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Willkommenskultur in Deutschland - Die Zivilgesellschaft verschafft der Politik eine Atempause

Die Zivilgesellschaft zeigt sich solidarisch mit den Flüchtlingen und wird beim Widerstand gegen Rechtsradikale kreativer. Bürger sammeln Spenden und versorgen Bedürftige vor Ort. Partizipation ist in und die Erfolge sind überwältigend. Der Politik soll es eine Lehrstunde sein

Autoreninfo

Johannes von Dohnanyi besuchte die Odenwaldschule in den 60er Jahren. Als Auslandskorrespondent arbeitete er für den Stern, die Zeit und die ARD

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Um 17.38 Uhr des vergangenen Montags verschlug es Petra Hamacher die Sprache. „Haltet bitte mal inne!“, schrieb die Bloggerin an die Mitglieder der Gruppe „Blogger für Flüchtlinge“. Jeder sollte sich mal einen Schnaps, Tee oder Kaffee nehmen: „Soeben sind 20.000 Euro als Spende eingegangen. Und jetzt: Jubel!!!“

So berechtigt Hamachers Jubelschrei über den fünfstelligen Geldbetrag war, das eigentliche Wunder ist das ununterbrochene Klingeln in der Spendenkasse der „Blogger für Flüchtlinge“. Viele zehn Euro hier, fünfzig oder auch hundert da, zweimal waren es sogar satte Fünftausend: Bis zum Ende der Woche könnte die 100.000-Euro-Marke geknackt sein. Und dabei, staunt Paul Huizing, der Berliner Initiator der Sammelaktion, „fangen wir gerade erst richtig an.“

So funktioniert das „helle Deutschland“, wie Bundespräsident Joachim Gauck den rasant wachsenden Teil der Bevölkerung nannte, der sich nicht nur der unerträglichen Unanständigkeit der „besorgten Bürger“, der Rechtsextremisten und Neonazis entgegenstellt, sondern immer öfter auch konkrete und eigentlich vom Staat zu leistende Aufgaben in der Flüchtlingshilfe übernimmt: Der Berliner Paul Huizing fragt die Bloggerfreunde, ob sie ihm helfen würden, im Internet eine 4.000-Euro-Spende für den Flüchtlingsverein „Moabit hilft“ zu sammeln. Literaturbloggerin Karla Paul, der Foodblogger Stevan Paul und der Polit- und Medienblogger Nico Lumma sagen prompt zu. Das Spendenkonto ist mit wenigen Klicks eingerichtet, die Information in den Communities gestreut. Schon fließt der Eurostrom.

Freiwillige setzen sich gegen dumme Randerscheinungen durch
 

Knapp zwei Wochen später ist aus Huizings Idee, den Hetzern nicht mit Internetempörung, sondern mit konkreten und vor allem positiven Aktionen entgegen zu treten, eine regelrechte Bewegung geworden. Inzwischen sind es mehr als zwanzig, quer über die Republik verteilte Hilfsorganisationen und Stiftungen, denen die Blogger mit insgesamt 83.000 Euro unter die Arme gegriffen haben. Allein in der Zeit, die es für diesen Artikel brauchte, wurden neue Spenden in Höhe von fast 2.000 Euro registriert. Inzwischen sei ihm und seinen Mitstreitern klar geworden, dass sie keine Eintagsfliege in die Welt gesetzt haben, begeistert sich Initiator Huizing: „Quasi über Nacht sind wir zu Fundraisern geworden.“

Am Ende eines hässlichen Sommers, der von Bildern brennender Asylbewerberheime, geifernden und gewaltbereiten Neonazis geprägt war, verändert sich das Land. Die junge Frau, die Angela Merkel im sächsischen Freital vor laufender Kamera mit dem hasserfüllten Kreischer „Du Fotze“ begrüßte, ist plötzlich nicht mehr als eine dumme, peinliche Randerscheinung. Statt der Molotow-schmeißenden Glatzen und ihren Drahtziehern von der NPD und dem „Dritten Weg“ haben die Medien auf einmal ganze Scharen Freiwilliger entdeckt, die sich um die Versorgung der Flüchtlinge kümmern und die sich spontan mit Wasser und Brezeln zur Begrüßung der aus Serbien und Ungarn ankommenden Fremden aufmachen. Ohne die Freiwilligen ginge hier gar nichts mehr, heißt es beim Klinikkonzern Vivantes, der vom Berliner Senat mit der Versorgung der Lageso-Flüchtlinge beauftragt worden ist.

Doch die immer wieder gezeigten Bilder aus den deutschen Großstädten sind nicht mehr als die Spitze eines gewaltigen Solidaritätsberges, der da praktisch über Nacht und scheinbar aus dem Nichts entstanden ist. Ob „Refugees Welcome“ im Hamburger Karoviertel oder Hilfsgruppen in Krefeld, Aalen und Wolfhagen – überall im Land scheint sich nicht nur eine Willkommens-, sondern auch eine gesunde Erinnerungskultur zu etablieren. Die Erinnerung an Zeiten, in denen Millionen von deutschen Armutsflüchtlingen ihre Heimat verließen, Hunderttausende auf der Flucht vor den Nazis jenseits der deutschen Grenzen Schutz erfuhren und deutsche Vertriebene aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg in der jungen westdeutschen Ruinenrepublik aufgenommen wurden. Trotz aller und teilweise berechtigter Sorgen, welche Auswirkungen die Ankunft von so vielen Fremden aus anderen Kulturen auf das Wohlstandskonstrukt in Deutschland haben könnten, wächst doch aus der Erinnerung ein Gefühl der Pflicht zur Solidarität mit denen, die da jetzt über unsere Grenzen strömen.

Kein neues Phänomen
 

Auf einmal zeigt das Internet, dass es auch etwas Anders als Hetze kann. Dass es eine Plattform ist für die Zivilgesellschaft, die nicht über vermeintliche Benachteiligungen oder fehlende Partizipationsofferten klagt, sondern die sich aus eigenem Antrieb mobilisiert und positive Zeichen setzt. Die Signale gelten nicht zuletzt der Politik, die den ganzen hässlichen Sommer über verzagt und verloren schien. Die mit den „besorgten Bürgern“ selbst dann noch den Dialog suchte, als die Asylbewerberheime schon brannten und die braunen Rattenfänger bei Facebook offen von der „Wiedereröffnung von Auschwitz und Dachau“ delirierten.

Auch wenn es wohl stimmt, dass die Flüchtlingszahlen, die mittlerweile für dieses Jahr genannt werden, in dieser Höhe kaum vorhersehbar waren, die Naivität der politischen Entscheidungsträger lässt einen schaudern. Die Toten im Mittelmeer mögen 2015 noch einmal dramatisch gestiegen sein. Neu ist das Phänomen ebenso wenig wie die seit Jahren menschenunwürdige Behandlung von Flüchtlingen in Griechenland und Italien oder die Verschläge derjenigen, die vor dem Eingang zum Eurotunnel in Calais auf eine Fluchtchance nach Großbritannien warten. Jeder, der die Flüchtlingskolonnen als unvorhersehbare Kalamität oder gar als biblische Plage beschreibt, sei an den vor rund 20 Jahren von der BBC produzierten Film The March erinnert: Eines Tages musste es so kommen.

Und dieser Tag ist jetzt gekommen!

Ein deutsches Einwanderungsgesetz für eine helle Zukunft
 

Es sind Menschen wie Paul Huizing und seine Freunde, die der Politik jetzt noch einmal eine Atempause verschafft haben. Da, wo der Staat bei den elementarsten Aufgaben der Solidarität so eklatant versagt hat, sind sie mit ihrem Engagement eingesprungen. Es ist die Zivilgesellschaft, die die bislang eher hohle Politsprechphrase von der deutschen Willkommenskultur mit Sinn und Leben füllt.

Doch diesem hellen Deutschland jetzt Strukturen und Leitplanken zu geben, die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen und endlich – auf nationaler sowie europäischer Ebene – diese Aufgabe kann nur die Politik leisten. Die Frage kann nicht mehr sein, ob, sondern wann es ein deutsches Einwanderungsgesetz gibt. Nicht ob, sondern wie und wann es endlich gelingt, die Menschen im westlichen Balkan und anderen Armutsregionen nachhaltig beim Kampf gegen die endemische Korruption zu unterstützen, damit es wieder wirtschaftliche Entwicklung geben kann. Nicht ob, sondern wann die europäischen Partnern zum Prinzip der Solidarität zurückkehren. 

Nur wenn es der Politik gelingt, diese ihr von der Zivilgesellschaft verschaffte Atempause nicht mit sinnlosen Streitereien in Talkshows zu vergeuden, sondern sie zur Entwicklung langfristig angelegter Konzepte zu nutzen, wird das neue helle Deutschland auch in Zukunft leuchten.

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