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Liberalismus - Keine Freiheit ohne soziale Sicherheit

Die Liberalen reden gerne von Freiheit. Aber wenn man von Freiheit redet, welche Freiheit meint man eigentlich? Ein Plädoyer dafür, Freiheit substanziell zu verstehen. Denn Freiheit braucht soziale Sicherheit

Nils Heisterhagen

Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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Sie sprechen von Raucherdiskriminierung. Einen Veggieday finden sie bevormundend. Interventionen in die Wirtschaft lehnen sie ab. Liberale reden gerne von Freiheit. Ihnen geht es vor allem um ihre Handlungsfreiheit, die Freiheit von etwas. Die negative Freiheit also, wie sie der Philosoph Isaiah Berlin einst beschrieb. Die Freiheit zu etwas, also die positive Freiheit, die er davon unterschied, und bei der es um Selbstbestimmung geht, stand bei dem Liberalen Berlin hingegen unter einer Entartungsvermutung.

Während Berlin unter der positiven Freiheit mehr verstand, dass man sein eigener Herr sein will, was vor allem heißt, politische Partizipationsrechte zu haben, um daran teilzuhaben, wie regiert wird, verstehen andere unter positiver Freiheit die sozialen Möglichkeiten zu etwas. Und in der Tat fragt sich: Ist Freiheit nicht eigentlich an soziale Voraussetzungen gebunden und an welche? Kann es wirkliche Freiheit ohne ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit geben?

Die „Freiheit zu“ ist der eigentliche linke Freiheitsbegriff, denn bei ihm geht es um die substanziellen Voraussetzungen zu etwas. Dem können aber auch Liberale zustimmen.

Freiheit hat soziale Voraussetzungen
 

Im 19. Jahrhundert regte sich die Frage nach den sozialen Voraussetzungen von Freiheit. Muss die materielle Habe als Bedingung von Freiheit mit betrachtet werden? Ist diese verfassungstechnisch garantierte Freiheit (Grundfreiheiten bzw. Grundrechte) schon alles was man unter Freiheit verstehen kann? Ist die eigene reale Freiheit, nicht auch an Voraussetzungen geknüpft, die sie bedingen?

Freiheit umfasst auch die Vorstellung von sozialen Voraussetzungen. Und diese soziale Frage war nicht nur ein Projekt antiliberaler Kräfte, sondern ebenso auch ein Projekt von liberalen Sozialreformern von John Stuart Mill über Ralf Dahrendorf bis John Rawls und Amartya Sen.

In Amartya Sens Theorie ist dieses substantielle Verständnis von Freiheit am deutlichsten. Im Zentrum seines Werks steht der Begriff der Verwirklichungschancen (capabilities). Die Verwirklichungschancen seien „Ausdrucksformen der Freiheit: nämlich der substantiellen Freiheit, alternative Kombinationen von Funktionen zu verwirklichen“, schreibt Sen in seinem Buch über die „Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft“. So ist für Sen nur derjenige richtig frei, der gute Chancen am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren hat, der Zugang zu ordentlicher Gesundheitsvorsorge hat, der Zugang zu ordentlicher Bildung  und der ein Existenzminimum an materiellen Ressourcen zur Verfügung hat.

Für Sen hat jeder das Recht auf reale Verwirklichungschancen zu den Lebenszielen, wozu er Gründe haben mag. Sozialpolitik soll die einzelnen Individuen, etwa das Kind aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen, befähigen, etwas aus dem eigenen Leben machen zu können. Sozialpolitik hat die Aufgabe für annähernde Chancengleichheit zu sorgen.

Bildungspolitik ist freiheitsrelevant
 

Diese Vorstellung von Freiheit betrachtet die Sozialpolitik nicht als Feind der Freiheit, sondern als Voraussetzung von Freiheit. Freiheit bekommt somit einen ganz anderen Sinn. Man kann diese Freiheitsidee sozialdemokratisch nennen oder die linke Freiheitsidee.

Die substanziellen Möglichkeiten müssen nämlich vom Staat geschaffen werden. Die linken Freiheitskämpfer sind daher staatsfreundlich. Der Sozialstaat ist für die meisten Sozialdemokraten ein Ermöglichungsinstrument für Freiheit. „Jedem seine substanzielle Freiheit!“ ist ihr Motto. Der Traum von der „sozialen Gerechtigkeit“ ist für die meisten Sozialdemokraten ein Prozess der Verwirklichung realer Freiheit. Der Sinn der Freiheit liegt in der Realität der Freiheit. Und für Sozialdemokraten heißt dies nicht nur die Realität der Grundfreiheiten, wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Wahlfreiheit und Vertragsfreiheit, sondern auch die Realität von substanzieller Freiheit.             

Diese Idee von Freiheit können aber auch Liberale teilen. Dieser Freiheitsidee ist auch die FDP Jahre lang angehangen. Ralf Dahrendorf, Karl-Hermann Flach und Walter Scheel stellten diese sozialliberale Linie der FDP da. Der Liberalismus ist viel komplexer als dies der „Statusliberale“ anerkennen will.

Die FDP hat seit Langem ihr sozialliberales Erbe missachtet


Der Liberalismus hat viel mehr Gemeinsamkeiten mit der Sozialdemokratie als er es in der Ära „Westerwelle und Rösler“ zugegeben hat. Aber seit Langem hat die FDP diese sozialliberale Linie aufgegeben. Die Freidemokraten waren in den letzten Jahren ein Sammelbecken für konservative Liberale und für neoliberale Globalisierungsgewinner, die sich unter dem Mantra der „Steuersenkung“ zusammenschlossen. Für diese ist mit dem Rechtsstaat – der auch die kapitalistische Wirtschaftsordnung sichert – die Freiheit verwirklicht.

Sozialliberale denken anders. Für sie hat der Staat mehr Aufgaben als nur für Sicherheit zu sorgen und die Grundfreiheiten zu garantieren. Für sie muss der Staat auch ein Sozialstaat sein. Doch auch die Sozialliberalen sind zumeist kritisch gegenüber einer Umverteilungspolitik des Staates. Aber ist diese Antihaltung der Sozialliberalen gegen jede Form von Verteilungsgerechtigkeit eigentlich plausibel?

Der Markt bedarf Korrekturen - das muss ein Sozialliberaler anerkennen
 

Gehört zu den sozialen Voraussetzungen von Freiheit nicht auch, dass man von seinem eigenen Gehalt auch seinen Lebensunterhalt bestreiten kann? Ist ein Mindestlohn nicht die Grundlage für einen gesicherten ökonomischen Grundstock und damit auch freiheitsrelevant?

Der Sozialdemokrat erkennt diesen Zusammenhang an. Er glaubt, dass man ohne ökonomische Grundversorgung nicht davon sprechen kann, dass jemand real frei ist. Auch der Sozialliberale kann das anerkennen. Inhaltlich wäre also ein Konsens möglich. Sozialliberale können höhere Besteuerung und Mindestlöhne akzeptieren, selbst dann, wenn sie die Idee der Gleichheit ablehnen.

Man nennt Leute, die die Gleichheit als das zentrale Ziel der Gerechtigkeit auffassen, Egalitaristen. Und die sagen, dass die Relation zwischen dem Einen und dem Anderen in Fragen der sozialen Gerechtigkeit die zentrale Perspektive sei. Die sozialliberalen Egalitaristen glauben – im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Egalitaristen –, dass Verteilungsgerechtigkeit kein Gerechtigkeitsziel ist. Aber sie glauben, dass der Staat durch Sozialpolitik für eine Annäherung an Chancengleichheit sorgen muss und damit meinen sie vor allem eine gute Bildungspolitik.

Diese Sozialliberalen werden zwar nicht Steuererhöhungen an sich gut finden – denn sie interessiert die Summe des Wohlstandes mehr als seine Verteilung –, aber als Finanzierungsmittel für eine bessere Bildungspolitik, müssen diese Sozialliberalen Steuererhöhungen für Wohlhabende dann doch zumindest in Betracht ziehen. Bei Mindestlöhnen sind diese Sozialliberalen eher kritisch, weil dies einen Eingriff in die Marktwirtschaft bedeutet, aber da sie die Marktwirtschaft als soziale Marktwirtschaft denken, müssen sie auch anerkennen, dass eine Korrektur des Marktes erforderlich ist, wenn die selbstregulativen Tendenzen des Marktes bei der Lohnbildung versagen. Oder anders gesagt: Wenn die am schlechtesten Gestellten dauerhaft schlecht weg kommen und dies obwohl die Wirtschaft und der Wohlstand in der Summe wächst, dann müssen diese Sozialliberalen sich die Frage stellen, ob der Markt nicht auch korrigiert werden muss.

Non-Egalitaristen sind nun solche Leute, die glauben, dass Gerechtigkeit nichts mit Gleichheit zu tun hat. Der sozialdemokratische Non-Egalitarist sagt: Im Prinzip ist es egal, wie der Reichtum in einer Gesellschaft verteilt ist, aber es kommt darauf an, dass zumindest absolute Mindeststandards vorhanden sind, unter die keiner fallen kann. Diese Position wurde in der „Politik des dritten Weges“ von Gerhard Schröder und Tony Blair forciert.

Diese Politik senkte Steuern, kürzte den Sozialstaat und deregulierte den Arbeitsmarkt, was man als neoliberal kritisierte. Aber letztlich war das nicht neoliberal, sondern nur einfach eine Absage an die Idee der Gleichheit. In diesem Sinne kann man Schröder und Blair als sozialliberal verstehen. Deswegen fühlten sich damals auch so viele Sozialdemokraten fremd in ihrer eigenen Partei, weil die meisten Sozialdemokraten glauben, dass Verteilungsgerechtigkeit ein sozialdemokratisches Grundanliegen ist.

Der Mindestlohn ist freiheitsrelevant


Nun muss man aber konstatieren, dass zwar eine Erhöhung der Einkommenssteuer oder Einführung einer Vermögenssteuer mit diesem sozialdemokratischen Non-Egalitaristen, den man nicht nur in der SPD, sondern eben auch in der FDP, bei den Grünen, den Piraten und sogar der CDU findet, eher schwierig ist, aber auch nicht völlig ausgeschlossen. Moderate Steuererhöhungen für Wohlhabende würden nämlich immer noch bedeuten, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse signifikant ungleich wären. Aber zumindest könnte man durch Steuererhöhungen für Wohlhabende das Geld für umfangreiche Bildungsinvestitionen bekommen, und das ist für den Sozialliberalen ja gerechtigkeitsrelevant. Ein Mindestlohn ist mit diesem Typen aber definitiv zu machen, weil der Mindestlohn einen Mindeststandard beschreibt, der für ihn gerechtigkeitsrelevant ist.

Für eine linke Mehrheit in Deutschland sind das gute Nachrichten. Denn nicht alle Liberalen sind „rechts“ oder „konservativ“. Linke Politik ist mit Liberalen zu machen. Nach dem Zusammenbruch der FDP verteilen sich die Liberalen nun jedoch auf sechs Parteien: Die FDP, die Grünen, die Piraten, die AFD, die SPD und die Union. Alle außer der AFD sind nach links offen. Nur weil die Mehrheit der Wähler bei dieser Wahl vermeintlich rechte Parteien gewählt hat, soll man nicht glauben, dass es keine linke Mehrheit gebe. Die linke Mehrheit ist vorhanden. Sie teilt sich nur mehr auf. Und die Liberalen gehören teilweise sehr wohl zu dieser linken Mehrheit.

Eine Streitschrift von dem ehemaligen FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach aus dem Jahre 1971 trägt den Titel: „Noch eine Chance für die Liberalen. Oder: Die Zukunft der Freiheit“. Sie ist auch heute ein Zeichen für alle Liberalen und die Partei, die in der bundesrepublikanischen Geschichte beanspruchte den Liberalismus zu repräsentieren. Der Liberalismus hat so gut wie alles erreicht. Gesellschaftspolitisch findet sich liberales Gedankengut in allen demokratischen Parteien, und die Wirtschaftsliberalität wird mittlerweile von außen in die Parlamente getragen. Auch demokratietheoretisch hat der Liberalismus seine Zeit hinter sich. Die liberale Demokratie ist zur Postdemokratie mutiert.

Karl-Hermann Flach schrieb damals in seiner Streitschrift: „Die Frage nach der Zukunft der Freiheit, nach den Chancen des Liberalismus, bleibt gestellt. Es ist die Frage nach der Zukunft einer menschenwürdigen Gesellschaft“. Und heute, 40 Jahre später, gibt es auf diese Frage eigentlich nur noch eine Antwort: Die Zukunft der Liberalen ist links.

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