- Überprüfen Sie Ihren ökologischen Fußabdruck
Wie es Margaret Atwood gelingt, einen so spannenden wie komischen Roman über den Untergang der Menschheit zu schreiben.
Früher war alles besser, selbst die Weltuntergänge sahen anders aus: «Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei. / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut …» Ziemlich genau hundert Jahre nach Jakob van Hoddis’ Gedicht «Weltende» bietet der neue Roman von Margaret Atwood tatsächlich ein anderes, ein in jedem Sinne entwickelteres Bild. Nicht nur «Welcher Hut?», «Welcher Bürger?», möchte der Leser fragen, wenn «Das Jahr der Flut» mit einer Szenerie beginnt, deren erste Auffälligkeit akustischer Natur ist: lastende, schwärende Stille. Nur Spatzen lassen von Zeit zu Zeit ihr spitzes Tschilpen hören, während auf einer Wasserkraftanlage Geier ihre Flügel dehnen, um sie in der aufgehenden Sonne zu trocknen – neben der Stille ist auch Nässe hier allgegenwärtig.
Die finale Katastrophe nämlich hat bereits stattgefunden. Und was der Dichter des «Weltendes» noch als dessen eigentliches Ereignis sah: heranstürmende Fluten, berstende Dämme, ohrenbetäubendes Schreien und Krachen, gehört im «Jahr der Flut» der Vorgeschichte an – einer Entwicklung, die sich, stetig und scheinbar unaufhaltsam, über den Zeitraum eines Vierteljahrhunderts hinweg vollzogen hat. Im Stadium des vollendeten Klimawandels gehören Stürme und Unwetter nun zum regulären Tagesablauf, vor der ungefiltert herabbrennenden Sonne schützen die Menschen sich seit langem schon mit speziellen Umhängen und Kopfbedeckungen, die die UV-Strahlen abhalten sollen.
Doch welche Menschen eigentlich? Autowracks liegen herum, Überreste verrenkter Körper. Verlassene Gebäude werden von rasch wachsenden Pflanzen überwuchert, Herden genetisch mutierter Tiere marodieren im Gelände, und über alles fahren Stürme, Gewitter und Regenströme hinweg, bevor sie wie auf ein Signal wieder versiegen – bis zum nächsten Nachmittag. Die im Titel des Buches angekündigte «Flut», so beginnt der Leser zu ahnen, muss die Menschen selbst betroffen haben, nachdem sie ihre Umwelt derart her-, richtiger: hingerichtet hatten.
Alte und neue Menschenrassen
Margaret Atwood, soeben siebzig Jahre alt geworden, Autorin eines enormen Œuvres und Daueranwärterin auf den Literatur-Nobelpreis, schreibt mit ihrem jüngsten Roman gleichsam die Geschichte unserer Gegenwart zu Ende. Und viel an Zutaten mutwilliger Phantasie scheint es da auf den ersten Blick auch gar nicht zu brauchen – vorausgesetzt, man ist, wie die Autorin, auf der Höhe der Ergebnisse von Gen- und Klimaforschung: Wer sich die Reichweite der Eingriffe in natürliche Prozesse vergegenwärtigt, kann sich leicht ausmalen, was daraus für das menschliche Leben auf diesem Planeten folgen wird. Margaret Atwood allerdings tut im «Jahr der Flut» den entscheidenden Schritt über solche Katastrophen-Szenarien hinaus: Sie will wissen, wie die Menschen selbst auf die Wirkung ihrer grandiosen Erfindungen reagieren werden, als Einzelne wie im Kollektiv. Und so entwirft sie nicht nur ein bewegtes Panorama denaturierter Natur und brandgefährlicher Menschenphantasien – sie erzählt vor allem von gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie auch uns in nicht zu ferner Zukunft erwarten könnten. «Das Jahr der Flut»: ein Gesellschaftsroman.
Und der könnte eine wahrhaft düstere, freudlose Angelegenheit werden, doch ist hier seltsamerweise genau das Gegenteil der Fall. Nicht nur leuchten die genmanipulierten «Mo’Hair»-Schafe in allen erdenklichen (und verarbeitungsfreundlichen) Farben, nicht nur sind die transgenen Angora-Kaninchen in niedlichem Hellgrün gehalten und dient der «Wakunk», eine possierliche Kreuzung aus Waschbär und Skunk, als Haus- und Kuscheltier. Auch die Vertreter der menschlichen Spezies repräsentieren ein breites Spektrum äußerer wie innerer Ausstattungen.
Die Skala reicht von der ökologisch-spirituellen Sekte der «Gottesgärtner» mit ihren höchst unterschiedlichen Mitgliedern über soziopathische Bösewichte, die nur ihren niedersten Instinkten folgen (und daher in sogenannten «Painball»-Straflagern als Gladiatoren des späten dritten Jahrtausends zur Volksbelustigung aufeinandergehetzt werden), bis hin zu einem moralisch entgleisten Genie der Genforschung. Nicht zuletzt aber gibt es da auch noch eine aus allerhand Persönlichkeitsmerkmalen und Hautfarben zusammengeklonte neue Menschenrasse, die dieser Forschung entsprossen ist. Nach vollstreckter Katastrophe lebt der kleine Stamm friedvoll, grünäugig und mit im Zustand sexueller Erregung sich satt blau verfärbenden Geschlechtsorganen am Küstengestade.
Was kann an einem rosa Handy schlimm sein?
Mit diesem Personal arbeitet Margaret Atwood freilich nicht zum ersten Mal: «Das Jahr der Flut» erzählt die Komplementär-Geschichte zu ihrem Roman «Oryx und Crake» aus dem Jahr 2003 und beleuchtet den allmählichen Fortgang des (Beinahe-)Untergangs der Menschheit nun aus einem anderen Blickwinkel. Standen im Vorgängerbuch mit Oryx (einer einstigen Kinderprostituierten, die unwissentlich zur Vollstreckerin des Zerstörungsprojekts wird) und ihrem Geliebten, dem Genetik-Genie Crake, die Täter im Vordergrund, so zeichnet «Das Jahr der Flut» die Gegenbewegung zur Verheerungspolitik nach.
Protagonisten sind jetzt die «Gottesgärtner», jene Ökosekte, deren Mitglieder davon ausgehen, dass genetische und klimatische Veränderungen sich massiv auch auf das Zusammenleben der Menschen auswirken werden. Die «Gärtner» machen sich dabei nicht etwa durch Aufklärungskampagnen bemerkbar. Sie erregen Aufmerksamkeit für ihre spirituell begründete Lehre allein durch ihre Lebensweise: eine zurückgezogene Existenz in aufgegebenen Gebäuden, die auf der Erzeugung von Naturprodukten und einer teilweise skurril anmutenden Resteverwertungs-Wirtschaft beruht. Am aggressiven Konsumleben in den «Plebse» genannten Wohnbezirken der Normalbürger nehmen sie nicht teil – was besonders den Kindern zeitweilig zu schaffen macht: Was kann denn an einem rosaroten Handy so schlimm sein?
Die vegetarisch-pazifistische Lebensform zieht erst Unterdrückungs-, dann Verbots- und Verfolgungsmaßnahmen der alles beherrschenden Konzerne auf sich: Sie hetzen den «Gärtnern» die private Polizeitruppe «CorpsECorpse» auf den Hals. Doch wird gerade die jahrzehntelange Einübung in ein auf Natur-Vorkommen basierendes Leben wenigstens einigen der Aussteiger am Ende das Leben retten.
Showdown mit «Painballern»
Hochentwickelte Intelligenz und langfristige Strategien können, wie Atwood zeigt, gleichermaßen zum Guten wie zum Katastrophalen ausschlagen. Aufklärung ist eine zwar notwendige, jedoch keinesfalls hinreichende Bedingung für das Überleben der Gattung Mensch – alles kommt auf die Lebenspraxis selbst an, die sich auf einen aus früheren Jahrhunderten tradierten Umgang mit der Natur, auf die kreative Verwendung des Vorfindlichen, nicht zuletzt aber auf unbedingte gegenseitige Hilfe gründet. Was im Roman lange als ein Häuflein religiös behauchter Naturfreunde erscheint, die mit den Bienen reden, ihre eigenen Gesundheits-Elixiere mischen und erbauliche Gesänge anstimmen, bildet so eine selbst im Untergrund noch funktionierende Gegenmacht – Ökologie ist ihr Überlebenswissen, eine klar definierte Hierarchie von «Adam Eins» bis «Eva Zwölf» ihr organisatorisches Rückgrat. Grundlage des Erfolgs allerdings sind letztlich die individuellen Begabungen und Kenntnisse der Einzelnen – und ihr produktiver Eigensinn.
Das scheinbar Naive und Rückwärtsgewandte entpuppt sich damit am Ende als das triftigere Denken, dem unter bestimmten Umständen auch Gewaltanwendung zu Hilfe kommen darf. Die «Gottesgärtner», die ein Leben führen wie die ersten Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies, finden sich daher schließlich auch unter den letzten wieder. Freilich sind sie durchaus nicht die Einzigen, die nach der finalen Pandemie noch am Leben sind. Bis zum dramatischen Showdown konfrontiert Atwood ihre beiden Heldinnen Toby und Ren mit einem «Painballer»-Trupp, dessen brutale Überraschungs-Aktionen die Spannung immer wieder neu anheizen.
Die dritte Überlebendengruppe aber bilden die neuen Menschen, die eigens konstruiert wurden, um nach dem Untergang der alten Rasse übrig zu bleiben. Auch ihrer werden sich Toby, Ren und ihre Sektengenossen annehmen müssen, denn nur bedingt sind die freundlichen Mutanten, auf sich gestellt, lebensfähig: Ihnen muss die Welt erst noch erklärt werden. Und auch hier bleibt Margaret Atwood ganz realistische Ironikerin: Früh schon zeigt der Stamm das Bedürfnis, ein höheres Wesen zu verehren, Fetische anzubeten und einem Anführer zu folgen; soll sich die Phylogenese nicht unter klimatisch verschärften Bedingungen wiederholen, werden Toby, Ren und ihr Freund Zeb noch eine Menge zu tun haben.
Du musst dein Leben ändern
Eine ziemlich schwarze Geschichte ist dies also eigentlich, mit einem Happy End allenfalls unter erheblichen Einschränkungen. Und doch ist «Das Jahr der Flut» ein Pageturner von Graden, mit komödiantischen Zügen und stetigen Perspektivwechseln: Mal fällt der Blick auf die kluge und eigenbrötlerische Toby, dann wieder berichtet die naive Ren, zu Anfang der Großkapitel erklingen die Lieder der «Gottesgärtner», dann folgt der Leser den kuriosen Predigten von «Adam Eins», bevor er in das Rekreationszentrum der Besserbetuchten, «AnuYu», oder in ein Luxus-Etablissement des Sex-Konzerns «Scales and Tails» geführt wird – der Erfindungslust und dem sarkastischen Witz von Margaret Atwood scheinen keine Grenzen gesetzt, und von sauertöpfischer Verbissenheit, wie sie gerade ökologischen Weltverbesserern gern nachgesagt wird, findet sich hier keine Spur.
Dabei ist alles ohne Zweifel ernst gemeint – und soll Konsequenzen auch jenseits des Romans haben. Auf der Website www.jahrderflut.de finden sich nicht nur alle Veranstaltungen zum Buch, man kann überdies die vertonten «Gottesgärtner»-Lieder herunterladen, T-Shirts und Tragetaschen bestellen und sich bei alledem sicher sein, dass der Erlös Umweltorganisationen zugutekommt. Und wer noch bezweifelt, dass sein eigener konkreter Umwelt-Beitrag geboten ist, sollte auf der Seite einmal seinen «ökologischen Fußabdruck» berechnen. Danach ist alle Abwehr vergebens: Du musst dein Leben ändern.
Margaret Atwood
Das Jahr der Flut
Berlin Verlag, Berlin 2009. 478 S., 22 €
Das Jahr der Flut. Hörbuch
Gesprochen von Julia Nachtmann, Regina Lemnitz und Jürgen Ufer.
GoyaLIT, Hamburg 2009. 6 CDs, 27,99 €
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