Prozessbeginn im Wirecard-Skandal - „Ein solches politisches Netzwerk entsteht nicht durch Zufall“

Vor dem Landgericht München I hat der Wirecard-Prozess begonnen. Im Interview erklärt Fabio De Masi die geheimdienstlichen Verstrickungen in dem Fall und nennt Details, die zeigen, wie weitreichend der Skandal ist.

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Jahrelang war der Zahlungsdienstleister Wirecard das deutsche Vorzeigeunternehmen und der Liebling der Regierung. Dabei hatte das Unternehmen in großem Stil Bilanzen gefälscht. Obwohl es seit Jahren Hinweise darauf gab, ließen die Wirtschaftsprüfer Wirecard gewähren. Vor einigen Wochen enthüllte die Bild-Zeitung, dass Jan Marsalek, die rechte Hand von Wirecard-Gründer Markus Braun, nach Moskau geflohen sein soll – und der deutsche BND schon seit Monaten davon wusste.

Der Finanzexperte Fabio De Masi saß von 2017 bis 2021 für Die Linke im Bundestag. In dieser Zeit machte er sich mit seiner energischen Aufklärung zweier Finanzskandale einen Namen: Im Finanzausschuss des Bundestags setzte er sich mit den Cum-Ex-Betrügereien auseinander, als Obmann des Wirecard-Ausschusses ging er dem Versagen deutscher Behörden nach. Im vergangenen Jahr verkündete er in einem offenen Brief seinen Rückzug aus der Politik, in dem er seiner Partei elitäre Abgehobenheit vorwirft. Dieses Gespräch ist erstmals im Mai 2022 erschienen. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir es erneut. 

Herr De Masi, der des Millionenbetrugs verdächtigte Ex-Vorstand von Wirecard, Jan Marsalek, soll ein ausgeprägtes Faible für Agententhriller haben. Mit Wirecard konnte er seine Phantasien offenbar ausleben. Wie hat er es geschafft, das Interesse der Geheimdienste zu wecken?

Wirecard ist in der Frühphase des Internets mit Zahlungsabwicklung für Online-Glücksspiel und Pornographie groß geworden. Damals gab es noch nicht das große Geschäft mit Online-Einkaufen wie heute mit Amazon. Die Datenübermittlung war langsam, es dauerte lange, bis sich eine Website aufbaute. Aber bei der Zahlungsabwicklung im Online-Glücksspiel und in der Pornographie konnte man mit der Sucht von Menschen Geld verdienen. Etwa durch sogenannte Dialer, die sich im Hintergrund bei Porno-Nutzern installierten und dann zu hohen Telefongebühren beim Surfen im Internet führten. Online-Glücksspiel dient der Geldwäsche der organisierten Kriminalität und von Terroristen, weil sich Umsätze leicht manipulieren lassen. Das hat Wirecard für die Nachrichtendienste interessant gemacht. Außerdem war Wirecard ideal, um selbst Zahlungen etwa für Aktivitäten der Geheimdienste im Ausland zu tarnen. Marsalek hat das nach meiner Überzeugung genutzt, um mit vielen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten.

Woraus schließen Sie das?

Wo soll ich anfangen? Im Umfeld von Wirecard und Marsalek tauchen zwei ehemalige deutsche Geheimdienstkoordinatoren auf. Klaus-Dieter Fritsche (CSU) und Bernd Schmidbauer (CDU). Sein Fluchthelfer war ein ranghoher ehemaliger Agent des österreichischen Verfassungsschutzes, Martin Weiss. Ein weiterer Ex-Verfassungsschützer aus Österreich und mutmaßlicher russischer Spion, Egisto O., soll für ihn Polizeidatenbanken abgerufen haben. Beide standen im Mittelpunkt der sogenannten BVT-Affäre in Österreich um die Unterwanderung des österreichischen Verfassungsschutzes durch russische Dienste. Marsalek hat einmal einen gesamten Kundendatensatz von Wirecard verlangt – nach seiner Darstellung für den BND.

Sie sagen, er habe mit vielen Geheimdiensten zusammengearbeitet – mit welchen noch außer den deutschen und österreichischen?

In den USA drohte Marsalek Strafverfolgung wegen der Zahlungsabwicklung für Online-Glücksspiel, die dort streng sanktioniert ist. Er war 2015 in einem Rechtshilfeersuchen der USA an die Staatsanwaltschaft München benannt. Marsalek stand 2016 aufgrund dieser Probleme mit dem früheren CIA-Agenten und späteren republikanischen Politiker Gary Berntsen in Kontakt, der helfen sollte, dies aus der Welt zu schaffen. Die Ermittlungen in München wurden später eingestellt. Auch der ehemalige libysche Geheimdienstchef  El-Obeidi arbeitete für Marsalek.

Im ganzen Land hängen Fahndungsplakate
mit Jan Marsaleks Gesicht. „Das müssen BND
und Kanzleramt wohl übersehen haben“,
sagt Fabio De Masi sarkastisch. / dpa

Warum Libyen?

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In Libyen herrschte nach den Bombardements durch Frankreich und Großbritannien Chaos. Österreich war mit seinem Mineralölkonzern OMV abhängig vom libyschen Öl. Und Libyen war nach der Verriegelung der Balkan-Route der wichtigste Fluchtweg für Flüchtlinge über das Mittelmeer. Gleichzeitig hatten islamistische Kräfte in den Kriegswirren Auftrieb. Marsalek veranstalte auch eigene sicherheitspolitische Dialoge mit einem Kommunalpolitiker der CSU München. Dort ging es mal um die Ukraine und einmal auch um Libyen. Es kamen Nicolas Sarkozy, Edmund Stoiber und ranghohe Militärs wie der ehemalige militärpolitische Berater der Bundeskanzlerin, Erich Vad. Marsalek hat mit Unterstützung eines Militärs und eines ranghohen Beamten des österreichischen Innenministeriums versucht, in Libyen mit russischen Söldnern eine Miliz zur Flüchtlingsabwehr aufzubauen.

Stichwort Flüchtlinge, Wirecard wollte für das Bundesland Bayern und Österreich auch eine Refugee Card einführen. Was hat es damit auf sich?

Der ehemalige Vizekanzler der ÖVP, Michael Spindelegger, lobbyierte für die Refugee Card, und der CDU Politiker Udo Schulze-Brockhausen unterrichtete Marsalek über die Fortschritte in Bayern. Schulze-Brockhausen war auch mit dem ukrainischen Oligarchen Firtasch verbunden, für den Marsalek eine Konto bei der Wirecard-Bank organisierte, nachdem andere Banken ihn nicht mehr wollten, da die USA seine Auslieferung aus Österreich begehrten. Flüchtlinge sollten mit der Refugee Card über Geldleistungen nur noch digital verfügen. Diese Daten wären natürlich auch spannend für Geheimdienste gewesen.

Das klingt alles wie aus einem schlechten Agentenfilm.

Es wird noch besser. Jan Marsalek wedelte im Jahr 2018 mit klassifizierten Dokumenten der internationalen Chemiewaffenorganisation zum Attentat auf den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal und mit der Formel für den Nervenkampfstoff Nowitschok vor britischen Finanzinvestoren herum.

Den Hintergrund müssen Sie kurz erklären.

Nowitschok ist ein Nervenkampfstoff, der in der Zeit des Kalten Krieges in Laboren der Sowjetunion entwickelt wurde und der bei dem Skripal-Attentat zum Einsatz gekommen sein soll – das war ein großes Thema in Großbritannien. Mutmaßlich sollen Offiziere des russischen Militärgeheimdienstes GRU die Substanz auf den Türgriff von Skripals Haus aufgetragen haben. Als das alles noch streng geheim war, hat Marsalek mit den klassifizierten Dokumenten, die einerseits die Nowitschok-Formel enthielten, aber auch die russische Stellungnahme zum Skripal-Anschlag, vor britischen Händlern herumgewedelt.

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Wie ist er daran gekommen?

Ein ranghoher Diplomat aus dem österreichischen Außenministerium, Johannes Peterlik, soll die Unterlagen in seiner Funktion als Generalsekretär im Außenministerium angefordert und dann dem mutmaßlichen russischen Spion Egisto O. übergeben haben. Dass Marsalek so offen damit geprahlt hat und die Financial Times laut ihrem Bericht die Dokumente schon 2018 sehen konnte, lässt nur den Schluss zu, dass er sogar wollte, dass das öffentlich wird. Wenn Marsalek damit herumwedelt, können die Russen sagen: „Seht mal. Nur, weil es ein russisches Gift ist, heißt das nicht, dass wir das waren – die Formel hat ja eh jeder!“ Ich glaube, Marsalek wollte eine Botschaft an die westlichen Geheimdienste senden: „Wenn ihr mich auf diesem kriminellen Pulverfass Wirecard nicht schützt, dann arbeite ich eben mit Russland!“ Die Financial Times hat ihm den Gefallen aber nicht getan und erst im Juli 2020, als Marsalek nach der Wirecard-Insolvenz bereits auf der Flucht war, darüber berichtet.

Was wussten die deutschen Sicherheitsbehörden?

Im selben Monat, als Marsalek mit den Dokumenten prahlte und noch nichts öffentlich bekannt war, suchte der pensionierte Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer Marsalek wegen Nowitschok auf. Gegen Marsaleks Geschäftspartner, den Verfassungsschützer Egisto O., ermittelte auch das deutsche Bundeskriminalamt wegen Russland-Spionage auf deutschem Hoheitsgebiet. Aber die deutschen Dienste wollen angeblich nichts mitbekommen haben, und Schmidbauer soll bei Marsalek nur als Rentner und Privatperson gewesen sein. Wer soll das glauben?

Könnte Schmidbauer nicht einfach mit korrupten Beamten aus Österreich unter einer Decke stecken? Ohne Kenntnis deutscher Behörden?  

Schmidbauer hat sowohl in der Affäre um den österreichischen Verfassungsschutz, den BVT-Skandal, als auch in der Nowitschok-Affäre um Marsalek immer wieder betont, er habe sich mit einem Netzwerk von Ehemaligen aus den Sicherheitsbehörden ausgetauscht. Das macht auch Sinn: Schmidbauer ist als Privatperson nicht verpflichtet, Sicherheitsbehörden über die Aktivitäten von Marsalek zu informieren, und die Geheimdienste können dann so tun, als hätten sie keine offiziellen Kenntnisse gehabt. Hätte Schmidbauer jedoch nur auf eigene Rechnung gehandelt, hätte die Bundesregierung – etwa im Zuge des BVT-Skandals in Österreich unter FPÖ-Innenminister Herbert Kickl – doch sagen müssen: „Das ist ein älterer verwirrter Herr, der gerne mal vom Hauptbahnhof Wien abgeholt werden will!“

Was sie nicht getan hat.

Nein. Schmidbauer gab Interviews und traf Minister der österreichischen Regierung. Er berichtete der Presse aus internen Sitzungen des Berner Clubs der westlichen Inlandsgeheimdienste in Helsinki, die das BVT rausschmeißen wollten, und spielte das runter. Dabei berief er sich wörtlich auf seine „Freunde“ in den deutschen Sicherheitsbehörden. Schmidbauer war offenbar mit Billigung eines Teils der Geheimdienste unterwegs. Bis Herbst 2018 war ja auch noch Hans-Georg Maaßen Präsident des Verfassungsschutzes. Im Februar 2019 schickte die Bundesregierung sogar Ex-Geheimdienstkoordinator Fritsche zur Unterstützung von Kickl bei der Reform des BVT nach Österreich. Fritsche arbeitete auch für Wirecard. Das Kanzleramt gab für alles seine Zustimmung.

Warum leugnen die deutschen Geheimdienste alles?

Sie wollen nicht einräumen, mit Marsalek zusammengearbeitet zu haben, weil er ein russischer Spion war, der jetzt nach Russland abgehauen ist. Dann würde sich auch die Frage stellen, warum man Marsalek ausreisen ließ und warum man Olaf Scholz und Angela Merkel für Wirecard in China lobbyieren ließ. Und dann gab es auch noch das dubiose Leerverkaufsverbot für Wirecard.

Anfang 2019, als die Berichte über gefälschte Bilanzen bei Wirecard bereits zu eskalieren begannen, hat die Finanzaufsicht BaFin ein zweimonatiges Leerverkaufsverbot verhängt – also ein behördliche Verbot, auf fallende Kurse des Unternehmens zu spekulieren, obwohl die Bundesbank strikt dagegen war. Ein höchst ungewöhnlicher Vorgang, der als Rettungsschirm der Regierung gedeutet wurde, zumal das Leerverkaufsverbot im Finanzministerium beim damaligen Staatssekretär Jörg Kukies und beim damaligen Finanzminister Olaf Scholz auf dem Tisch gelandet ist. Inwiefern könnte auch in dieser Geschichte ein Geheimdienstzusammenhang bestehen?

Darüber kann ich nur spekulieren. Es gibt Auffälligkeiten, zum Beispiel, dass Marsalek bei der Staatsanwaltschaft auch persönlich eine Aussage gemacht hat, die zum Leerverkaufsverbot geführt hat.

Wie das?

Marsalek behauptete bei der Staatsanwaltschaft, die Nachrichtenagentur Bloomberg erpresse Wirecard auf sechs Millionen Euro, ansonsten würde man mit der Financial Times in die kritische Berichterstattung gehen. Der Kronzeuge für diese Geschichte war ein britischer Drogenhändler, der später tot aufgefunden wurde. Die BaFin hat auf Grundlage dieser wilden Verschwörungstheorie das einzige Leerverkaufsverbot für ein einzelnes Unternehmen in der Geschichte der Bundesrepublik erlassen.

Olaf Scholz’ Wirtschaftsberater Jörg Kukies
setzte sich energisch für Wirecard ein,
obwohl die Betrügereien schon offensichtlich waren. / dpa

Welche Rolle spielt die Bundesregierung in der ganzen Geschichte?

Nach dem Nowitschok-Leak, von dem ich überzeugt bin, dass die deutschen Sicherheitsbehörden davon wussten, hat der damalige Finanzminister Olaf Scholz im Februar 2019 im Rahmen des deutsch-chinesischen Finanzdialogs persönlich verhandelt, dass der chinesische Markt für Wirecard geöffnet wird. Wirecard sollte das erste ausländische Unternehmen sein, das eine Lizenz für den kompletten chinesischen Finanzmarkt bekommt. Das gab es noch nie. Das war der große diplomatische Erfolg. Die ehemalige Kanzlerin hat im Herbst 2019 auch nochmal persönlich beim mächtigsten Mann Chinas für die Fusion von Wirecard mit einem chinesischen Glücksspielanbieter geworben, der später wegen Geldwäsche hochgenommen wurde.

Zusammengefasst heißt das, die Sicherheitsbehörden müssen gewusst haben, dass Wirecard kriminell ist, und trotzdem haben sie die Bundesregierung in China lobbyieren lassen. Und davor wurde ein Leerverkaufsverbot auf Grundlage einer kruden Verschwörungsgeschichte verhängt. Warum diese Rettungsversuche eines offensichtlich hochstapelnden Unternehmens?

Vielleicht hatte man gehofft, dass die ganzen Löcher in den Bilanzen gestopft werden, wenn Wirecard auf den chinesischen Markt kommt. Eine Wette auf die Zukunft also, bei Start-ups gibt es dieses Motto: „Fake it until you make it“. China ist der Markt der Zukunft, und dort hat die Regierung für Wirecard in einer Art und Weise lobbyiert, wie sie es nicht einmal für die Deutsche Bank tut. Der Leihbeamte des Finanzministeriums an der deutschen Botschaft in Peking, der den deutsch-chinesischen Dialog betreut hat, hat selbst Wirecard-Aktien gekauft. Auch dann noch, als die Berichte über gefälschte Bilanzen immer lauter wurden. Er war sich zu 100 Prozent sicher, dass dieses Unternehmen eine Art Staatsgarantie hatte. Warum wohl?

Dafür spricht auch, dass am 25. Juni 2020, zwei Tage vor der Wirecard-Insolvenz, das Bundesfinanzministerium in Gestalt von Staatssekretär Jörg Kukies versucht hat, die staatseigene Ipex-Bank, eine KfW-Tochter, am Telefon zur Verlängerung und Aufstockung ihres Kredits an Wirecard zu drängen. Einen Tag nach der Mitteilung des Unternehmens, dass die berühmten 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten wahrscheinlich gar nicht existieren. Bisher wurden das Weggucken und die Rettungsversuche vor allem mit einem überbordenden Wirtschaftspatriotismus begründet. Nach dem Motto: Endlich gibt es eine Art deutsches Silicon-Valley-Unternehmen.

Das ist sicherlich ein Aspekt, aber Wirecard war auch ein Asset unserer Nachrichtendienste. Ich bin der festen Überzeugung, dass Wirecard auch ein Geheimdienstskandal ist.

Im Wirecard-Ausschuss sagten Sie letztes Jahr im Rahmen des Abschlussberichts: „Diese Milliardenlüge, diese Illusionsfabrik Wirecard war auch nur denkbar, weil sie sich ein politisches Netzwerk organisiert haben.“ Wer gehört noch zu diesem Netzwerk?

Wissen Sie, dass die Zahlungsabwicklung für Online-Glücksspiel außerhalb Schleswig-Holsteins lange Zeit illegal war in Deutschland?

Sie sagen also, dass Wirecard der Grund dafür ist, dass es jetzt nicht mehr so ist?

Auf Druck vom schwarz-grün regierten Hessen, von Schleswig-Holstein, wo eine Jamaika-Koalition regiert, und von Bayern wurde bundesweit eine große Liberalisierung durchgedrückt. Ein Staatsvertrag. Und jetzt raten Sie mal, wer der zentrale Abwickler für das komplette Online-Glücksspiel in Deutschland werden sollte.

Wirecard?

Genau. Solche politischen Verstrickungen haben ein Muster. Hans-Georg Maaßen, der ehemalige Verfassungsschutzpräsident, war Berater bei System 360, einer Firma von Ex-BND-Chef August Hanning. Diese wiederum machte Geschäfte mit Tipico – einem Wettspielunternehmen, dessen Franchisenehmer immer wieder in Presseberichten über Geldwäsche auftauchen. Hanning wiederum war gemeinsam mit dem Ex-Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen Aufsichtsrat der lettischen PNB Banka, die später in die Insolvenz schlitterte und die der systematischen Geldwäsche für kriminelle Netzwerke in Russland bezichtigt wurde. Es ist kein Zufall, dass ein ehemaliger bayerischer Polizeipräsident für Wirecard gearbeitet und sich für die Liberalisierung des Online-Glücksspiels stark gemacht hat, obwohl Sicherheitsbehörden immer strikt dagegen waren.

Sie meinen Waldemar Kindler.

Ja. Ein solches politisches Netzwerk entsteht nicht durch Zufall.

Sie haben im Vorgespräch gesagt, die interessante Frage sei nicht, warum Jan Marsalek jetzt in Russland ist, sondern warum er überhaupt so leicht fliehen konnte. Können Sie das ausführen?

Marsalek konnte im Sommer 2020 in Begleitung eines österreichischen Ex-Agenten und eines FPÖ-Abgeordneten ausreisen und noch fast eine Woche unbehelligt sein Geld auf den Philippinen suchen – und zwar kurz nachdem die BaFin und die Staatsanwaltschaft wussten, dass 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz fehlen. Die Frage ist daher nicht, ob wir Marsalek jetzt, da er in Russland ist, jemals wieder bekommen, sondern die eigentliche Frage ist: Warum haben ihn deutsche Sicherheitsbehörden herausspazieren lassen, obwohl sie wussten, dass er mit den Russen zusammenarbeitet? Deutschland hat sich damit zur Handpuppe Putins gemacht.

Wenn er in Russland ist, kann er jederzeit auspacken. Die Sicherheitsbehörden müssen doch bedacht haben, dass sie sich so von Putin erpressbar machen.

Die Sicherheitsbehörden wollten nicht, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass sie ein kriminelles Unternehmen gedeckt und sich dabei von einem russischen Spion haben an der Nase herumführen lassen, der in aller Öffentlichkeit mit der Nowitschok-Formel prahlte. Bisher ist nur öffentlich bekannt, dass der BND nicht auf das Angebot Russlands reagiert hat, Marsalek in Russland zu sprechen – angeblich, weil es eine Falle sein und das Treffen hätte fotografiert werden können, um den BND zu diskreditieren. Derzeit häufen sich aber Informationen, wonach die Verhandlungen bereits weiter fortgeschritten waren, als bisher öffentlich eingeräumt wurde. Die russische Seite soll dabei auch schon konkrete Forderungen für die Auslieferung von Marsalek gestellt haben.

Das wäre eine völlig neue Dimension.

In der Tat. Insofern muss die Bundesregierung dies umfassend aufklären. Bisher versteckt sie sich aber in Antworten auf Nachfragen von Abgeordneten, an denen ich mitgewirkt habe, hinter den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Das ist grotesk. Denn weder Kanzleramt noch BND haben die Staatsanwaltschaft ja über ihre Erkenntnisse informiert.

Wo wäre eigentlich das Problem, wenn das Gespräch mit Marsalek fotografiert worden wäre?

Es gäbe kein Problem. Diese Ausrede ist Unsinn und eine intellektuelle Beleidigung. Es ist ja gerade die Aufgabe von Geheimdiensten, Marsalek aufzuspüren. Die Heimlichtuerei sät doch noch mehr Zweifel. Deswegen mache ich der Bundesregierung und Herrn Marsalek an dieser Stelle via Cicero-Interview ein offizielles Angebot: Wenn die russische Seite bereit ist und offiziell bestätigt, dass sie Jan Marsalek hat, dann treffe ich ihn gerne. Ich habe auch kein Problem damit, wenn das Gespräch aufgenommen wird – er kann ruhig seine ganze Geschichte erzählen. Deutschland hat kein Auslieferungsabkommen mit Russland, deswegen wäre es für Marsalek völlig unproblematisch, wenn er seine Erkenntnisse mitteilt.

Wirecard-Chef Markus Braun. Jan Marsalek war
seine rechte Hand. / dpa

Aber für die Bundesregierung könnte es problematisch sein. Warum sollte sie auf Ihr Angebot eingehen?

Die Bundesregierung hat daran sicher kein Interesse. Aber vielleicht Jan Marsalek? Und schließlich hängen im ganzen Land Fahndungsplakate mit Jan Marsalek und der Telefonnummer der Polizei München. Das müssen BND und Kanzleramt wohl übersehen haben. Sie haben die Staatsanwaltschaft München nämlich nicht über das Angebot, Marsalek zu sprechen, informiert. Dann hätte nämlich auch der Untersuchungsausschuss des Bundestags wahrheitsgemäß informiert werden müssen. Dort hat man eigene Erkenntnisse zu Marsaleks Aufenthaltsort bestritten. Der zuständige Abteilungsleiter im Kanzleramt ist nun Botschafter im Vatikan. Er sollte schon mal Beichte üben. Denn vor einem Untersuchungsausschuss die Unwahrheit zu sagen, ist strafbar.

Wir haben nun viel über die deutschen Behörden geredet, aber es sind ja auch auffällig viele Österreicher in diese Geschichte verwickelt, auch Jan Marsalek kommt übrigens aus Wien. Was ist das für eine geheimdienstliche Connection zwischen Russland und Österreich?

Österreich wurde durch russische Netzwerke unterwandert, und das gilt eben auch für die Sicherheitsbehörden. Denn Österreich ist ein kleines Land mit Parteienfilz in den Sicherheitsbehörden. Da Österreich neutral ist und ein Scharnier zwischen Ost und West mit vielen internationalen Organisationen wie der Atomenergiebehörde, war das schon immer ein Spielplatz für Agenten.

Woran machen Sie das fest?

Die Financial Times nannte Österreich kürzlich einen Flugzeugträger russischer Spionage. Natürlich gehören nicht alle in den Sicherheitsbehörden zu diesem Netzwerk. Es gibt eben Leute, die käuflich sind, und es gibt Leute, die aus Überzeugung eine strategische Autonomie von den USA anstreben. Ich habe ja selbst immer für die Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen geworben, um einen Krieg wie in der Ukraine zu verhindern. Nur muss man sich deswegen nicht gleich mit Putin ins Bett legen. Da die Kriege des Westens im Nahen Osten den Islamismus gestärkt haben, sieht der eine oder andere Verfassungsschützer vielleicht gerne, dass Russland zum Beispiel den IS in Syrien platt gemacht hat, der im Kampf gegen Assad außer Kontrolle geraten und – auch das ist eben wahr – von westlichen Bündnispartnern finanziert worden ist. Ich habe aber auch konkrete Indizien für diese Russland-Connection.

Welche?

Der Eigentümer der Cyber-Security-Firma, die alle E-Mails von Ministern, der Finanzaufsicht BaFin und sogar des Bundeskriminalamtes schützte, Nico von Rintelen, hatte Kontakte zur Geschäftsanbahnung mit Marsalek, dessen Fluchthelfer und dem Diplomaten Johannes Peterlik, der die Nowitschok-Formel verbreitet haben soll. Er hat sogar in eine andere Firma als Retter in der Not investiert, in die Marsalek auch involviert war und für die der FPÖ-Abgeordnete, der Marsaleks Flugzeug für die Flucht organsierte, die Fördergelder besorgt hat. Rintelen ist ein deutscher Nachfahre Puschkins und eines russischen Zaren. Mehr noch: Er bekam sein Startkapital für die Firma aus einem millionenschweren Aktienpaket einer russischen Gasfirma, das er für seine Arbeit für den putinnahen Oligarchen Leonid Mikhelson erhielt, der kurioserweise in der EU im Unterschied zu Großbritannien nicht sanktioniert wird. Ich habe sowohl Olaf Scholz als auch Angela Merkel persönlich auf diese Risiken für die Cyber-Sicherheit im Untersuchungsausschuss öffentlich hingewiesen, da ich auf von Rintelen in einem österreichischen Vernehmungsprotokoll gestoßen war.

Wie sind Sie darauf gestoßen?

Das war ein Zufallsfund, weil sich Ex-Geheimdienstkoordinator Schmidbauer und die beiden BVT-Agenten um Marsalek über mich ausgetauscht hatten. Dies geschah, nachdem ich öffentlich dazu aufgerufen hatte, mir Hinweise zum Aufenthaltsort des Fluchthelfers von Marsalek zu erteilen, da sich die Bundesregierung dafür offenbar nicht interessiere. Der Fluchthelfer Martin Weiss wurde von der Staatsanwaltschaft dazu befragt und das Protokoll wurde mir dann zugespielt.

Wie haben Olaf Scholz und Angela Merkel reagiert?

Sie taten ahnungslos und überrascht. Bei der Kanzlerin klingelte danach lustigerweise im Ausschuss immer das Handy. Der damalige Finanzstaatssekretär und heutige Kanzleramtschef von Scholz, Wolfgang Schmidt, meldete sich noch abends bei mir und sagte: „Olaf ist sehr besorgt!“ Er wollte wissen, was ich für Hinweise habe. Ich habe Schmidt dann Screenshots geschickt. Er hat mir noch gesagt, man sei nach dem Hack der NSA auf das Handy der Kanzlerin so froh gewesen, ein deutsches Start-up beauftragt zu haben. Ich hörte nie wieder von Schmidt in der Sache. Ein Abgeordneter hat nach meinem Ausscheiden aus dem Bundestag aber auf meine Bitte nachgefragt, und dann kam heraus, dass Schmidt der Staatssekretär war, der sich dauernd mit Rintelen ausgetauscht hatte. Die Bundesregierung hat offiziell geantwortet, ein etwaiges Näheverhältnis von Rintelen zu Marsalek oder zum Oligarchen Mikhelson, den er als seinen Mentor bezeichnet, sei unerheblich. Später berichteten dann Der Spiegel, das österreichische Magazin Zack Zack und Capital, als wir Belege wie persönliche Chats von Herrn Rintelen zugespielt bekamen. Am Ende hat von Rintelen die Firma verkauft.

Als Laie verliert man bei all den Verstrickungen langsam den Überblick.

Tut mir leid, aber ich habe noch mehr. Ich nenne noch keinen Namen, aber ich habe nach dem Wirecard-Ausschuss von einem früheren ranghohen Mitarbeiter aus dem militärischen Komplex das unmoralische Angebot bekommen, einen Unternehmer zu beraten, Cevdet Caner, der Beziehungen zu Marsalek pflegte. Caner zieht die Strippen bei der Adler Gruppe, die vom Wirecard-Leerverkäufer attackiert wird und deren Bilanz von der Wirtschaftsprüfung KPMG nicht testiert wurde. Der Militär betonte immer, dass Marsalek nicht in Russland sei. Daher glaube ich, dass der Wirecard-Skandal ein Geheimdienstskandal ist. Ich bin überzeugt, dass fremde Nachrichtendienste womöglich Leerverkäufer und Presse auf der einen Seite angefüttert haben und auf der anderen Seite Netzwerke in unseren Sicherheitsbehörden versucht haben, die kriminelle Bude abzuschirmen, mit der man Finanzströme überwachen und das große Rad drehen wollte. Das wurde mit dem Nowitschok-Leak dann alles sehr heiß. Und daher sprach man auch bei Wirecard und in der Finanzaufsicht lieber von einer Verschwörung angelsächsicher Spekulanten gegen ein solides deutsches Unternehmen.

Das war ja auch eine beliebte Erzählung von Politikern wie Max Otte von der Werte Union. Wie geht man in der Politik heute mit dem Fall um? Vergangenes Jahr hat der Wirecard-Ausschuss seinen Abschlussbericht abgegeben. Hat er Wirkung gezeigt?

Häufig beweist ein Untersuchungsausschuss seinen Wert erst Jahre später. Die spannende Frage ist, ob es politische Kräfte gibt, die das Anliegen, Geldwäsche besser zu bekämpfen und Deutschland dafür aufzurüsten, wirklich angehen. Jetzt sind ja auf einmal wegen des Krieges alle ganz aufgeregt wegen der Oligarchen. Mich nervt dieses Maulheldentum im Ukraine-Krieg. Wo waren all diese Leute, als es darum ging, diese Netzwerke aufzudecken? Ich muss jetzt von der Seitenlinie die Arbeit der Abgeordneten machen und über Kollegen weiter Anfragen stellen. Ich mache dies unter gewissen Risiken für meine Sicherheit und ohne dafür Geld zu bekommen. Das kann ich auf Dauer nicht mehr leisten. Die Politik will das Aussitzen und die Öffentlichkeit mürbe machen. Aber die gute Nachricht ist: Es gibt Leute, die werden nie aufgeben!

Das Interview führte Ulrich Thiele.

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