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Amartya Sen: "Hoffnung ist nicht utopisch"

Der Ökonom und Philosoph Amartya Sen hat in seinem neuen Buch eine globale Theorie der Gerechtigkeit entwickelt. Die aktuelle Sparpolitik der europäischen Regierungen hält der Nobelpreisträger für fatal und fordert stattdessen weitere Konjunkturspritzen.

Herr Sen, als Sie 1998 den Wirtschaftsnobelpreis erhielten, sprachen Sie in Ihrer Rede davon, dass Sie eigentlich ihr ganzes Leben an Universitäten verbracht haben. Inzwischen sind Sie 77. Glauben Sie, es würde uns besser gehen, wenn Politiker und Ökonomen wieder verstärkt auf akademische Stimmen hörten, wie es früher der Fall war, und nicht auf Thinktanks und Lobbyisten?
Ich weiß es nicht. Auch Wissenschaftler können ganz schön verrückt sein. Aber ernsthaft: Je mehr Felder in die öffentliche Diskussion um politische Entscheidungen einbezogen werden, desto besser. Politiker und Ökonomen müssen wieder lernen, auf unterschiedliche Standpunkte zu hören. Auch von den Experten aus den Universitäten werden sie keine einhellige Empfehlung bekommen. Ich glaube etwa, dass die Wirtschaftspolitik, die in letzter Zeit von vielen europäischen Ländern vertreten wird, völlig falsch ist. Und hätten politische Entscheidungsträger mehr auf die Meinungen von Wirtschaftswissenschaftlern gehört, hätten sie in der Vergangenheit sicherlich nicht so viele Fehler gemacht.

Was ist falsch an der derzeitigen Wirtschaftspolitik, und welche Länder haben Sie dabei besonders im Blick?
Nun, der Zeitpunkt, um Haushaltsdefizite auf eine drastische Weise zu kürzen, ist extrem schlecht gewählt. Defizite reduziert man immer am besten dann, wenn die Wirtschaft wächst. Der große europäische Schuldenberg nach dem Zweiten Weltkrieg ist schnell dahingeschmolzen, weil Europas Wirtschaft boomte. Auch unter der Präsidentschaft von Bill Clinton wurden die Schulden schnell abgetragen, weil es der amerikanischen Wirtschaft sehr gut ging. Will man Defizite reduzieren, wenn es wirtschaftlich nicht gerade zum Besten bestellt ist und man zudem mit einer großen Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat, kommt es schnell zum Desaster. Vor allem, weil das Problem der Arbeitslosigkeit dadurch nur noch verschlimmert wird und es auch langfristig zu einem Verlust von Arbeitskraft kommt. Außerdem führen solche Versuche zu einer massiven psychologischen Demoralisierung – und wir wissen, welch große Rolle die Psychologie für das Wirtschaftswachstum spielt. Und schließlich kommt es bei einem derartigen Defizitabbau fast immer zu einer Einschränkung der Leistungen des Sozialstaats. Anstatt seine Bürger also zu unterstützen, wenn sie es am meisten brauchen, sparen Länder die Sozialleistungen für eine Zeit auf, wenn diese gar nicht mehr benötigt werden. Das ist keine gute Wirtschaftspolitik. Aber ich stehe nicht nur den europäischen Regierungen kritisch gegenüber, sondern vor allem auch der OECD, die ebenfalls diese falsche Politik propagiert.

Das ist ein Ansatz, den auch Paul Krugman vertreten hat …
Nicht nur Paul Krugman, selbst konservative Ökonomen wie Samuel Brittan vertreten diese Ansicht und regen an, neue Konjunkturpakete zu schnüren. Kürzlich fragte Brittan in der Financial Times: „Sind diese strikten Sparpakete notwendig?“ Auch er erkennt in dieser Situation ein massives Problem.

Aber die deutsche Wirtschaft scheint gerade ein Gegenbeispiel zu Ihrer These zu sein. Trotz Schuldenbremse wächst das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 3,5 Prozent, im nächsten Jahr soll es um 2 Prozent wachsen. 2011 wird wahrscheinlich auch die Zahl der Arbeitslosen auf unter drei Millionen sinken. So wenige gab es schon seit 1992 nicht mehr.
Es stimmt, dass Deutschland die Krise sehr viel besser bewältigt hat als andere Länder. Aber man muss auch den gesamteuropäischen Kontext im Blick behalten. Was mir große Sorgen bereitet, ist der Umstand, dass sich EZB-Präsident Jean-Claude Trichet ebenfalls für einen strikten Sparkurs ausspricht. Ich respektiere Trichet als Kollegen sehr, aber ich glaube, dass er diesbezüglich falsch liegt. Er unterschätzt die Dramatik des wirtschaftlichen Tiefs, das Europa erfasst hat. Das sind schlechte Nachrichten – nicht nur für Europa, sondern letztlich auch für die USA. Die Konsequenzen dieser falschen Politik lassen sich in Großbritannien beobachten. Die Wirtschaft des Landes begann sich gerade zu erholen, als die neue Regierung ihr Sparpaket verabschiedete. Danach ging es wieder bergab. Stattdessen hätte die britische Wirtschaft eine weitere Konjunkturspritze benötigt. Ich glaube, dass die weltweite Rezession noch nicht vorbei ist. Sie könnte aber schnell vorüber sein, würde man gemeinsam eine gute, arbeitsmarktorientierte Wirtschaftspolitik verfolgen.

Lassen Sie uns über Ihr neues Buch reden, das gerade auf Deutsch erschienen ist. Es heißt „Die Idee der Gerechtigkeit“ (Verlag C. H. Beck). Ist der Titel als Gegenmodell zur „Theorie der Gerechtigkeit“ zu verstehen, einer unter Philosophen geradezu legendären Studie Ihres Freundes und Kollegen John Rawls?
Nein. Die Idee der Gerechtigkeit geht immer auch mit einer Theorie der Gerechtigkeit einher. Nur glaube ich, dass wir, bevor wir zu einer Theorie kommen, uns mit der Idee auseinandersetzen müssen. Es ist uns allen klar, dass wir unsere Idee von Gerechtigkeit überdenken müssen. Die meisten von uns machen sich Sorgen: über das Schicksal der Menschen auf diesem Planeten, über ihr Wohlergehen, über ihre Freiheit. Wir wollen und müssen menschliches Leid und Ungleichheit reduzieren. Darum geht es in diesem Buch.

Sie sind gebürtiger Inder, haben aber die längste Zeit in England und den Vereinigten Staaten gelebt. Diese Weltläufigkeit schlägt sich auch in Ihrem Buch nieder. Meines Wissens sind Sie der Erste, der das Thema der Gerechtigkeit aus einer umfassenden globalen Perspektive betrachtet.
Ja, mein Fokus liegt in der Tat nicht auf dem, was innerhalb einer Nation als gerecht gilt, sondern auf der Möglichkeit von mehr Gerechtigkeit für die ganze Menschheit. Das ist auch der Grund dafür, dass ich im Unterschied zu vielen Philosophen vor mir, unter ihnen John Rawls, nicht so stark an die Kraft der Institutionen glaube. Wenn wir die richtigen, gerechten Institutionen haben, heißt es oft in solchen Untersuchungen, dann würde sich unser Verhalten quasi automatisch ändern. In unserer Geschichte gibt es jedoch viele Beispiele, die nahelegen, dass dies nicht der Fall sein wird. Gerechtes menschliches Verhalten als etwas Gegebenes zu betrachten, ist ein Fehler. Wir sollten nicht fragen, wie eine gerechte Idealgesellschaft aussehen könnte. Wir müssen uns stattdessen damit auseinandersetzen, wie wir erkennen können, was konkrete Ungerechtigkeiten sind und wie es uns gelingen kann, diese aus der Welt zu schaffen. Ich glaube fest an die Kraft einer vernunftgeleiteten, öffentlichen Diskussion. Das wiederum verbindet mich mit John Rawls oder auch mit Jürgen Habermas.

Sie schreiben, dass es immer unterschiedliche Ansichten darüber geben wird, was gerecht und was ungerecht ist – und dass all diese Standpunkte gleichzeitig zutreffen können. Ist dieses pluralistische Konzept auch Ihrem globalen Fokus geschuldet?
Ja, aber ich sage auch, dass wir trotz verschiedener Auffassungen von Gerechtigkeit zu einer Einigung kommen können. Nehmen wir das Thema Integration, über das in Deutschland gerade viel diskutiert wird. Viele Immigranten leben schon lange in Deutschland und betrachten es als ihr Zuhause. Es wird immer Menschen geben, die sich gegen Immigration aussprechen, und immer welche, die dafür sind. Aber trotzdem ist es möglich, durch eine vernunftgeleitete Diskussion einen gemeinsamen Nenner zu finden – und zwar den, dass den Immigranten, die seit langem hier zu Hause sind, die gleichen Rechte zugestanden werden wie den ethnischen Deutschen. Egal, ob man nun für oder gegen Immigration ist, darauf sollte man sich in einer öffentlichen Diskussion einigen können. Gerechtigkeit muss immer diskutiert werden.

Aber fühlt sich der in der Diskussion Unterlegene dann nicht trotzdem ungerecht behandelt?
In meinem Buch behandle ich das Beispiel von den drei Kindern, die das Anrecht auf eine Flöte erheben. Das erste Kind hat die Flöte hergestellt, das zweite ist das einzige, das sie spielen kann, und das dritte hat außer dem Instrument keine anderen Spielzeuge. Wer soll sie bekommen? Es gibt nur eine. Die Aufgabe besteht darin, alle drei Anrechte auf die Flöte in Betracht zu ziehen und dann eine Entscheidung zu fällen. Wir müssen nachdenken und auch komplizierte Umstände zur Kenntnis nehmen. Ich kann verstehen, dass das für jemanden enttäuschend sein kann, der nach einer abstrakten Antwort auf die Frage sucht, was Gerechtigkeit ist. Aber die Welt ist kein Ort für einfache Lösungen.

Aber hat Ihre Gerechtigkeitstheorie auch ökonomische Konsequenzen? Seit langem kritisieren Sie unsere Fixierung auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Zusammen mit dem pakistanischen Wissenschaftler Mahbub ul Haq haben Sie schon vor 20 Jahren den Human Development Index (HDI) für die Vereinten Nationen entwickelt, um den wirtschaftlichen Fortschritt zu messen …
Nun, im Zentrum der Arbeit von Mahbub und mir stand, eine Alternative zum BIP zu entwickeln. Der HDI ist aber von Anfang an für die Bewertung der wirtschaftlichen Entwicklung der ärmeren Länder entworfen worden. Dafür haben wir Faktoren wie Lebenserwartung, Bildung, Freiheit in unsere Berechnung einbezogen. Da ergaben sich erhebliche Unterschiede zwischen Entwicklungsländern in Afrika und Asien. Für die meisten europäischen Staaten allerdings ist der HDl weniger sinnvoll, weil die Unterschiede zu gering ausfallen. Deshalb war ich im vergangenen Jahr auch als Berater der Stiglitz-Kommission tätig, die unter französischer Führung ein neues Modell für die Messung von Wohlstand und sozialem Fortschritt entwickelt hat – ein Modell, das insbesondere für Europa sinnvoll ist. Dabei haben wir andere Fragen adressiert: Umweltschutz und Nachhaltigkeit etwa, soziale Unsicherheit oder die Verbreitung psychologischer Probleme.

Ihnen gelingt es bei Ihrer Arbeit, einen sehr realistischen Blick auf die Welt zu werfen, ohne dabei das Utopische aus den Augen zu verlieren.
Ich glaube, dass Realismus weder das Ablehnen noch das Akzeptieren utopischer Visionen bedeutet. Vor ungefähr 30 Jahren habe ich ein Buch über den Sachverhalt geschrieben, dass Demokratien Hungersnöte verhindern. Und das, obwohl gerade mal fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind, eine Minderheit also. Aber warum sind Demokratien dann so effektiv darin, Hungersnöte zu bekämpfen? Weil sie Informationen durch freie Medien verbreiten. Weil sich in ihnen eine Opposition bilden kann, die die Regierung unter Druck setzt. Das hat den Effekt, dass nicht nur die Betroffenen, sondern eine Mehrheit der Bevölkerung verlangt, dass es nicht zu einer Hungersnot kommen darf. Ein Resultat öffentlicher Diskussion also, nicht nur von Wahlen. Sie können die Auswirkungen eines solchen Denkens neuerdings in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas beobachten, die zu Demokratien geworden sind. Es ist also wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass das, was Philosophen und Ökonomen wie ich machen, nicht irgendein utopisches Gerede ist. Zwar befindet sich in allem, was ich schreibe, ein Element der Hoffnung – aber diese Hoffnung ist keineswegs unrealistisch oder gar utopisch.

Das Gespräch führte Daniel Schreiber

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