Ich habe überlebt

Sein Bild ging um die ganze Welt: Tsvi Nussbaum, der als Achtjähriger von der SS vor dem Warschauer Ghetto abtransportiert wurde. Heute wohnt er als Rentner in New York. Und sagt: „Ich fühlte mich schuldig, den Holocaust überlebt zu haben“.

Er wartet bereits seit einer Stunde. Tsvi Nussbaum sitzt im Büro des Holocaust-Museums von Spring Valley in der Nähe von New York – ich in der Bibliothek nebenan. Als wir das Missverständnis bemerken, kann er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. „Ich dachte, Deutsche sind immer pünktlich.“ Nussbaums Gang ist schleppend, das Aufstehen vom Stuhl bereitet ihm Schmerzen. Im Sommer wird der ehemalige Hals-Nasen-Ohren-Arzt 70 Jahre alt. Aus einer Plastiktüte kramt er ein Foto hervor. Ein kleiner Junge hebt die Hände, im Hintergrund steht ein SS-Mann, der sein Maschinengewehr in Anschlag hält. Kaum ein anderes Bild hat die Unmenschlichkeit des NS-Regimes so deutlich gemacht. Es ging um die Welt, wurde millionenfach gedruckt und hängt heute in vielen Museen der Welt. „Es ist eines der unauslöschlichen Bilder der Geschichte“, schrieb die New York Times. Tsvi Nussbaum sagt leise: „Ich wäre glücklicher, wenn es das Foto nicht geben würde. Und ich wünschte, ich wäre nicht der Junge auf dem Bild.“ Tsvis Eltern waren 1935 aus dem südpolnischen Städtchen Sandomierz nach Palästina ausgewandert. Kurz darauf kam Tsvi zur Welt – mit einem von der britischen Mandatsmacht ausgestellten Pass. Doch die Lebensbedingungen für die junge Familie erwiesen sich als zu hart. Schon ein Jahr später kehrte sie nach Sandomierz zurück. Ein verhängnisvoller Schritt. Wenige Tage nach dem Überfall auf Polen im September 1939 erreichte die deutsche Wehrmacht am 10. September Sandomierz. Tsvi Nussbaum weiß nicht, wie seine Eltern umgekommen sind. Auf einer Messingtafel im Holocaust-Museum von Spring Valley wird ihr Name genannt und als Todesjahr 1942 angegeben. Für Tsvi waren sie einfach nur verschwunden: „Eine Freundin meiner Eltern nahm mich und meinen Bruder Ilan zu sich, später kam eine andere Freundin und holte mich zu meinem Onkel nach Warschau.“ Seinen Bruder hat er nie wieder gesehen. In Warschau versteckten sie sich außerhalb des Ghettos in einer Wohnung im von Polen bewohnten Teil der Stadt. Fast ein Jahr blieben sie unerkannt, „dann hörten wir von der Möglichkeit, dass Juden mit Auslandspässen nach Palästina ausreisen könnten.“ Sammelpunkt war das Hotel Polski. „Ein paar Tage haben wir mit Dutzenden anderer Juden gewartet. Dann kam die SS und befahl uns, vor das Hotel zu kommen. Es war der Moment, als das Foto entstand.“ Tsvi Nussbaum war damals knapp acht Jahre alt. „Ein Soldat befahl mir, die Hände zu heben.“ SS-Männer verlasen Namen von einer Liste, auch die seines Onkels und seiner Tante. Beide wurden auf einen Lastwagen verfrachtet. Doch Tsvis Name fehlte. „Weil wir aber den gleichen Nachnamen hatten, sprang mein Onkel vom Wagen wieder herunter, umarmte mich und flüsterte: ‚Küss mich!‘ Er gab sich als mein Vater aus – ich durfte mit auf den LKW.“ Doch die Reise ging nicht ins gelobte Land, sie endete nach zwei Tagen im KZ Bergen-Belsen. Tsvi Nussbaum, seine Tante und sein Onkel überlebten das KZ. Nach ihrer Befreiung im April 1945 wanderten sie nach Palästina aus. Tsvi lebte in einem Kibbuz, dachte an Selbstmord. „Er war depressiv“, sagt seine Frau Beverly, „er hatte auf einer Postkarte an seinen Onkel angekündigt, seinen Eltern und seinem Bruder in den Tod zu folgen.“ Wieder rettet ihn der Onkel, nimmt ihn mit, diesmal nach Amerika. Als sie 1953 in New York eintreffen, ist Tsvi knapp 18 Jahre alt. Er ist schon promovierter Hals-Nasen-Ohren-Arzt, als er, irgendwann in den Achtzigerjahren, zum ersten Mal das Bild sieht. Sein Bild. „Ich weiß nicht mehr genau, wo und wann. Ich weiß nur noch, wie ich dachte, der sieht ja aus wie du.“ Im Mai 1943 hatte Polizeikommandant Jürgen Stroop an Heinrich Himmler gemeldet: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr.“ Als Beleg überreichte Stroop dem SS-Reichsführer Fotoalben aus den letzten Tagen des Ghettos. Auch das Foto des kleinen Jungen war dabei und trug die Bildunterschrift „Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt“. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen dienten die 49 Fotoaufnahmen als Beweismittel. Das Foto des Jungen wurde dabei erstmals in der Öffentlichkeit gezeigt. 1982 veröffentlichte die Zeitung The Jewish Week eine Titelgeschichte über den „Jungen aus dem Warschauer Ghetto“. Kurz darauf machte die New York Times Nussbaums Geschichte publik. Zweifler an der Echtheit seiner Geschichte meldeten sich zu Wort, andere machten ihm zum Vorwurf, sich wichtig zu machen. Nussbaum aber hatte diese Kontroverse „nicht gewollt und nicht erwartet. Ich fühlte mich schuldig, den Holocaust überlebt zu haben“. Vor sieben Jahren hat er mit seiner Frau und seinen vier Töchtern Sandomierz in Polen besucht. Sein Elternhaus in der Kosciuszkistraße Nummer 1 stand noch. „Es war der traurigste Tag in meinem Leben“, sagt er. Auf dem Flug nach Polen landete die Maschine in Frankfurt zwischen. Tsvi Nussbaum weigerte sich, das Flugzeug zu verlassen. Deutschen Boden will er nie mehr betreten. André Groenewoud ist Amerika-Korrespondent der Agentur Zeitenspiegel. Er lebt in New York

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