Ehemaliger Bundesbank-Chef Axel Weber - „Ich beobachte mit Sorge die Diskussion um Steuererhöhungen“

Als Bundesbank-Chef mahnte Axel Weber einst zu Sparsamkeit. Die Corona-Pandemie stellt sich für den heutigen UBS-Chef als so absehbar dar wie der Klimawandel. Dennoch reagiere die Politik darauf ungenügend. Eine Föderalismusreform fordert er ebenso wie eine Banken- und Kapitalmarktunion.

Fordert einen „regulatorischen Big Bang“: Axel Weber / dpa
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Herr Weber, erst die Finanzkrise und Mario Draghis „Whatever it takes“, jetzt kommen Corona und die Corona-Bonds in dreistelliger Milliardenhöhe der EU sowie die Bazooka von Finanzminister Olaf ­Scholz. Zweimal kurz hintereinander pumpen die EZB und die EU-Staaten noch und nöcher Geld ins System. Kann das gut gehen?
In dieser außergewöhnlichen Situation war es absolut notwendig und auch richtig, massiv zu intervenieren, bei aller Kritik im Detail. Im ersten Halbjahr 2020 hatten wir in Deutschland einen historischen Rückgang des Brutto­inlandsprodukts von 12 Prozent. Bei früheren Rezessionen bewegte sich dieser Rückgang üblicherweise im unteren einstelligen Prozentbereich. Das jetzt aber ist die tiefste Rezession in der gesamten Nachkriegsgeschichte. Man kann sogar in die Vorkriegsgeschichte zurückgehen und findet wenige solcher außergewöhnlichen Konjunktureinbrüche. Aber die Ursache dafür ist eine andere als bei früheren Krisen: ein Wirtschaftsstillstand als Folge von politischen und medizinischen Entscheidungen.

Die Wirtschaft ist also eigentlich gesund?
Vielfach ja. Wegen des erneuten Lockdowns werden wir wahrscheinlich sowohl ein negatives viertes als auch ein negatives erstes Quartal 2021 mit rückläufigem BIP sehen. Laut unseren Prognosen bei UBS werden wir im Laufe des zweiten Halbjahrs 2021 in Deutschland schon wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Gegen Ende des Jahres werden wir in den Industrieländern die erforderliche Massenimmunität erreicht haben. Aber auf dem Weg dorthin dürfen wir nicht zu viele Unternehmen verlieren, die eigentlich ein funktionierendes Geschäftsmodell haben, das auch nach der Krise trägt. Zugleich werden die Massenimpfungen die hohe Sterblichkeitsrate verringern.

Lässt sich die Corona-Pandemie zumindest in ihren Folgen mit der Finanzkrise vergleichen?
Ich vergleiche die Pandemie eher mit den Problemen, die bei den Themen Nachhaltigkeit und Klimakrise auf uns zukommen. Die Pandemie war ein Risiko, das der Politik latent bekannt war. Aber es wurde zu wenig vorgesorgt und erst in einen Aktivitätsmodus umgeschaltet, als sich das Risiko materialisiert hatte. Dabei hätte man Vorkehrungen treffen können, um dieses Risiko im Vorfeld einzudämmen. Auch der Klimawandel ist ein latentes Risiko, das sich langsamer, aber unweigerlich materialisiert. Die von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen gegen die Klimakrise sind bislang absolut mangelhaft. Die Politik droht so in den gleichen fatalen reaktiven Modus wie in der Pandemie zu geraten. Ich nenne das notorisches Lernen: Die Probleme immer erst dann angehen, wenn sie akut geworden sind und massives Gegensteuern notwendig ist.

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Das Gegensteuern der Notenbanken hat seit der Finanzkrise dazu geführt, dass die Geldmenge um mehr als 40 Prozent erhöht wurde. Wie bekommen wir das jemals wieder aus dem System?
Die Notenbanken werden auf Jahre hinaus gezwungen sein, die jetzige Geldpolitik mit niedrigen Zinsen zur Reduktion der Zinslast der Staaten weiterzufahren. Damit ist die Freiheit, die Geldpolitik zu normalisieren, selbst wenn Inflation aufkommt, deutlich eingeschränkt. Die Staatsschulden drohen in den nächsten Jahren weiter aus dem Ruder zu laufen. Deutschland ist im europäischen Vergleich noch in einer günstigen Situation. In Italien ist die Staatsverschuldung durch diese Krise vergangenes Jahr von 135 Prozent des BIP auf rund 160 Prozent gestiegen. In Griechenland haben wir trotz Schuldenschnitt eine Staatsverschuldung, die bereits auf über 200 Prozent des BIP angestiegen ist.

Wie hoch ist das Risiko einer Inflation?
Allgemein wird das Risiko bislang als sehr gering eingeschätzt. Meines Erachtens zu Unrecht. Anders als in der Finanzkrise verbleibt ein Großteil der jetzigen Finanzierungen, Staatsinterventionen und Finanzmittel der Notenbanken nicht mehr im Finanzmarkt, sondern fließt etwa über Arbeitslosenunterstützungen und Unterstützungen für Unternehmen direkt in den Wirtschaftskreislauf und in die Realwirtschaft. Insofern erachte ich das Inflationsrisiko als deutlich höher als nach der letzten Krise.

Auch die Gefahr einer Deflation wird immer wieder beschrieben. Wie steht es damit?
Das Deflationsrisiko halte ich vor dem Hintergrund des erwarteten Anziehens der Wirtschaftsentwicklung für relativ gering – zumindest für deutlich geringer als die Gefahr, dass die Inflation die Zielwerte überschießt. Die Wirtschaft ist wie gesagt aufgrund der politischen Lockdown-Maßnahmen sozusagen in diese Rezession gepresst worden. Sobald man aufgrund der Impfprogramme die Mobilitätsrestriktionen zurücknehmen kann, wird auch die Wirtschaft wieder in ihrer alten Stärke anspringen. Die Politik wird also nicht die Erholung der Wirtschaft befeuern müssen. Sie muss dort Strukturmaßnahmen ergreifen, wo einzelne Teile der Wirtschaft das Wachstum bremsen, weil sie die Transformation nicht angehen.

Welche weiteren Folgen wird diese Form der Geldpolitik haben?
Die hohen Notenbankbilanzen sind eine enorme Belastung für Anleger, weil kaum mehr Nominalzinsen gezahlt werden. Wer normalerweise über Zinserträge sein Verdientes und sein Vermögen anlegen konnte, bekommt keine Erträge mehr für diese Vermögensanlage in festverzinslichen Anleihen. Der viel riskantere Aktienmarkt ist derzeit bei allen Unternehmen und bei allen Investoren die präferierte Investition. Es gibt kaum eine Alternative zu Aktien. Unsere Ökonomen sprechen von einer Tina-Welt, in der wir uns befinden – There Is No Alternative.

Wagen Sie eine Prognose, wann der Normalsparer wieder mit ganz biederem Festgeld und gesichertem Zins ruhig schlafen kann und sich nicht an die Börse begeben muss?
Das wird auf Jahre hinaus nicht mehr der Fall sein. Wer jetzt anlegen will im festverzinslichen Segment, insbesondere in Staatsanleihen, wird keine reale Ver­zinsung erzielen können, die diese Anlage attraktiv macht. Deswegen müssen Anleger auf weniger sichere Anleihen ausweichen. Das sind zum Beispiel Unternehmensanleihen, die höhere Renditen als Staatsanleihen haben, aber auch ein höheres Risiko. Oder sie müssen auf Schwellenländer-Anleihen ausweichen. Diese Länder haben höhere nominelle Zinsen, aber auch höhere Inflationsraten und auch generell höhere wirtschaftliche Risiken – allen voran das Wechselkursrisiko, was nicht zu vernachlässigen ist. Wer auf Aktien setzt, hat zwar womöglich höhere Gewinnchancen, geht aber nochmals höhere Risiken ein. Gerade weniger vermögende Kunden verfügen oft nicht über eine ausreichende Risikotragfähigkeit, um in Aktien zu investieren.

Also bleibt vielen nur die Hoffnung auf eine gesamtwirtschaftliche Erholung. Glauben Sie noch an das viel beschriebene V-Szenario eines schnellen Wiederaufschwungs?
Der Buchstabe, der meines Erachtens am angemessensten den Verlauf der Wirtschaftsentwicklung bezeichnet, ist eigentlich das K. Wir sehen einen Teil der Wirtschaft, der sich gut erholt. Dazu gehören der Technologiebereich und der Onlinehandel. Das sind die Gewinner der Krise. Aber es gibt einen anderen Teil der Wirtschaft, der sich weniger rasch erholt. Das sind besonders der vom Lockdown betroffene Einzelhandel, Dienstleister sowie das Hotel- und Gaststättengewerbe. Auch die Divergenz zwischen Ländern in der Eurozone wird sich weiter verstärken, etwa zwischen den weniger dynamischen Wirtschaften der Peripherie, die deutlich stärker gelitten haben, und dem robusteren Kern der Eurozone wie Deutschland. Nicht zuletzt die konsequente und vielfach kritisierte Schuldenpolitik der schwarzen Null des ehemaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble hat Deutschland diesen Spielraum gegeben.

Das heißt, die Politik muss dorthin zurückkehren?
Ich hoffe, dass man zu einer sehr konsequenten Finanzpolitik und Konsolidierung zurückkehrt. Deutschland hätte dann mit seinem Wirtschaftspotenzial und seiner Wachstumsstärke die Chance, auch diese neue Schuldenkrise wieder zu bewältigen und stabile Haushaltslagen zu erreichen. Die große Diskussion wird aufleben, weil viele sagen werden, es sei noch nicht der richtige Zeitpunkt, über die Reduktion der Schuldenstände durch Reduktion der Ausgaben zu reden. Aber das halte ich für grundsätzlich falsch.

Es wird einem ja blümerant, wenn man sich diese Summen der Rettungspakete ansieht. Was halten Sie eigentlich von der Modern Monetary Theory, die sagt, am Ende des Tages sind Schulden egal?
Ich nenne das Sirenengesang, dem man nicht folgen sollte. Mein Freund und Kollege Ken Rogoff hat das mal als Modern Monetary Nonsense bezeichnet. Ich glaube, er verharmlost da sogar. Ich halte diese Theorie nicht nur für unsinnig, sondern für brandgefährlich.

Inwiefern?
Es wird suggeriert, der Spielraum von Geld- und Finanzpolitik sei unendlich groß, und dauerhaft hohe Schuldenstände seien kein Problem. Es gibt aber historisch sehr viele Belege dafür, dass mit einer anziehenden Wirtschaft eben auch die Inflation wieder anzieht. Und wie schon gesagt, fließt in dieser Krise durch die vielen Hilfsprogramme viel Geld in die Realwirtschaft. Ein rascher Anstieg der Inflation in den nächsten Jahren wäre ökonomisch gesehen der Super-Gau. Die Langfristfolgen der jetzigen Geldpolitik sind potenziell sehr gefährlich, und so warne ich auch in Gesprächen mit Kunden, dass man die eigene Risikotragfähigkeit nicht vergessen sollte.

Dann sprechen wir doch von der Refinanzierung dieser Schulden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor kurzem im Bundestag bei einer Regierungsbefragung gesagt, es werde keine Erhöhung von Steuern oder Abgaben geben, das nötige Geld werde „erwirtschaftet nach Corona“. Das hört sich doch ein bisschen nach Münchhausen und seinem Schopf und dem Sumpf an.
Ich gehe davon aus, dass das Versprechen von Frau Merkel für ihre Amtszeit noch gilt. Die ist aber limitiert auf September. Aber danach halte ich die Position, dass die Schuldenfinanzierung durch gesteigertes Wirtschaftswachstum und den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit finanzierbar ist, für unrealistisch. Die Fähigkeit der Wirtschaft, durch zukünftiges, dynamisches Wachstum die heutigen Schuldenstände zurückzuführen, ist sehr limitiert.

Aber wie kann eine Rückkehr zur Finanzpolitik der schwarzen Null dann gelingen?
Ich beobachte mit Sorge die Diskussion um Steuererhöhungen – ob es um einen Lastenausgleich geht, einen Corona-­Soli, eine Erhöhung der Spitzensteuersätze, Erhöhung der Mehrwertsteuersätze oder um eine Wiedereinführung der Vermögenssteuern. Politiker sind unendlich erfindungsreich, wenn es um das Gewinnen neuer Einnahmequellen geht. Sie sind aber absolut fantasielos, wenn es um Konsolidierung über die Reduktion von Ausgaben geht.

Wo sehen Sie stattdessen die Kürzungspotenziale?
An vielen Stellen. So sind beispielsweise die Kosten des deutschen Föderalismus erheblich. Die Steuerungs- und Koordinationsprobleme, das hat ja auch die Pandemie gezeigt, sind offensichtlich. Aber auf die notwendige Föderalismusdiskussion hat die Politik keinen Appetit. Dabei ist es so: Was zentral erledigt werden muss, soll zentral auf Bundesebene und auf Ebene der EU erledigt werden. Wir haben die europäische Ebene dazugenommen und mehr Bürokratie auf einer supranationalen Ebene geschaffen, ohne die Kompetenzzuständigkeiten auf den Ebenen darunter neu zu regeln. Die deutsche Politik täte gut daran, diese Diskussion zu führen angesichts des offensichtlichen Versagens gewisser föderativer Strukturen in der Pandemie. Nicht alles, was richtig ist, ist leicht. Aber nicht alles, was leicht ist, ist langfristig auch richtig.

Aber unser föderal angelegter Sozialstaat hat in der Pandemie doch auch vielfach gut funktioniert.
Durchaus, aber ich sehe zum Beispiel Effizienzverluste gerade dann, wenn schnelles gemeinsames Handeln notwendig wäre. Eine andere Gefahr besteht darin, dass staatliche Hilfen wie das Kurzarbeitergeld nicht nur genutzt werden, um über die Pandemie hinwegzukommen. In einigen Branchen, die dringend Strukturwandel bräuchten, könnten solche Hilfen genutzt werden, um den Wandel zu verschleppen und ineffiziente Strukturen zu perpetuieren. Auch darüber muss man eine echte Reformdiskussion führen. Das ist nach einer solchen Krise wichtig.

Aber insbesondere die Industrie garantiert derzeit nicht zuletzt durch ihre vielen gut bezahlten Jobs noch immer einen Großteil unseres Wohlstands.
Ja, der deutlich geringere Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttoinlands­produkt hat Deutschland im Vergleich etwa zu Frankreich in der Pandemiekrise geholfen. Aber in der Erholung wird uns diese starke Strukturlastigkeit in Richtung Industrieproduktion abbremsen.

Hätten Sie sich zu Ihrer Zeit als Bundesbank-Chef in der Eurokrise träumen lassen, dass die deutsche Bundeskanzlerin eines Tages tatsächlich Eurobonds befürworten würde, auch wenn diese jetzt ein bisschen anders heißen?
Ein gewisses Solidaritätselement in der Krisenbekämpfung ist absolut vertretbar. Aber es muss meines Erachtens vorübergehend sein, es muss auf die Krise und die Krisenbewältigung fokussiert sein. Wir werden die Pandemie, davon gehe ich fest aus, mit den Impfstrategien und mit der Massenimmunisierung in den Griff bekommen. Danach sollten wir die pandemischen Hilfsmaßnahmen, ob im Bereich der Geldpolitik oder auch der Finanzpolitik, wieder deutlich zurückfahren. Ob das getan wird, wage ich allerdings zu bezweifeln. Vielmehr wird es dazu kommen, dass von Deutschland künftig noch mehr Solidarität eingefordert werden wird, weil das Land als einer der Krisengewinner angesehen wird.

Wie beurteilen Sie denn die Fliehkräfte in der EU und in der Eurozone? Wachsen wir durch Corona stärker zusammen oder kollabiert jetzt, was schon 2008 drohte auseinanderzubrechen?
Um das zu beurteilen, müssen wir die EU mit anderen wichtigen Wirtschaftsräumen vergleichen. China ist wirtschaftlich schon wieder deutlich über das Vorkrisenniveau hinaus und liefert bereits den größten Beitrag zum globalen Wirtschaftswachstum. Deutschland profitiert davon, weil es stark am Wachstum Chinas partizipiert. Die amerikanische Wirtschaft wird sich nach dem Erreichen der Massen­immunität ebenfalls normalisieren. Die europäische Wirtschaft hingegen wird unter zwei Gegenströmungen leiden, welche die anderen Wirtschaftsräume nicht verkraften müssen.

Worin besteht dieser Gegenwind?
Die Visionen von der EU sind unter den Beteiligten nach wie vor extrem unterschiedlich. Als Folge haben die Briten jetzt mit dem Brexit die EU verlassen. Das muss man akzeptieren. Der jetzige Handelsvertrag ist zwar ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss, trotzdem wird es auch mit dieser Lösung noch erheblichen wirtschaftlichen Gegenwind geben.

Und das zweite Problem?
Auch die osteuropäischen Staaten haben eine deutlich andere Vorstellung vom gemeinsamen Wirtschaftsraum als die westeuropäischen Länder. Sie teilen nicht die Vision einer Währungsunion und werden immer in einem Status bleiben wollen, der keine Vollmitgliedschaft in allen Bereichen der Europäischen Union beinhaltet. Darum werden sie auch künftig in einem geringeren Umfang als alle anderen bereit sein, finanzielle und wirtschaftliche Risiken zu teilen.

Wie turbulent wird es für die Eurozone selbst? 
Die Probleme des Euro-Währungsraums kommen noch hinzu. Hier hat sich in der Krise die Kluft zwischen Kern- und Peripherieländern weiter ausgeweitet. Es ist eine sehr unglückliche Fügung, dass genau die Länder, die unter der vergangenen Finanzkrise massiv gelitten hatten, wie Italien, Spanien, Portugal oder auch Frankreich, jetzt wieder stärker betroffen sind. Da entstehen tatsächlich Zentrifugalkräfte, die ein Auseinanderdriften der Währungsunion auslösen können, wenn man nicht bewusst gegensteuert.

Gegensteuern mag gut klingen. Aber was schwebt Ihnen da konkret vor?
Auch in der Eurozone müssen wir dringend strukturpolitische Reformen angehen. Für mich wäre das etwa die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Das heißt, wir müssen die in Deutschland unbeliebte Bankenunion und die Kapitalmarktunion vorantreiben. Ähnlich wie im föderalen System in Deutschland haben wir diesbezüglich einen Flickenteppich in der EU. Es gibt keinen EU-Kapitalmarkt, sondern 27 fragmentierte Märkte mit jeweils nationalen Vorschriften, mit nationalen Aufsichtsbehörden, mit nationalen Regeln und darüber noch einen 28. europäischen, übergeordneten Regulator, der nicht immer in vollkommener Übereinstimmung mit den nationalen zuständigen Behörden agiert.

Aber wird dieses Gebilde nicht ohnehin mit der Zeit gewissermaßen organisch immer weiter zusammenwachsen?
Wir brauchen einen regulatorischen Big Bang und müssen jetzt einen europaweiten Kapital- und Bankenmarkt etablieren. Ähnlich wie das die Amerikaner schon 1863 gemacht haben, mit ihrem National Banking Act. Damit haben sie ein USA-weites Bankensystem geschaffen und somit die Grundlage für einen liquiden und dynamischen US-Kapitalmarkt. Die USA finanzieren heute 70 Prozent ihrer Investitionen über diesen Kapitalmarkt, in Europa sind es nur 30 Prozent. Wir brauchen Regeln auf Ebene der EU, damit Banken nur noch diesen Folge leisten müssen.

Was geschieht denn, wenn es dazu nicht kommen wird?
Nur solch ein effizienter Banken- und Kapitalmarkt in Europa wird das Kapital und die Finanzierungsmittel freisetzen, die notwendig sind, um die Transformation der Wirtschaft nach Covid zu beschleunigen und beispielsweise den Ausbau der Digitalisierung in Europa voranzutreiben oder Nachhaltigkeit und Klimaneutralität zu fördern. Europa wagt viel zu wenig Markt vor dem Hintergrund der Jahrhundertherausforderungen Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Europa wird seine Industrieproduktion komplett auf nachhaltige Produktion umstellen müssen. Das muss gelingen. Die notwendigen Finanzmittel sind vorhanden, sie müssen dahin fließen, wo sie den effizientesten Zukunftsbeitrag liefern.

Axel Weber war von 2004 bis 2011 der Präsident der Deutschen Bundesbank und damit eine der Schlüsselfiguren während der Eurokrise. Heute ist der Ökonom und Manager der Verwaltungsratspräsident der Schweizer Großbank UBS Group AG. Seit 2013 ist er außerdem Mitglied der sogenannten Group of Thirty in Washington D. C., einer internationalen Lobbyorganisation der Finanzwirtschaft.

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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