WM in Katar - Von der Seele des Sports

Die WM im Wüstenstaat Katar ist der vorläufige Höhepunkt einer gegenüber Fußballfans rücksichtslosen Kommerzialisierung und Internationalisierung des Profisports. Wer zum Boykott der Weltmeisterschaft aufruft, hätte daher schon viel früher laut werden müssen. Ein persönlicher Beitrag anlässlich der WM 2022.

Im Amateurfußball ist die Welt noch halbwegs in Ordnung / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Ein Fußballplatz in München im September: Zwei AH-Mannschaften liefern sich auf welligem Rasen ein denkwürdiges Duell. Dieses wird in der zweiten Halbzeit derart impulsiv, dass ein linker Verteidiger der Heimmannschaft drauf und dran ist, vom Platz zu stürmen und einem Spieler auf der Ersatzbank des Gegners an die Gurgel zu gehen. In einem Wortgefecht hatte sich dieser zuvor zu einer handfesten Drohung hinreißen lassen. Eine denkbar blöde Aktion, wenn die Emotionen auf dem Feld bereits hochgekocht sind.  

Es ist die 82. Minute eines Duells des Erst- gegen den Zweiplatzierten der aktuellen Tabelle. Die Gäste haben gerade das 3-4 erzielt. Es ist die vierte Führung der Auswärtsmannschaft in diesem Spiel. 0-1, 1-1, 1-2, 2-2, 2-3, 3-3 und nun das 3-4. Elf Minuten später, in der letzten Minute der Nachspielzeit, gibt es noch einen allerletzten Freistoß für die Heimmannschaft. 30 Meter entfernt vom gegnerischen Tor legt sich ein 48-Jähriger mit einem „feinen Füßchen“, dessen Bauchansatz das Trikot ein bisschen ausbeult, den Ball zurecht.

Der Heim-Torwart, ein gelernter Stürmer, joggt nach vorne in den Strafraum. Er ist schon so lange dabei, dass er zu Beginn jeder Saison verlässlich ankündigt, dass dies nun wirklich seine letzte Spielzeit als Aktiver sein werde. Kurz darauf fliegt der Ball in hohem Bogen in den Strafraum. Dann senkt er sich abrupt. Die Situation ist unübersichtlich – und plötzlich zappelt der Ball im Netz. Ausgleich in der 93. Minute. Endstand: 4-4. Das Tor wird später dem Heim-Torwart zugerechnet. Er sagt, nachdem er sich noch im Trikot ein kühles Weißbier eingeschenkt und die Sonne gesetzt hat: „Dafür spielt man Fußball.“ 

Die Emotionen sind die selben

Warum erzähle ich das? Der Linksverteidiger der Heimmannschaft, der dem Gegner fast an die Gurgel gegangen wäre, bin ich. Aber keine Sorge, hinterher haben wir uns alle wieder vertragen. Im Eifer des Gefechts wird es hin und wieder halt ein bisschen unschön. Nachdem ich meine gesamte Kindheit und meine halbe Jugend (bevor Mädchen und Partys interessanter wurden) im Verein spielte, habe ich vor mittlerweile sieben Jahren meine vielleicht letzte Vereinsmitgliedschaft gezeichnet. Im Alter von 29 Jahren. Handgeld gab es dafür keins, nur einen feuchten Händedruck – und in den vergangenen Jahren ein wunderbares Vereinsleben. 
 

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Wissen Sie, bei uns im Club ist die Welt noch heile. Wir treffen uns einmal die Woche zum Training, danach gibt es Bier und häufig Wiener mit Brot, ab und an auch ein hervorragendes Chili con Carne, gekocht von der Frau meines Trainers. Bei Punkt- und Pokalspielen kommen im Schnitt vielleicht 30, manchmal 40 Zuschauer, je nach Wetterlage. Doch die Emotionen sind im Amateurfußball – insbesondere bei Spielen wie dem eingangs erwähnten – nicht weniger intensiv als im Profisport, glaube ich. Und ehrlicherweise gibt es in meinem Leben nur wenig, das schöner ist als gemeinsam mit den Jungs 90 Minuten auf dem Platz zu stehen. Ich bin, und das haben wir im Verein alle gemeinsam, ein Fußballromantiker. 

WM im Wüstenstaat

Spätestens seit Mehmet Scholl in den Neunzigerjahren mit dem übergroßen Trikot, die Nummer 7 auf dem Rücken, beim FC Bayern München kickte, bin ich Anhänger des deutschen Rekordmeisters. Was für ältere Semester Franz Beckenbauer oder Gerd Müller waren, das waren für mich Frank Ribéry und Arjen Robben. Spieler, von denen ich meinen Enkelkindern noch erzählen werde. Mein erstes Bundesligaspiel als Zuschauer aber war die Partie FC Bayern München gegen Bayer Uerdingen im Jahr 1995. Der Verein heißt heute KFC Uerdingen und wird nächste Woche in der Oberliga Niederrhein gegen die Sportfreunde Hamborn 07 antreten. Von einer Rückkehr in die Bundesliga ist der Krefelder Stadtteilclub mittlerweile Lichtjahre entfernt. 

Während am 27. November auch in Hamborn gekickt wird, läuft im Fernsehen parallel das WM-Spiel Belgien gegen Marokko, das im Wüstenstaat Katar ausgetragen wird. Laut offiziellen Zahlen leben in Krefeld derzeit rund 227.000 Menschen. Das sind nur etwa 70.000 Einwohner weniger als es echte Kataris in Katar gibt, die in ihrem 2,9 Millionen-Einwohner-Emirat Minderheit und herrschende Kaste zugleich sind – und eine riesen Schar von Ausländern für sich arbeiten lassen, damit sie selbst ihre arabische Variante des Dolce Vita leben können. 

Katar hat viele Traditionen, die auf den Islam und das Beduinentum zurückgehen, darunter die Falkenzucht. Der Fußball gehört nicht dazu. Und dennoch gehört Katar der französische Rekordmeister Paris St. Germain, der mit die besten Spieler der Welt im Kader hat: Lionel Messi, Neymar und Kylian Mbappé. Während unseres 4-4 im September hatten wir genau einen Ausländer in der Startelf; mein Kumpel Scott kommt aus Kanada. Als Paris St. Germain im letzten Spiel vor der WM-Pause gegen AJ Auxerre angetreten ist, standen in der Startelf von Paris dagegen nur zwei Franzosen. Der Favorit siegte mit 5-0.

Rücksichtslose Kommerzialisierung

Der europäische Profifußball, will ich damit sagen, ist zunächst einmal internationaler geworden. Auch die deutsche Fußballbundesliga, nachdem zur Saison 2006/07 die so genannte „Ausländerregel“ abgeschafft wurde. Davor durften nur drei Ausländer pro Mannschaft auf dem Platz stehen. Der Liberale in mir, der eine Aversion gegen Quotenregelungen hat, findet das richtig. Der Fußballfan in mir ist sich jedoch bewusst, dass mit jeder Veränderung auch immer negative Folgen einhergehen. Das ist kaum irgendwo deutlicher zu sehen als beim Profifußball. 

Durch die Internationalisierung der jüngeren Zeit und die Kommerzialisierung, begonnen im Prinzip schon im Jahr 1958 mit ersten Verhandlungen zwischen der ARD und dem DFB über die Übertragungsrechte, hat sich der Profifußball insbesondere in den vergangenen gut 30 Jahren stark verändert. Die Gehälter und Transfersummen sind in die Höhe geschossen. Mit der Folge, dass die finanziellen Möglichkeiten der Vereine heute ungerechter verteilt sind als früher. Gleichzeitig sind die Kader austauschbarer geworden. Die Fluktuation beim Personal hat zu- und die Zahl der Identifikationsfiguren innerhalb der großen Vereine dadurch abgenommen. 

Und während die TSG Hoffenheim dank ihres Mäzens Dietmar Hopp heute oben mitspielt und mit Red-Bull-Millionen der Retortenclub RB Leipzig aus dem Boden gestampft wurde, kämpfen nicht wenige einst große deutsche Fußballvereine heute um ihre Existenz. Vor zwei Jahren musste zum Beispiel der 1. FC Kaiserslautern Insolvenz anmelden. Jene Mannschaft also, die ihre Heimspiele auf dem legendären Betzenberg im Fritz-Walter-Stadion austrägt. 

3. Halbzeit im Vereinsheim / Autor 

Hinzu kamen in den vergangenen Jahren dann noch allerlei Schnapsideen, darunter die Einführung des Videoschiedsrichters – was den Sport keinen Deut gerechter, sondern nur verwirrender gemacht hat – oder der Montagsspiele, die vor allem bei den aktiven Fanszenen für Empörung sorgten. Indem die Verantwortlichen den Spieltag noch weiter streckten als er ohnehin schon künstlich gestreckt worden war, erhoffte man sich bei der Vergabe der TV-Pakete wohl noch mehr Millionen, weil man den Hals halt nicht vollbekommen konnte.

Und während des lieben Geldes willen auch die Ticketpreise stark gestiegen sind, man gleichzeitig nur noch selten spontan an Karten kommt, muss man heute nicht nur einen Pay-TV-Sender abonnieren, wenn man alle Spiele der Fußballbundesliga und der Champions League sehen will, sondern gleich drei. Kurzum: Der Profifußball wurde in den vergangen Jahren gegenüber den Fußballfans derart rücksichtlos kommerzialisiert und internationalisiert, dass mir und vielen anderen Fußballromantikern das Herz blutet.

Auftaktspiel Ecuador 

An diesem Sonntag startet nun also die WM in Katar. Und plötzlich klinken sich, moralisch entrüstet, zahllose Kommentatoren in die Diskussion um diese WM ein, die sich in den vergangen Jahren nie mit den negativen Entwicklungen im Profifußball befasst haben. Lauthals wird gefordert, diese WM in der Wüste zu boykottieren. Ich teile die Kritik am Austragungsort, an der korrupten Vergabe durch die Fifa und an der Menschenrechtssituation im Emirat. Doch zur Wahrheit gehört eben auch: Diese WM ist kein einmaliger Ausrutscher, sondern eine logische Konsequenz der angesprochenen Kommerzialisierung und Internationalisierung des Profifußballs in den vergangenen Jahren. Nur ein weiteres Ereignis, das die Seele des Sports frisst.  

Und ich frage mich, warum erst die WM in Katar kommen musste, damit die große Entrüstung um sich greift? Geht es tatsächlich um die Sache, oder ist die flächendeckende Empörung nur ein weiterer Ausdruck eines zeitgeistigen Opportunismus, der sich in Gratismut in den sozialen Medien und in großen Worten in den Meinungsspalten der Gazetten dieser Republik entlädt? Vor allem aber frage ich mich: Wo waren all diese Kritiker in den vergangen Jahren, als Fangruppen längst völlig zu Recht gegen die Ausbeutung ihres Sports wegen finanzieller Interessen auf die Barrikaden gingen?

Es ist mittlerweile elf Jahre her, dass Paris St. Germain von einer katarischen Investorengruppe übernommen wurde. Drei Jahre zuvor hatten sich die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), genauer Abu Dhabi, bereits Manchester City einverleibt. Der Hauptsponsor – und mittlerweile sogar Namensgeber der Spielstätte – von Arsenal London ist seit 2006 die VAE-Fluglinie Emirates. Von den vielen Top-Clubs, die heute irgendwelchen Milliardären gehören, die sich Mannschaften kaufen wie man in sich in derlei Kreisen ansonsten Jachten und Sportwagen kauft, noch ganz zu schweigen. Der FC Chelsea etwa war bis vor wenigen Monaten noch Eigentum des stinkreichen Russen Roman Abramowitsch. Will heißen: Katar ist vor allem ein Symptom eines an Hybris und Gier erkrankten Sportbusiness und seiner Profiteure. 

Schleusentor für Schleusentor 

Denn mit dem Profifußball ist es wie mit der Politik. Die unschönsten Veränderungen geschehen selten von heute auf morgen, sondern entwickeln sich über die Zeit. Wie viele kleine Schleusentore, von denen immer wieder eines geöffnet wird. Wie das sprichwörtliche Fass, das sich füllt und füllt, bis der eine Tropfen kommt, der es zum Überlaufen bringt. Ich werfe niemandem vor, dass er Katar für sein Gesellschaftssystem kritisiert. Ganz im Gegenteil. Was ich den vielen entrüsteten Kommentatoren da draußen aber sehr wohl vorwerfe, ist, dass dafür die WM in Katar nun als Vehikel genutzt wird. Gerade so, als hätte das Unrecht im Wüstenstaat erst mit dem Bau der Stadien begonnen. 

Es ist schlicht ein Unding, dass mit Blick auf die Wüsten-WM seit Monaten ein polit-medialer Druck aufgebaut wird, mit dem einem Fußballfan, der seit Jahren die negativen Entwicklungen in seinem Lieblingssport sieht und kritisiert, nun Handlungsanweisungen gegeben werden, wie er sich angesichts der WM 2022 zu verhalten hat. Dass Ultra-Gruppierungen für einen Boykott dieser WM werben ist legitim, weil konsequent. Dass sich Leute, für die der Fußball immer nur irgendein alternatives Entertainment-Programm war, durch aufgeregte Posts und empörte Meinungsbeiträge moralisch zu profilieren versuchen, ist dagegen ein schlechter Witz.

Kribbeln unter der Haut

Kommen wir abschließend also zur Gretchenfrage: Werde ich mich dem Boykott anschließen? Um ehrlich zu sein: Ich werde mir wahrscheinlich nicht nur die deutschen Spiele ansehen, sondern noch einige mehr. Denn auch ich kann nicht raus aus meiner Haut. Katar, ja, mag in Teilen ein Unrechtsstaat sein, aber der Fußball ist eben der großartigste Sport, den diese Welt zu bieten hat. Der Fußball selbst wohlgemerkt, nicht die Funktionärselite dahinter. Das ist wie mit der Kirche und dem Glauben. Vor allem aber will ich mir nicht entgehen lassen, wie die Nationalmannschaft von Katar (hoffentlich) an die Wand gespielt wird und die Verantwortlichen auf der Tribüne bedröppelt drein gucken in ihren weißen Gewändern. Das wäre ein bisschen Genugtuung. 

Während ich diesen Text schreibe, fühle ich bereits ein angenehmes Kribbeln, weil bald die WM beginnt. Ein Termin steht schon fest: Am Sonntag, den 27. November, an jenem Nachmittag, an dem der KFC Uerdingen in Hamborn zu Gast ist, werde ich mich mit U-Bahn und Bus auf den Weg zu einem der schönsten Orte der Welt machen: in unser Vereinsheim. Dort werden dann eine Handvoll Fußballromantiker bei dem ein oder anderen Bier über ihren Lieblingssport philosophieren und in Erinnerungen schwelgen an früher; an damals, als die Fußballwelt noch halbwegs in Ordnung schien.

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