- Die Hypothek der Geschichte
Der ganz normale Wahnsinn in Wien: Zu neuen Romanen von Eva Menasse, Peter Rosei und Gerhard Roth
«Wien schweigt» – mit diesen Worten schließt das erste Kapitel von Ingeborg Bachmanns «Malina»; «ein aussterbender Friedhof» sei diese Stadt, lässt sich bei Thomas Bernhard ein Nörgler vernehmen. Die literarische Diagnose über Wien nach 1945 fällt besorgniserregend aus. Peter Henischs «Der schwarze Peter» (2000) ist das erste Beispiel eines Stadtromans seit Heimito von Doderers «Dämonen» (1956), die allerdings nicht vom Wien der Gegenwart, sondern in der Zeit zwischen den Weltkriegen handeln. Aber auch Henischs Held resigniert: «Forget Austria! Forget Vienna!»
Die
österreichischen Autoren kamen meist aus der so genannten Provinz
und schrieben auch über diese, freilich nichts Gutes. Aber immerhin
ist sie doch – im Unterschied zur Hauptstadt – nicht nur
Schauplatz, sondern auch Stofflieferant, bestens geeignet, die
prägenden Anachronismen der Alpenrepublik exemplarisch zu
repräsentieren: Franz Innerhofers «Schöne Tage» (1974) ist
dafür das prägnanteste Beispiel.
Wenn nun drei Romane nahezu gleichzeitig erscheinen, in denen Wien nicht nur Schauplatz ist, sondern auch das zentrale Thema abgibt, so lässt dies doch auf einen fundamentalen Wandel schließen: Wien wird neu entdeckt, allerdings ist es nicht mehr die Stadt, die man etwas übermütig die Hauptstadt des Fin de Siècle nannte, sondern vielmehr eine Stadt, die unter der Hypothek der Geschichte erdrückt zu werden droht. Gerhard Roths «Das Labyrinth», Eva Menasses «Vienna» und Peter Roseis «Wien Metropolis» sind verbunden im Versuch, der wenig rühmlichen Rolle Wiens vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie den beklemmenden Langzeitfolgen des Ständestaates und der Nazi-Zeit epische Konturen zu verleihen.
Die Wiener Hofburg brennt
So unterschiedliche Temperamente sich in den Romanen
manifestieren, so sehr sind sie doch von der Geschichte dieser
Stadt abhängig. Gerhard Roth packt die Materie aus einem paradoxen
Ineinander von Weitwinkel-Perspektive und mikroskopischer
Detailsicht an. Er benötigt dazu auch mehrere Erzählfiguren. Am
meisten erfahren wir von dem Psychiater Heinrich Pollanzy, im
Roman
Direktor der Pflegeanstalt Gugging, deren Insassen bekanntlich von
Leo Navratil zu künstlerischer Arbeit angehalten wurden. Vernehmbar
werden auch die Erzählstimmen einer Logopädin namens Astrid Horak
und eines namenlos bleibenden Schriftstellers, dessen Programm eine
systematische Erkundung des Wahnsinns ist, der für ihn das große
Triebwerk aller historischen Prozesse darstellt. Als Beispielfigur
dient ihm der Historiker Philipp Stourzh, der durch die Gunst
Pollanzys in Gugging vom Patienten zum Pfleger wird. Stourzh leidet
an epileptischen Anfällen, die auf ein immer noch in seinem Kopf
steckendes Projektil aus einem Flobert-Gewehr zurückzuführen
sind.
Die eigentliche Handlung des Romans setzt mit einem Paukenschlag ein: Die Wiener Hofburg brennt, ein labyrinthischer Gebäudekomplex, in dem Pollanzy wohnt, in dem sich aber vor allem die National-bibliothek befindet und Österreichs historisches Gedächtnis seinen Sitz hat. Roth hat hier ein konkretes Ereignis aus dem Jahre 1992 in den fiktionalen Kontext verwoben, mehr noch: Als Brandstifter wird der pyromanisch veranlagte Stourzh verdächtigt, aber es kommt – wie meist bei Roth – zu keiner Aufklärung des Tatzusammenhangs.
Die Handlung folgt den Ambitionen des Historikers, dessen Interesse sich auf den letzten österreichischen Kaiser Karl I., den Nachfolger Franz Josephs, konzentriert, und das führt folgerichtig nach Madeira, nach Portugal und Spanien, das führt zum verstörten bayerischen König Ludwig, ferner in die Literaturgeschichte Portugals zu Fernando Pessoa und in die Kunstgeschichte Spaniens zu Velázquez und naturgemäß zu Goya, kurzum: Der österreichisch-spanische Kontext wird beschworen, und Roth flicht manchmal allzu bereitwillig kulturhistorische Exkurse ein und verzichtet auch nicht auf wuchernde Fußnoten. Um die Gegenwart zu erklären, nimmt er einen langen Anlauf in die Tiefe der Zeiten.
Verwirrung, Verbrechen und TrugMitunter scheint die Handlung ganz marginal zu werden, auch wenn es andererseits einen richtigen Aktions-Überschuss gibt. Die Episoden in einen Zusammenhang zu bringen, fällt schwer. Dabei ist an der Oberfläche alles klar, wir werden mit Details versorgt, doch erstickt in deren Fülle der übergeordnete Kontext – unmöglich, das Knäuel von Verwirrung, Verbrechen und Trug irgendwie aufzulösen. Aber gerade in dieser Verunsicherung liegt die Stärke des Buches; wir erhalten die Gewissheit, dass wir die Kräfte, von denen die Ereignisse bestimmt werden, nicht durchschauen können, ehe wir uns nicht konsequent dem Studium der Geschichte des Wahnsinns hingeben. Und wir sollten, so will es offenkundig der Autor, mit seinem Roman mittendrin in diesem Studium sein.
Roths Roman ist der fünfte eines auf sieben Teile angelegten Zyklus mit dem Obertitel «Orkus»: Das Odyssee-Konzept einer Unterweltsfahrt, die nicht zuletzt in die Archive Österreichs führt – ja es scheint, als würden sich gerade in der Wiener Hofburg die Wahnsinnslinien der Geschichte überschneiden.
Tratsch über Glücks- und Unglücksritter
Eva Menasses Roman «Vienna» verzichtet auf solch universalen
Anspruch, und doch erzählt auch sie von dem Wahn, in dem aus höchst
unterschiedlichen Gründen die Bewohner Wiens befangen sind. Es ist
eine Familiengeschichte, ausgehend von einem Großelternpaar, er
jüdisch, sie katholisch. Der Großvater überlebt die Nazi-Zeit in
Wien dank seiner Frau; die Kinder, eine Tochter und zwei
Söhne, verlassen Wien in Richtung Großbritannien. Die Tochter
stirbt im Exil an Tuberkulose, der ältere Sohn kämpft auf Seiten
der britischen Armee in Burma, der jüngere, noch ein Kind, entdeckt
in England seine Begabung als Fußballer. Beide kehren nach dem
Krieg nach Wien zurück und gründen ihrerseits Familien.
Die Tochter des Fußballers, der es zum österreichischen Nationalspieler bringt, ist die Ich-Erzählerin. Aus ihrer Perspektive erfahren wir von ihrer Familie, ihren Großeltern, der Großtante, ihrem Onkel, seinen beiden Frauen, seinen Kindern, den beiden Vettern, von ihrer Schwester und vor allem von ihrem Bruder. Der wird Historiker und sorgt mit einer Aufsehen erregenden Enthüllungsschrift über einen großen Nazi, der in der Zeit nach 1945 in Österreich Karriere machte, für einen veritablen Skandal. (Der reale Hintergrund: Hansi Menasse war einer der besten Fußballer in den fünfziger Jahren, als Österreich immerhin den dritten Platz bei der Weltmeisterschaft ergatterte, und sein Sohn Robert Menasse ist Schriftsteller und studierter Germanist, aber von einer Lektüre des Buches als Schlüsselroman wird abgeraten. Allerdings sind in Wien schon Dechiffrier-Syndikate unterwegs, die Fiktion von Realität zu trennen versuchen.)
Es ist eine Familiengeschichte, mit viel Witz erzählt, mit Sicherheit in der Platzierung von Pointen und der Verschränkung von Episoden, mit einer soliden Insider-Kenntnis des Mittelstandes und der Geschäftswelt, in der es mehr Unglücks- als Glücksritter gibt. Das sind nicht mehr die Salons, in denen sich die Schwierigen herumtreiben, das sind die Cafés, in denen mit Leidenschaft Bridge gespielt wird, und die Tennisplätze der Alt- und Neureichen. Aus der subtilen Konversation ist grobkörniger Tratsch geworden, und die Sprüche, die aus den Mündern der Protagonisten nur so sprudeln, zeugen von einem recht vitalen Biotop.
Bridge spielen, als wäre nichts gewesen
«Wer sich in Familie begibt, kommt darin um», ist ein weiser Satz Heimito von Doderers, und Weises vernimmt man auch von einem Vetter der Erzählerin: «Wir werden immer weniger Familie, je mehr wir versuchen, sie aus Geschichten und Anekdoten zu konstruieren.» Das schon von Hermann Broch spöttisch abgetane «Gschichtel-Erzählen» ist auch die Gefahr, die diesen Roman bedroht und der die Autorin meist, aber nicht immer entkommt. Zum anderen sind, um einer Familiengeschichte Umrisse zu geben, Anekdoten unverzichtbar, und wer das richtig zu lesen versteht, für den enthalten sie in diesem Roman auch sehr viel an lebendiger Information.
Das ist ein Buch über das Wien der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre – jenseits der simplen Verherrlichung des Wiederaufbaus und jenseits auch aller ebenso simplen Verurteilung des üblen Nachkriegs-Miefs, eines Wien mit seinen oft unerträglichen und uns heute auch unverständlichen Widersprüchen: Opfer und Täter – Ingeborg Bachmann hat sich schon 1960 darüber entsetzt – sitzen in Eintracht nebeneinander. «Und nachher haben sie alle wieder Bridge gespielt, als wäre nichts gewesen», heißt es in «Vienna».
Erfreulich, weil selten anzutreffen: Das Buch wird gegen Ende immer dichter, und als Finale hat die Autorin das Begräbnis des Großvaters gewählt, auch wenn es in der Chronologie der Ereignisse dort gar nicht stehen sollte. Da werden die Protagonisten noch einmal wie in einem guten Film vorgeführt, und wir dürfen einzelweise von ihnen Abschied nehmen, ein ansprechendes Panorama, das zum Abschied Übersichtlichkeit herstellt.
Wie Peter Rosei die Leser bei Laune hält
«Wien Metropolis» nennt Peter Rosei seinen Roman, der die Hauptstadt mit einem Attribut ausstattet, das ihr selten zuteil wird, ist sie doch um «einiges kleiner als alle anderen größten Städte der Welt» (Robert Musil). Wien hätte nie das Substrat für einen Roman wie Döblins «Berlin Alexanderplatz» abgeben können, und so kann man Roseis Titel «Wien Metropolis» als ironische Auszeichnung lesen. Da herrscht nicht das Chaos, sondern eine durch die Regie des Erzählers behutsam hergestellte Übersichtlichkeit. Das Milieu ist dem «Vienna» Eva Menasses nicht unähnlich; da gibt es Geschäftsleute und Zuwanderer, Professoren verschiedener Fakultäten, ein wenig Jeunesse dorée, noch weniger Proletarisches; es gibt viel an sehr illusionslos dargestellten Beziehungen mit mehr oder weniger Liebe, zarte Andeutungen der erotischen und politischen Irrwege, die nahezu alle einmal einschlugen, es gibt auch Unfälle und Verbrechen und vor allem den normalen Wahnsinn seiner Bewohner, kurzum: Man wird als Leser stets bei Laune gehalten, fühlt sich so gut wie nie indoktriniert oder provoziert, nie wird der Zeigefinger erhoben und Moral doziert.
Das Buch wird gerade dadurch sympathisch, dass es sich der ethischen und ästhetischen Klischees entschlägt und einfachen Zuordnungen entzieht. Einige Figuren verliert man aus den Augen, manche für immer, manche kehren unvermutet wieder. Zeitweilig werden Anleihen beim Entwicklungsroman genommen; da geht es um die Kärntner Knaben Alfred und Georg, deren Lebenswege sich trennen und die beide ihre Karriere machen. Unverkennbar ist eine satirische Grundhaltung, die nie zu peinlicher Spaßigkeit mutiert. Nicht selten wird auch mit wenigen Sätzen sehr eindrücklich Atmosphäre hergestellt. Wer eine kompakte Handlung erwartet, wird auf angenehme Weise enttäuscht; und doch entsteht zwischen den einzelnen Episoden ein delikates Beziehungsgeflecht, das den mitdenkenden Leser beansprucht, aber nicht überfordert.
Handlungszeitraum ist die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg bis
in die jüngere, ja jüngste Vergangenheit. Aber auch hier wird die
streng chronologische Abfolge flanierend umspielt, ja manche
Abschnitte lesen sich wie Märchen, in denen die Zeit stillsteht. In
diesem Buch, vielleicht das bis jetzt beste Roseis, hat der Autor
ein ebenso eigenwilliges wie charmantes Verfahren gefunden, der
Besonderheit Wiens gerecht zu werden – und das ist nur möglich,
wenn man die Klischees mit Bedacht abbaut.
Die drei Bücher beweisen das wiedererwachte erzählerische und auch analytische Interesse an Wien in der schönen Literatur. Gegen Ende seines Romans lässt Rosei eine Figur auftreten, einen Nörgler aus der Provinz, in dem man sofort Thomas Bernhard erkennt; zudem heißt er Berner und ist der Mode-Autor der besseren Gesellschaft. Das ist die einzige geschmäcklerische Konzession, aber vielleicht doch ein Indiz dafür, dass Bernhard einer jener Autoren war, die den «aussterbenden Friedhof» wieder interessant machen konnten.
Wendelin Schmidt-Dengler ist Professor für Literaturwissenschaft und lebt in Wien.
Gerhard Roth
Das Labyrinth. Roman
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2005. 486 S., 19,90 €
Eva Menasse
Vienna. Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 432 S., 19,90 €
Peter Rosei
Wien Metropolis. Roman
Klett-Cotta, Stuttgart 2005. 253 S., 18,50 €
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