"Niemand soll hoffen, dass ich müde werde"

Nie zuvor hatte ein Bundeskanzler schlechtere Umfragewerte als Gerhard Schröder heute. Zeit für ein Gespräch über Zumutungen des Amtes, Versager in der Politik und den nötigen Rückhalt im Freundeskreis und in der Familie. Mit Gerhard Schröder sprach Frank A. Meyer

Herr Bundeskanzler, haben Sie je gedacht, dass die Probleme und die Kritik so knüppeldick auf Sie hereinprasseln könnten, wie dies nun der Fall ist? Es kommt wohl immer anders, als man denkt. Es ist alles wesentlich komplexer und schwieriger geworden. Der Problemdruck ist gewaltig. Das hat mit unserer Umbruchzeit zu tun. In unübersichtlicher Zeit muss Deutschland seinen Weg in die Zukunft finden. Ganz Europa muss diesen Weg finden, aber auch die USA. Politiker sind Pfadfinder und Wegweiser zugleich geworden. Viele vertraute Pfade führen nicht mehr zum Ziel. Doch Bürgerinnen und Bürger möchten sie weitergehen, eben weil sie so vertraut sind. Der Politiker aber muss den richtigen Weg weisen. Welches Gefühl überwiegt: Macht oder Ohnmacht? Wohl zu Ihrem Erstaunen muss ich sagen: nicht eigentlich Ohnmacht … Dennoch ist das vereinigte Deutschland unter ihrer Ägide ein Sonderfall geworden: ehedem Musterknabe, jetzt wirtschaftlich schwer belastet … Wir waren auch durch unsere Teilung schon ein Sonderfall. Jetzt sind wir wegen der Teilung ein Sonderfall: Kein anderes Land der Welt hat neben den ohnehin großen wirtschaftlichen Herausforderungen, die ja große gesellschaftliche Probleme zur Folge haben, noch die Integration von 16 Millionen Mitbürgern zu leisten: finanziell zu leisten, kulturell zu leisten. Die Vereinigung von gestern bezahlen wir heute und morgen. So transferieren wir Jahr für Jahr 83 Milliarden Euro von West nach Ost. Das sind vier Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Kaum eine andere Volkswirtschaft wäre dazu in der Lage. Der Jubel in den glücklichen Tagen des Mauerfalls ist verklungen. Das ist normal. Aber es darf jetzt nicht der Katzenjammer ausbrechen. Das wäre fatal. Wie machen Sie das den Menschen klar? Ich versuche es mit Argumenten, mit Geduld und Beharrlichkeit. Es gibt keinen kommunikativen Trick, um die Menschen in Deutschland zu überzeugen. Es gibt nur eines: Erklären und immer wieder erklären. Sind Sie des Erklärens manchmal müde? Ich lasse mich nicht ins Bockshorn jagen, auch nicht von einer Berichterstattung, die im bedenklichsten Sinne populistisch ist, die mit allen emotionalen Mitteln auf Leserbindung abzielt, die auch noch andere Absichten transportiert. Ich werde des sachlichen Erklärens nicht müde. Darauf soll niemand hoffen. Sie selbst haben 1998 im Wahlkampf den Abbau der Arbeitslosigkeit versprochen. Ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass die Konjunktur nachhaltig gestört werden könnte durch den Börsencrash und den 11. September 2001. Und das haben Sie jetzt gelernt? Ich lerne ständig. Nehmen Sie nur die internationale Politik. Es eröffnen sich immer wieder neue Entwicklungen, für die ich mit meiner Regierung Lösungen finden muss. Sie sind Bundeskanzler geworden, als die Börsenkurse dem Himmel zustrebten und die Internet-Firmen aus dem Boden schossen. Der Wirtschaftshimmel hing voller Geigen. Dann kam der Absturz in die Wirklichkeit im Jahr 2001. Sie mussten zwar politisch diese Zeitenwende verarbeiten, aber... Zwei Zeitenwenden! Nicht eine: Erst musste ich das Tabu brechen, wonach Deutschland sich nicht militärisch engagiert. Das war nicht einfach, gerade bei den Anhängern meiner Regierung, bei den Sozialdemokraten und den Grünen. Aber auch das haben wir durchgehalten. Das zeigt die Beteiligung am Kosovokrieg, das zeigt auch das Engagement in Afghanistan nach dem 11. September 2001. Zwar ist unser damaliger Kampf um die Neuorientierung deutscher Politik in weiten Teilen der Öffentlichkeit schon fast vergessen. Aber es war nicht einfacher als heute der Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme. Auch die absolut notwendigen Reformen, die wir jetzt konsequent durchziehen, sind vor allem für Sozialdemokraten nicht leicht zu verarbeiten. [...] Das deutsche Erfolgsmodell einer sozialen Marktwirtschaft hat in den letzten 50 Jahren Triumphe gefeiert. Es war der Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, das Gegenmodell zum Kommunismus. Der Kommunismus ist nicht mehr. Ist auch der rheinische Kapitalismus ans Ende gekommen? Ich bin überzeugt, dass das kapitalistische Modell, wie wir es in Europa kennen, auch in Zukunft ein Erfolgsmodell sein wird. Es gründet auf Teilhabe breiter Schichten der arbeitenden Bevölkerung am erarbeiteten Reichtum. Die Zukunft der Wirtschaft ist abhängig von immer mehr gut ausgebildeten und kreativen Menschen, von Menschen auch, die selbstständig handeln und Verantwortung übernehmen können. Das aber ist nur in einer Gesellschaft möglich, die diesen Menschen auch sozial gerecht wird. Darum glaube ich an die Überlegenheit unserer sozialen Marktwirtschaft, wobei ich den Begriff sozial unterstreiche. Es wäre schlimm, wenn man den europäischen Kapitalismus einem asiatischen oder amerikanischen Modell opfern würde. Aber um unser Modell zu bewahren, müssen wir es den neuen globalen Gegebenheiten anpassen. In Deutschland tun wir das jetzt. Wie halten Sie das aus: Kind aus einfachsten Verhältnissen und Sozialdemokrat, aber eben jetzt Kanzler, der Einschnitte ins soziale Netz verantworten muss? Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Die Schnelligkeit, mit der heute Entscheidungen abverlangt werden, führt dazu, dass man wenig Zeit hat, um sich zu fragen: Wie hältst Du das aus? Ich kann auf Ihre Frage nur antworten: Es ist auszuhalten, weil mich ein intakter Freundeskreis umgibt. Die stärkste Stütze aber ist meine Frau. Ist sie auch kritisch? Sicher ist sie kritisch. Aber ich führe keinen Zweifrontenkrieg. Zu Hause ist mein Refugium. Es herrscht Grundvertrauen. Aus diesem familiären Grundvertrauen heraus agiere ich politisch. Gibt es Momente, wo Sie sich fragen: Gehe ich noch den richtigen Weg? Alles, was ich tue, wird sozusagen öffentlich. Auch Skepsis würde sofort nach außen sichtbar. Und das geht nicht in meinem Amt. Man würde es als Resignation interpretieren. Aber es werden ja nicht alle Entscheide in der Politik mit gesichertem Wissen getroffen. Manches, was man tut, muss sich in der Praxis noch bewähren. Da ist abwägende Nachdenklichkeit doch nicht verboten. Natürlich gibt es die Zweifel, ob die eine oder andere Entscheidung richtig ist. Man muss sich auch durch die Wirklichkeit korrigieren lassen. So halte ich es jedenfalls: Wenn sich eine Entscheidung von mir in der Wirklichkeit als untauglich erweist, dann lasse ich den Gedanken zu, dass sich nicht die Wirklichkeit täuscht, sondern dass ich mich getäuscht habe.

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