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Bilanz der 66. Berlinale - Männer, die durch Wälder irren

Tunesien, Portugal und China geben dem Rad der Bilder neuen Schwung, Gérard Depardieu spielt seinen Körper, und fast überall tapsen Männer durch Wälder: Die diesjährige Berlinale war weitaus besser als ihre fade Vorgängerin. Und überraschend unterhaltsam

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Woran erkennt man einen guten Film? Daran, dass er uns weinen macht oder lachen, dass wir zu uns finden oder uns vergessen? Verdichtet er Realität oder erfindet er eine neue? Ist die Poesie seine Muttersprache oder die Politik?

All das gab es auf der 66. Berlinale zu sehen, Stunde um Stunde, elf Tage lang, wenn es drinnen, vor der Zeit, dunkel wurde und hell und wieder dunkel, Menschen einander fanden, verrieten, liebten und hassten und so zu einem Jahrgang beitrugen, der länger im Gedächtnis wird haften bleiben als der arg mittelprächtige von 2015. In ihren besten Momenten war die Berlinale tatsächlich der Punkt hoch oben, ein Ausguck am Firmament, von dem aus die Dinge sich neu richteten, die Wälder, die Buchstaben, die Männer, und die Zeit ihre Substanz zurück erhielt. Filme sind zufallsloses Land.

Gerade bei den drei Wettbewerbsbeiträgen mit dem höchsten Nachhaltigkeitsfaktor wurde die Zeit, das Medium aller Filme, zum Thema. Aus Portugal, China und Deutschland kam dreimal die Frage, ob das Verrinnen der Tage tröstet oder knechtet.

Portugal: „Cartas da guerra“/„Briefe aus dem Krieg“


Die portugiesische Antwort lautete auf Knechtung. Zwischen Januar 1971 und April 1972 sandte der Frontmediziner António – er sollte bald zum Weltschriftsteller António Lobo Antunes werden – zehrende, sehnende Briefe aus dem angolanischen Unabhängigkeitskrieg an seine Frau. Fast während der gesamten Dauer des in edlem schwarz-weiß fotografierten Films „Cartas da guerra“/„Briefe aus dem Krieg“ von Ivo M. Ferreira hören wir aus dem Off die Stimme einer Frau, der Briefempfängerin, wie sie die Nachrichten eines Heimweh- und Liebeskranken verliest, Buchstaben zum Klingen bringt. António weiß: Der Krieg macht aus Menschen Insekten. Er fühlt sich mit Schweigen gefüttert, „nichts hat hier Maß oder Zurückhaltung, wie meine verrückte Prosa“. Elefanten baden im Fluss, Grillen surren, Soldaten erschießen Hunde.

Formal streng und kühn, ohne Konzessionen an ein ironiegewöhntes Publikum, vertraut Ferreira dem einmal gewählten Stilprinzip bis zuletzt. Das zeugt von Mut, Selbstvertrauen und ästhetischer Entschlusskraft – außergewöhnlich.

China: „Chang Jiang Tu“/„Gegenströmung“


Auch in „Chang Jiang Tu“/„Gegenströmung“ gliedert Poesie den Alltag. Unter dem vorangestellten, auf die Leinwand geschriebenen Motto „Die Zeit fließt wie ein Fluss, Tag und Nacht“ zeigt Yang Chao wenig mehr als ein Schiff auf Jangtse-Fahrt, von Shanghai bis zur Mündung, an die 5000 Kilometer lang. Den Kompass aus Worten geben die traurigen Gedichte eines Schiffsjungen ab, die ein junger Mann, Kapitän Gao Chun, zufällig unter Deck findet. „Zwischen den Worten bin ich machtlos, darüber hinaus sündige ich täglich“, heißt es, später dann „ich verfluche alle Wege, die ich ging“. Die Wege des Kapitäns führen vorbei an untergegangenen Dörfern und dunklen Wäldern, zwischen denen ihm immer wieder eine junge, eine sich verjüngende Frau begegnet, eine Botin in die Unterwelt womöglich, eine chinesische Isolde, zum Liebestod lockend, eine Dakini. China ist hier ein Land im Nebel, ein Reich der Ruinen, das gar nichts zu tun haben will mit der Selbstfeier einer stolzen Weltmacht.

„Chang Jiang Tu“ gibt eine radikal unwestliche Antwort auf die universale Frage nach der Zeit: Zeit ist, was dir zustößt, während du in die Irre gehst. Sie ist der Kreis, der sich als Linie tarnt.

Deutschland: „24 Wochen“


Der deutsche Wettbewerbsbeitrag mit der Zeitangabe im Namen ließ nur die Augen dessen trocken, der keine Ohren und keine Augen und kein Herz hätte. „24 Wochen“ ist die Geschichte einer Spätabtreibung, weder glorifizierend noch verdammend, die Passion einer Schwangeren und ihrer Familie. Julia Jentsch gibt zwar an der Seite Bjarne Mädels zu Beginn einen schrecklichen Mario-Barth-Verschnitt, muss witzlose Witze berlinernd in ein Studiopublikum plärren, ist dann aber eine Mater Dolorosa von erschütterndem Format. Abtreibung heißt einen Menschen töten: Regisseurin Anne Zohra Berrached zeigt den Preis der Emanzipation vom Schicksal. Karl oder Moritz hätte das behinderte Kind heißen sollen.

Bosnien: „Mort à Sarajevo“

Das harte Problemstück blieb indes die Ausnahme, Poesie und Unterhaltung dominierten überraschend oft, etwa bei „Tod in Sarajevo“, „Genius“, „Die Kommune“, „Neuigkeiten vom Planeten Mars“ oder „Mit 17 Jahren“. Die europäische Erinnerungsfeier hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 durch das Attentat von Sarajevo gibt in „Mort à Sarajevo“ von Danis Tanović den Rahmen für eine allegorische Hotelburleske. Nicht der Krieg, keine Behinderung, sondern die Geschichte ist das Schicksal im noch immer siedenden balkanischen Vielvölkerkessel, der selten mit soviel Witz und Lakonie gezeigt wurde.

USA: „Genius“


Thomas Clayton Wolfe hingegen, in Michael Grandages Spielfilmdebüt „Genius“ von Jude Law furios angelegt als kindlicher Großkotz, maßlos wie zuvor Frontberichterstatter António, muss schreiben, wo er steht und geht, stets schreiben, Tausende Worte am Tag. Buchstaben sind sein Schicksal. Dank Lektor Max Perkins (Colin Frith) wird er endlich auch gedruckt. „Genius“ ist Hollywoodkino vom Feinsten, jede Einstellung taugt zur Postkarte, jeder Ton hat einen Zweck – das schnurrt und funktioniert sehr gut und ist mit jeder Pore auf Überwältigung angelegt und macht gerade deshalb großen Spaß beim Zuschauen.

Frankreich: „Des nouvelles de la planète Mars“


Unprätentiöser kommt daher und ist doch ein Ärgernis, was Thomas Vinterberg mit der Geschichte einer dänischen Kommune in den 1970er Jahren uns auftischen will: Liebenswerte, erstaunlich unpolitische Chaoten leben zusammen in einer 450 Quadratmeter großen Villa, deren Luft zu brennen beginnt, als Lehrer Erik seine studentische Freundin Emma mitbringt, zum Verdruss von Ehefrau Anna. Ach nö, mag man denken, freie Liebe hat ihre Tücken, schau an, da vermochte selbst Guru Sia Bada aus indischer Ferne nichts auszurichten. Anna wird Erik dann verlieren, irgendwie. Ein ähnlich großes Gewese um eine kleine Geschichte macht der deutsche Regisseur Dominik Moll, doch „Des nouvelles de la planète Mars“ hat die nötige Prise Wahnsinn, um die Erzählung vom netten Mann und Vater Philippe Mars, der ob seiner Nettigkeit stets ausgenutzt wird, auf die Höhen der Groteske zu heben. Aus dem Jenseits melden sich Philippes Eltern lächelnd zu Wort, ein psychisch labiler Kollege wird Freund, die Tochter hält den Vater für keinen „Loser“ mehr, und Philippe träumt sich unverdrossen ins Weltall, Raumanzug inklusive. Herr Mars fliegt zum Mars, wir werden ihn nicht vergessen.

Frankreich: „Mit 17 Jahren“


Das französische Kino beherrscht auch deshalb die europäische Filmlandschaft, weil das Schwierigste überhaupt ihm unfassbar leicht von der Hand geht: die Zeichnung glaubhafter Charaktere. Wenige Augenblicke, knappe Dialoge genügen auch Regiealtmeister André Techine in „Mit 17 Jahren“, um die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Schulklassenkameraden zum Drama des Reifens zu weiten. Zwei Männer im Werden, zwei Mütter, zwei Väter und natürlich der obligatorische Wald, aufgehübscht durch Berge, Seen, Kühe: mehr braucht es nicht, um zwei kurzweilige Stunden lang dem Verrinnen eines Jahres zuzuschauen, das die Regie in drei Trimester unterteilt und das bei allen Protagonisten Epoche macht. So war das, als wir dachten, das Leben hätte uns einen Platz angewiesen. Dabei spielt es Verstecken mit uns.

Die Flop-Filme


Die großen Enttäuschungen im Wettbewerb hießen „Alone in Berlin“, eine Nazischnurre nach Hans Fallada mit der Requisite in der Haupt- und Daniel Brühl in einer Nebenrolle, „Soy Nero“ und „Boris sans Béatrice“. Die große, die preiswürdige Überraschung stammt hingegen aus Tunesien. Das als politisches Werk zur Grenzenproblematik am Beispiel des Zauns zwischen Kalifornien und Mexiko angekündigte Filmlein „Ich bin Nero“ entpuppte sich als Rohrkrepierer von Brudergeschichte mit aufgesetzt brachialem Ende, während das wirre Langweilertum von „Boris ohne Béatrice“ in einem solchen Wettbewerb nichts zu suchen hat. Immerhin reihte sich der egomane Titelheld in die Armada der Männer in Wäldern ein, wenn er dort joggt und seinen Hochleistungskörper stählt. Auch beim Schießen und beim Autorennen sind dem schlussendlich zur Fürsorge für die kranke Ehefrau Beatrice wundersam geläuterten Macho keine Männervergnügungen fremd. Dem pseudotiefsinnigen Drehbuch hilft jedoch kein Sport auf die Sprünge.

Tunesien: „Hedi“


Welch großer Ernst spricht hingegen aus „Hedi“. Der Titelheld ist ein tunesischer Antoine Doinel. Regisseur Mohamed Ben Attia begibt sich auf Truffauts Spuren mit seiner bitterzarten Adoleszenzgeschichte vor dem Hintergrund der Arabellion. Spielte sie in Frankreich, hieße sie „Einige Tage am Strand“. Dorthin zieht es den orientierungslosen Autovertreter Hedi, einen Mann von 25 Jahren. Am Ende kam er kaum vom Fleck und hat sich doch von Grund auf geändert. Sein Leben wird kommen, wenn der Abspann sich lichtet. Ein kleiner, ein in seiner Kleinheit großer, ein engagierter Beitrag, der die Universalien unseres Menschseins am Beispiel von Tunesien herzzerreißend, seelenerwärmend ausbuchstabiert.

„The End“ mit Gérard Depardieu


Jenseits des Wettbewerbs wurde an Männern, Wäldern, Buchstaben auch nicht gespart. Gérard Depardieu war in einem der beiden Filme, in denen sein unfassbar dicker Körper die Hauptfigur darstellte, ein giftgrün gekleideter Riesenzwerg, der vom Waldweg abkommt. „The End“ hieß die filmische Meditation von Guillaume Nicloux, Gruselmomente inbegriffen. In der Hauptsache aber war da ein zunehmend verzweifelter Mann zu sehen, dem die Zivilisation verloren ging, der Schnecken aß und Skorpione verfolgte, bis er den ganzen Wald für eine Attrappe aus gefälschten Bäumen hielt. Womit ein Problem aller Kunst aufs Dinglichste konkretisiert wäre: Irrealisiert unsere Einbildung die Welt – oder macht die Welt unsere Einbildungen real?

Deutsche können selten Drehbücher schreiben


In „Liebmann“ hingegen, einem typischen deutschen Problemfilm, findet der eigentlich wunderbare Godehard Giese als traumatisierter schwuler Lehrer ein Gewehr in den nordfranzösischen Wäldern, wo justament… Doch schweigen wir. Jeder weitere Buchstabe wäre zu viel der Ehre für einen Schnarchfilm, der einmal mehr zeigte, dass die Deutschen keine Essensszenen drehen können – selbst wenn sie in Frankreich spielen –, und dass das Handwerk des Drehbuchschreibens unter Teutonias karger Sonne selten gedeiht. Dann lieber das kurzweilige Porträt einer Hannoveraner Schauspielschule im Aufnahmeritus, „Die Prüfung“. Dokumentarfilmer Till Harms gelingt es, die bewundernswerte Leidenschaft der Eleven ebenso zu durchdringen wie die knorzige Direktheit der Lehrer und so zwei Generationen zu porträtieren, deren eine über die andere den tiefen Satz ausspricht: „Wir suchen hier nach den Überlebenden des Schulsystems.“

Wie also war nun der 2016er Jahrgang der Berlinale? Süffig im Abgang oder ganz ohne Nachhall? Das Fenster zur Welt war erstaunlich oft ein Fenster nach innen. Die Scheiben der Seele zeigten sich beschlagen, die Filme mühten sich um Einblick. Es war eine Berlinale, die nahe am Wald und damit am unverfügbar Natürlichen als Drohung und Lockung gebaut hatte, eine Berlinale, in deren Spielfilmen oft der männliche Blick vorherrschte, erstaunlich abermals – und der Blick auf Buchstaben, Texte, Literatur. Die Fremdheit im Universum, das kein Kosmos mehr ist, diese Grundbedingung der Moderne, fand oft berührend und nur manchmal abgeschmackt zum Bild. China, Portugal und Tunesien gaben dem Rad der Bilder neue Schwungkraft, entwarfen eine Poetik des zweiten Schauens. Es wäre fatal und falsch, sollte keiner dieser drei herausragenden Filme mit einem Preis bedacht werden. Doch wahr sind nur die Träume, die wir hatten, auch dieses Jahr, auch immer.

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