Klimaproteste - „Frau Neubauer weiß nicht, wie ein Rechtsstaat funktioniert“

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul verteidigt den Polizeieinsatz in Lützerath – und greift die Klimaaktivisten für ihr mangelndes Verständnis des Rechtsstaats an. Zugleich lobt er den Realismus der Grünen in der Landesregierung.

Aktivisten blockieren Bahnschienen zum RWE-Braunkohlekraftwerk Neurath II. in Nordrhein-Westfalen / dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Herbert Reul (CDU) ist seit 2017 Innenminister von Nordrhein-Westfalen.

Herr Reul, nach der Räumung von Lützerath beruhigt sich die Lage offenbar noch nicht. Wie ist Ihre Bilanz der Tage danach?

Die Bilanz lautet: Einige Aktivisten machen auch nach der Räumung an unterschiedlichen Orten einfach munter weiter. Das überrascht mich nicht, das war zu erwarten. Aber mich regt auf, dass offensichtlich da eine Gruppe in der Gesellschaft unterwegs ist, die nicht weiß, was Demokratie und was demokratischer Rechtsstaat heißt. Bei uns gibt es Politiker, die treffen Entscheidungen, die können von Gerichten überprüft werden. Aber das müssen alle respektieren, sonst können wir nicht in Frieden in einer Gesellschaft zusammenleben. Mich regt auf, dass es immer mehr Gruppen gibt, die für sich herausnehmen, immer Recht zu haben. Diesen eigenen Absolutheitsanspruch wollen sie dann auf eigene Faust durchsetzen.

Was folgt denn aus dieser Erkenntnis?

Es geht nicht nur um Nebensächlichkeiten, das ist meine Erkenntnis dieser Tage. Weil es um die grundsätzliche Frage unseres Zusammenlebens geht, ist es so wichtig, dass sich der Rechtsstaat hier klar durchsetzt. Es geht hier nicht um einzelne Paragrafen oder Abwägungen, das ist vollkommen verkürzt. Es geht um die Frage, ob wir es zulassen, dass es Bereiche in unserem Staat gibt, wo Gesetze nicht gelten und jeder machen kann, was er will. Und diese Grundsatzfrage müssen wir zugunsten unserer Ordnung entscheiden, egal ob es um radikalisierte Klimaaktivisten geht oder um kriminelle Clanmitglieder oder um Rechtsextremisten. Wir wenden die Gesetze an, für alle gleich.

Wie konnte es denn dann zu dieser Eskalation in Lützerath kommen? Es gab eine genehmigte Demonstration, auch das gehört zu unserer Demokratie?

Hier liegt genau meine große persönliche Enttäuschung. Ich finde es besonders toll, wenn junge Leute sich engagieren. Ich finde es toll, dass junge Leute nicht nur Party, sondern Politik machen und auch richtig vehement kämpfen für ihre Überzeugungen, die nicht meine sein müssen. Das ist total in Ordnung. Aber erst Absprachen mit uns treffen und dann zum Gegenteil aufrufen, das finde ich erschreckend und das hat mich fassungslos gemacht. Wir hätten ja das ganze Problem in Lützerath nicht gehabt, wenn alle Gruppen sich an das gehalten hätten, was verabredet war. Nicht einige wenige oder hunderte, sondern Tausende Demonstranten haben sich dann auf den Weg gemacht und sind gegen die Absperrungen vorgegangen. Und sie wurden vom Veranstalter nicht gebremst, sondern sie wurden sogar noch von der Bühne aufgefordert, das zu tun. „Jeder soll machen, was er für richtig hält“, so ungefähr lautete der Satz. Der Satz ist verräterisch. So lässt sich kein Zusammenleben organisieren, das ist selbstgerecht, das ist Anarchie.

Sie hatten in der Bild-Zeitung auch der Aktivistin Luisa Neubauer vorgeworfen, bei den Radikalen dabei gewesen zu sein. Sie hat sich nun verteidigt und gesagt, es gehe nicht um einen Konflikt mit dem Innenminister, sondern es gehe darum, der Gesellschaft deutlich zu zeigen, wie gefährlich der Klimawandel sei und dass man da was tun müsse. Ist das nachvollziehbar?

Nein, das ist nicht nachvollziehbar. Offensichtlich weiß Frau Neubauer erstens nicht, wie ein Rechtsstaat funktioniert. Und offenbar hat sie zweitens keine Bereitschaft, Konsens zu organisieren und zu akzeptieren. Und drittens hat sie sich bewusst oder unbewusst in die Nähe gewaltbereiter Extremisten begeben. Das erleben wir in anderen Milieus auch, etwa bei den Corona-Demos, wo dann eine Minderheit von Verschwörungstheoretikern versucht, eine Kundgebung zu kapern.

Luisa Neubauer und Fridays for Future waren ja bislang getrennt von den radikaleren Gruppen wie Extinction Rebellion und Letzte Generation zu betrachten. Hat sich da seit Lützerath etwas verändert?

Das kann ich noch nicht abschließend für alle beantworten. Aber Frau Neubauer hat sich bislang nicht klar von denen abgegrenzt, die Gewalt anwenden. Und wenn sie die Gewalttäter nicht verurteilt, hat sie da offenkundig ein Problem.

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Wie sieht es mit Greta Thunberg aus? Es kursieren Videos, die sie zusammen mit Polizisten zeigen, wie sie fürs Foto posieren.

Es ging ihr dabei offensichtlich von Anfang an um die Show, um mediale Aufmerksamkeit und gute Bilder. Frau Thunberg hat schon die angebliche Polizeigewalt verurteilt, da war sie kaum vor Ort angekommen. Es waren in Lützerath viele große Schlaumeier unterwegs, die meinten, genau zu wissen, wie sie sich gut in Szene setzen können.

Was sagen Sie denn konkret zu den Vorwürfen, die Polizei sei mit unangemessener Härte vorgegangen?

Zunächst gilt die simple Wahrheit: Die Polizei hat das Recht und die Pflicht, wenn erforderlich Gewalt anzuwenden, wenn Recht durchgesetzt werden muss. Insofern ist es richtig zu sagen, in Lützerath hat die Polizei Zwangsmaßnahmen angewendet. Das war leider nötig. Und zugleich gilt auch, dass ein Polizist, der das über das gebotene Maß hinaus tut, ein Problem kriegt. Wenn Polizisten Fehler machen, müssen sie dafür geradestehen, wie alle anderen Menschen auch. Bisher sind uns fünf Fälle bekannt, denen gerade nachgegangen wird.

Kennen Sie die Bilder aus dem Netz?

Wir schauen uns das alles an. Diese Videos sind teilweise nur Schnipsel, sie geben nicht immer die Wirklichkeit wieder. Es gibt auch Videos, die mich nachdenklich machen, denen gehen wir nach, das wird geprüft.

Wir haben diese Diskussion um Polizeigewalt auch bei der Räumung des Hambacher Forstes gehabt. Wie beurteilen Sie die Frage der Polizeigewalt grundsätzlich, sie wird von den Aktivisten ja immer wieder ins Feld geführt.

Ist dieses Gerede vom strukturellen Problem der Polizeigewalt vielleicht eine Scheindebatte und eine Ablenkung vom eigenen Tun? Manchmal ist es auch nur ein Missverständnis, wenn Betroffene nicht wissen, was Polizisten dürfen und was nicht. Dieselben Leute, die sich jetzt beklagen, fordern gerne ein robustes Vorgehen gegen Rechtsextremisten. Und sie haben recht. Auch Rechtsextremisten müssen, wo es notwendig ist, die Wehrhaftigkeit des Staates erfahren. Aber das gilt eben für alle gleich. Wo Ordnung durchgesetzt werden muss, ist die Polizei zur Stelle, manchmal auch mit der Anwendung von Gewalt.

Wie groß war denn in Lützerath die Gefahr für die Teilnehmer der Demonstrationen?

Die Gefährdung war sehr groß, weil sich viele Menschen an den Rand des Tagebaus begeben haben. Da geht es 60 Meter und mehr in die Tiefe. Wenn da Menschen mit Kindern stehen, fehlt mir dafür jedes Verständnis. Oder wenn auf Polizisten Steine und Molotowcocktails geworfen werden, dazwischen aber sich noch andere Menschen befinden, ist das für alle sehr gefährlich.

Zurück auf die politische Ebene: Was sagen Sie denn zu Katharina Dröge? Die Grüne Fraktionschefin im Bundestag fordert eine parlamentarische Aufarbeitung des Polizeieinsatzes.

Was in Nordrhein-Westfalen aufzuarbeiten ist, das werden wir hier selber aufarbeiten. Da brauche ich keine Ratschläge, erst recht nicht aus Berlin. Das zuständige Parlament ist im Übrigen das Landesparlament. Das wird sich selbst mit der Frage beschäftigen – und hat es ja auch bereits. Aber natürlich darf jede Abgeordnete eines jeden Parlaments der Welt reden, worüber sie will.

Die Grüne Fraktionsvorsitzende in Düsseldorf hat ja ausdrücklich auch auf die Gewaltbereitschaft einiger Demonstranten hingewiesen. Gibt es da sozusagen in der schwarz-grünen Koalition in Düsseldorf mehr Geschlossenheit als innerhalb der Grünen?

Es gibt bei uns offensichtlich viele Realisten und kluge Menschen bei den Grünen, die verstanden haben, dass es wichtig ist, den Rechtsstaat zu achten, und dass es hilfreich ist, komplizierte Sachen auch sachkundig zu bewerten.

Die Aktivisten erklären in etwa, die Radikalisierung sei Folge der Untätigkeit der Politik in Sachen Klimaschutz. Haben Sie ein gewisses Verständnis dafür?

Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Es gibt genug Möglichkeiten im demokratischen Rechtsstaat, seinen Unmut zu artikulieren. Aber es gibt auch eine Grenze. Wenn hier in dem Zusammenhang der Begriff ziviler Ungehorsam verwendet wird, ist das eine Unverfrorenheit und eine Unverschämtheit gegenüber Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi und anderen. Diejenigen, die hier zivilen Ungehorsam beanspruchen, diskreditieren sich zum einen, weil sie Gewalt anwenden, und zum anderen, weil sie verhindern wollen, dass man sie identifiziert. Das passt nicht zusammen, das hat mit zivilem Ungehorsam nichts zu tun. Das ist kriminell. Punkt.

Schließlich noch zum WDR. Sie haben sich beim Intendanten beschwert über die Berichterstattung. Was fordern Sie?

Ich fordere überhaupt nichts. Ich bitte schlicht und einfach darum, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen Auftrag erfüllt. Ich bin durchaus der Meinung, dass wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch in Zukunft brauchen, als eine wichtige Institution der Meinungsbildung. Das funktioniert aber nur, wenn die Sender glaubwürdig bleiben. Der WDR hat im Netz 50 Minuten live eine Pressekonferenz einer radikalisierten Minderheit in Lützerath übertragen, ohne das vernünftig einzuordnen. Wenn man glaubwürdig bleiben will, muss man, meiner Meinung nach, das anders machen. Darauf habe ich hingewiesen.

Aggressivität gegen Sicherheitskräfte gibt es nicht nur in Lützerath, auch an Silvester gab es Ausschreitungen. Was für eine Entwicklung beobachten Sie?

Ich halte das für einen gefährlichen Trend. Mich erschüttert das, wenn Menschen keine Akzeptanz, keine Wertschätzung, keinen Respekt mehr gegenüber den Organen des Staates haben. Die Beamten der Polizei und auch die Mitarbeiter von Polizei und Rettungsdiensten haben einen Anspruch auf Wertschätzung, denn ohne sie würde der Staat nicht funktionieren. Was passiert eigentlich, wenn wir keine Leute mehr haben, die das machen wollen? Wir haben in NRW deswegen eine Initiative gestartet für mehr Respekt. Und wir haben ein Netzwerk gegründet, denn es geht nicht nur um Polizei, Rettungswesen und Feuerwehr, sondern es sind ja auch Leute im Ausländeramt, im Ordnungsamt und in den Schulen von erhöhter Aggression betroffen. Es ist ein breiter gesellschaftlicher Trend, die Schwelle zur Gewalt ist erschreckend stark gesunken.

Sie haben die Schulen erwähnt. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat von „kleinen Paschas“ gesprochen, die in ihren Elternhäusern nicht gelernt hätten, respektvoll mit ihren Lehrerinnen umzugehen. Können Sie diese Problemanalyse bestätigen?

Gewalt an Schulen nimmt generell zu. Aber es ist verkürzt, dieses Thema nur auf Frauen als Betroffene zu beziehen, und es ist zu wenig, dies nur dem Teil der Menschen zuzuschreiben, die aus einem bestimmten Kulturkreis zu uns gekommen sind. Diese eskalierende Gewalt im öffentlichen Raum kommt auch bei anderen Leuten vor, die betrunken auf den Straßen Partys feiern und ausfällig werden. Unsere gesellschaftlichen Probleme nur denen zuzuschieben, die von anderswo zu uns gekommen sind, ist falsch. Von denen betrifft es nämlich auch nur einen kleinen Kreis. Es geht generell darum, in der Gesellschaft wieder Anstand, Respekt und eine gewisse Höflichkeit zu erlernen. Da ist etwas verloren gegangen.

Also reicht es nicht, wenn der Staat mit harter Hand durchgreift, sagt der Innenminister?

Ich stehe zu Null Toleranz, aber natürlich reicht das nicht. Wir haben ein Haltungsproblem. Wir reden ja gerne über Werte, aber Werte wirken sich nur aus, wenn sie zu praktischen Haltungen im Alltag führen. Und da gibt es auch positive Beispiele. Für mich war es sensationell, wie etwa bei der Flut oder in der Flüchtlingskrise Menschen Verantwortung übernommen haben. Ich habe das in dem Ausmaß nicht für möglich gehalten, dass es so viel Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft gibt. Es sind die stillen Helfer, die für mich die wahren Helden in unserer Gesellschaft sind. Sie werden nur im Vergleich zu all diesen Klugscheißern kaum öffentlich wahrgenommen. Ich wünsche mir, dass wir unseren Rechtsstaat nicht zuerst mit Polizei und der Justiz verteidigen, sondern mit der gemeinsamen Haltung, sich gegenseitig zu achten und unser Gemeinwesen voranzubringen.

Die Fragen stellte Volker Resing.

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