professionelle deutsch-türkische Netzwerke zurückgreifen und haben hier meist Verwandte, die schon vor vielen Jahren nach Deutschland ausgewandert sind. Was die Auswanderung der Türken für das Land bedeutet und warum Deutschland langfristig von der Zuwanderung türkischer Fachkräfte profitieren wird, erklärt Yunus Ulusoy im Gespräch. 

Herr Ulusoy, 45.086 Menschen aus der Türkei haben von Januar bis Oktober 2023 in Deutschland Asyl beantragt. Immer mehr Türken kommen mit einem Visum für ein Studium oder eine Erwerbstätigkeit nach Deutschland. Welche Türken entscheiden sich aktuell für ein Leben außerhalb ihrer Heimat?

Werfen wir einen Blick auf die vom Bundesamt für Migration ermittelten Zahlen für 2022: Wenn wir uns die vom Auswärtigen Amt erteilten Visa für längere Aufenthalte in Deutschland anschauen, sehen wir, dass 2022 insgesamt rund 40.000 Türken ein Visum ausgestellt bekommen haben. Davon wollten 12.542 eine Erwerbstätigkeit in Deutschland aufnehmen; vor allem Wissenschaftler und andere hochqualifizierte Fachkräfte. 7.146 bekamen ein Visum, um hier studieren zu können, 14.193 Türken erhielten ein Visum zwecks Familienzusammenführung. Die meisten Visa wurden für den Ehegattennachzug erteilt, insgesamt 8.778, außerdem 4060 für den Kindernachzug. Diese Zahlen geben einen guten Überblick darüber, wer sich im Jahr 2022 mit einem Visum dauerhaft in Deutschland niedergelassen hat.

Es fällt auf, dass mehr Menschen dauerhaft aus der Türkei ausreisen als aus Afghanistan.

Ja, es sind die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die die Menschen zur Auswanderung bewegen. Seit 2017 gehört die Türkei zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern von Asylsuchenden. Im Jahr 2013, also vor knapp zehn Jahren, gab es nur 1.521 Asylanträge aus der Türkei. Bis 2017 war die Zahl vierstellig, 2018 und 2019 fünfstellig, aber erst seit 2022 sehen wir einen noch massiveren Anstieg der Asylanträge von türkischen Staatsbürgern. Im Vergleich zu 2022 hat sich die Zahl der Asylanträge aus der Türkei im Jahr 2023 innerhalb von zehn Monaten fast verdoppelt.

2017, kurz nach dem Militärputsch, waren es vor allem Gülenisten, die das Land verließen. Wie hat sich im Laufe der Jahre die Zusammensetzung der Flüchtlinge aus der Türkei verändert?

Die Erteilung eines Visums bedeutet nicht, dass man die Türkei für immer verlässt. Die Zuwanderung nach Deutschland gilt in erster Linie als Auslandsreise, wenn es sich beispielsweise um Familienzusammenführung oder Erwerbstätigkeit handelt. Bei Asylbewerbern wissen wir oft nicht, auf welchem Weg sie nach Deutschland gekommen sind. Bei der Frage nach den Gründen der Auswanderung spielen natürlich auch wirtschaftliche und politische Entwicklungen eine Rolle. 

Im Jahr 2022 standen laut dem Bundesamt für Migration 25.054 Entscheidungen zu Asylanträgen von Türken an, davon waren 23.938 Erstanträge und 1116 Folgeanträge. Davon wurden 11.073 entschieden, 296 wurden als Asylberechtigte anerkannt, 2.670 als Flüchtlinge, 84 erhielten subsidiären Schutz, 5.671 Anträge wurden abgelehnt. Damit wurden also mehr als 50 Prozent der gestellten Anträge abgelehnt. 

Bei 2.324 Anträgen handelt es sich um sonstige Verfahrenserledigungen, das heißt, die Antragsteller haben ihren Antrag zurückgezogen, sind weitergereist oder haben geheiratet. Betrachtet man diese Zahlen, so zeigt sich, dass die Ablehnungsquote recht hoch ist. Die meisten Asylanträge aus der Türkei dürften neben der als bedrückend empfundenen politisch-atmosphärischen Stimmung im Land auch von wirtschaftlichen Erwägungen geleitet sein.

 

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Also können wir die Antragsteller aus der Türkei mehrheitlich als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen?

In der Türkei herrscht eine Atmosphäre, in der Menschen, die nicht der AKP nahestehen, keine Zukunft für sich und ihre Kinder sehen. Darunter sind auch wirtschaftlich gut situierte Menschen. Wenn wir uns die Visastatistik aus der Türkei anschauen, sehen wir, dass jeder vierte Türke nach Deutschland kommt, um hier zu arbeiten. Das sind Menschen, die entsprechend qualifiziert sind. Und sie verlassen die Türkei aufgrund dieser politischen Atmosphäre, die sie als erdrückend und nicht freiheitlich genug empfinden. 2006 bis 2014 hatten wir eine ganz andere Situation.

Sie meinen die Einwanderung hoch qualifizierter Deutsch-Türken in die Türkei?

Genau. Zum ersten Mal in der deutsch-türkischen Migrationsgeschichte wurde die Türkei nach Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen bis 2014 zu einem Nettozuwanderungsland aus Deutschland. Gut qualifizierte Deutsche mit türkischen Wurzeln verließen Deutschland und kehrten in das Land ihrer Vorfahren zurück. Es herrschte eine große Aufbruchstimmung, es gab einen Demokratisierungsprozess und einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Junge Deutsch-Türken hatten das Gefühl, ihre Lebensentwürfe dort besser realisieren zu können, ein Leben ohne Diskriminierung und Ausgrenzung führen zu können. Heute haben sich diese Verhältnisse umgekehrt. Vor allem Türken mit hohen Qualifikationen und einem entsprechend guten Standing in der Türkei verlassen das Land und wollen nach Deutschland.

Dadurch verliert die Türkei ihre Intellektuellen, Mediziner …

Daran sieht man, dass es nicht nur um wirtschaftliche Aspekte geht. Ärzte und Ingenieure gehören auch in der Türkei zu den Spitzenverdienern. Auch Unternehmer, die das Land verlassen, gehören zu den Bessergestellten des Landes. Aber die Tatsache, dass viele von ihnen das Gefühl haben, sie müssten ein entsprechendes Parteibuch vorweisen, um eine Stelle im öffentlichen Dienst des Landes zu bekommen oder um von diesen Aufträgen zu erhalten, erklärt, warum sie dort keine Zukunft für sich sehen. Dass sie ihre Meinung nicht frei äußern können, dass sie Angst haben, denunziert zu werden, wenn sie etwas Kritisches über die Regierung sagen oder in sozialen Medien teilen, empfinden die Menschen als erdrückend. Die Menschen fragen sich: Welche Zukunft haben meine Kinder noch in diesem Land? 

Wir dürfen auch die Digitalisierung nicht unterschätzen. Anders als unsere Großväter, die Generation der Gastarbeiter, wissen diese Menschen, wie die Welt außerhalb der Türkei aussieht. Für den hochqualifizierten Willi oder Mehmet ist der zukünftige Arbeitsplatz nicht unbedingt das Geburtsland, auch Deutsche wandern ins Ausland aus, um sich weiterzuentwickeln; Karriere zu machen. 

Bei türkischen Fachkräften kommen zu den individuellen Motiven wie dem Karrierewunsch noch die bedrückenden politisch-sozialen Verhältnisse hinzu. Hinzu kommt, dass in Deutschland drei Millionen türkischstämmige Menschen leben, von denen nicht wenige hier Verwandte haben. Wenn jemand aus der Türkei auswandert, wandert er nicht in ein völlig fremdes Land aus. Sie können hier auf ein soziales Gefüge zurückgreifen, wenn sie nach Deutschland kommen. Deutschland ist also für Türken aus der Türkei kein fremdes Land.

Welche langfristigen Auswirkungen hat der Verlust der Akademiker auf die türkische Gesellschaft und die Wirtschaft?

Für Deutschland ist ihr Zuzug ein Gewinn, weil wir hier Fachkräfte brauchen. Für die Türkei ist es ein großer Verlust. Wie groß dieser Verlust sein wird, hängt davon ab, ob diese Menschen für immer verloren sind oder ob sie nach einer Änderung der politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse in die Türkei zurückkehren.

Die mehrheitlich gut Qualifizierten, die das Land verlassen, bilden neben den als konservativ geltenden Deutsch-Türken eine neue Welle türkischer Migranten. Sie haben starke Netzwerke, sind westlich und urban und haben nur wenige Berührungspunkte mit den schon viele Jahre hier lebenden Türken. Bildet sich hier also eine starke Opposition gegenüber der türkischen Regierung – ähnlich wie bei iranischen Exilanten?

Kategorisch nein. Bei 3 Millionen Menschen sind 45.000 Asylsuchende eine kleine Gruppe, zumal ihre Anerkennungschancen nicht sehr hoch sind. Außerdem wissen wir nicht, ob von den 40.000 Visa, die für den Familiennachzug erteilt wurden, wirklich alle Regierungskritiker sind. Wenn Sie sich zudem die letzten Wahlen anschauen, sehen wir, dass Erdogan bei den deutsch-türkischen Wählern gegenüber der Präsidentschaftswahl 2018 zugelegt hat. 

Ich erwarte daher keine Veränderung der politischen Einstellung der türkischen Community in Deutschland. Sie wird weiterhin mehrheitlich religiös-konservativ geprägt sein und starke transnationale, auch politische Verbindungen in die Türkei aufweisen. Zudem treffen die aus der Türkei eingewanderten Fachkräfte hier nicht nur auf eine Bevölkerungsstruktur, die wie in den 70er Jahren aus Arbeitern besteht. 

Inzwischen gibt es auch zahlreiche Deutsch-Türkinnen und -Türken, die über hohe Bildungs- und Berufsqualifikationen verfügen, wirtschaftlich erfolgreich sind und sich in mehreren Kulturen bewegen können. Sie sind transnational verortet, das heißt, die türkische Fachkraft aus der Türkei kann sich aussuchen, mit welcher der vielen verschiedenen deutsch-türkischen Gruppen sie in Kontakt treten möchte. Die türkische Community in Deutschland ist nicht homogen.

Aktuell hat sich die größte Oppositionspartei CHP personell neu aufgestellt. Glauben Sie, dass der Wechsel an der Spitze der Partei die Opposition stärken wird und dem Brain-Drain aus der Türkei entgegenwirken kann?

Ich glaube nicht, dass der Wechsel an der Spitze die Motivationslage der türkischen Auswanderer ändern wird, wir sollten die Kommunalwahlen 2025 abwarten. Dann wird sich zeigen, ob sich die türkische Opposition zusammenrauft und eine einheitliche Front bildet. So tief gespalten, wie sie im Moment zu sein scheint, rechne ich nicht mit einer gravierenden Änderung der politischen Verhältnisse.

Könnte es im Falle einer Regierungsbeteiligung der AfD, deren Umfragewerte inbesondere im Osten des Lande sehr gut sind, zu einer Rückwanderung der eingewanderten Türken kommen?

Das hängt von den Push- und Pull-Faktoren ab. Wenn die Türkei in vier bis fünf Jahren politisch anders aufgestellt ist, es also Veränderungen gibt, dann ja. Erdogan dürfte ja nach der Verfassungslage nicht mehr kandidieren. Die wirtschaftlichen Probleme der Türkei sind zwar hausgemacht, aber nicht einzigartig. Viele Länder auf der Welt haben derzeit wirtschaftliche Probleme. Sollten sich die Verhältnisse in der Türkei ändern, sollten sich die Türken hier nicht willkommen fühlen, wäre eine Rückwanderung natürlich möglich. 

In den 90er Jahren hätte ich ein solches politisches Szenario für Deutschland nicht für möglich gehalten, heute schaue ich auf das Politbarometer und kann das nicht mehr sagen. Mehr als jeder Fünfte könnte die AfD wählen, trotz der Geschichte Deutschlands, trotz der Tatsache, dass dieses Land ohne Migration nicht funktionieren würde. Wir sehen doch jetzt schon, dass wir ohne Zuwanderung von Fachkräften unseren Wohlstand nicht halten können. Ein solches Szenario hätte also nicht nur fatale Folgen für die türkischstämmigen Menschen, sondern vor allem für unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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