Ende der Debattenkultur - Zu sensibel für die Demokratie

Immer mehr Menschen haben Angst davor, in der Öffentlichkeit ihre Meinung zu äußern. Was als Zunahme von Hass und Diskriminierung gewertet wird, kann auch Anzeichen für übersteigerte Verletzlichkeit sein. Besteht die eigentliche Gefahr für die Demokratie in einem neuen Zartgefühl?

Abschottung vor dem vielfältigen und manchmal chaotischen Diskurs: Immer mehr Menschen trauen sich nicht, ihre Meinung zu sagen / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Sprich! Mich! Nicht! An! Der augenscheinlich schädlichste Satz, den man sich in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt vorstellen kann, scheint zum Credo eines neuen Biedermeiers geworden zu sein; und das schon seit geraumer Zeit. Überall zieht man sich aus den Debatten heraus, ja sieht die Debatte selbst schon als eine Art Zumutung an. Man sollte den eingangs zitierten Satz daher nicht nur ins private Poesiealbum, sondern besser gleich ins Grundgesetz aufnehmen; noch in die einleitende Präambel: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen schmollt jeder im Deutschen Volk Kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt für sich allein! 

Dann nämlich wäre endlich Ruhe. Niemand müsste mehr Angst haben, auf offener Straße nach seiner Meinung gefragt oder gar von der schäbigen Haltung eines anderen belästigt oder verletzt zu werden. Keine Diffamierung, keine Bespuckung und keine Beleidigung mehr! Und mit den ganzen Hate Crime-Delikten wäre dann auch erstmal Schluss. Der Demos, einst Wirkkraft von Recht und Freiheit, er ist eben kein Ort für Hypersensibelchen wie wir es nun einmal sind. Endlich also Frieden, oder zumindest eine Art außerparlamentarische Friedhofsruhe! 

Laut einer oft zitierten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zusammen mit dem Medienforschungsinstitut Media Tenor würde das einem wachsenden Teil der Bevölkerung vermutlich entgegenkommen. Demnach nämlich waren Ende des vergangenen Jahres ohnehin schon 44 Prozent der befragten Deutschen der Meinung, dass sie mit freien Meinungsäußerungen vorsichtig sein müssten. Nur noch 40 Prozent gaben damals an, dass sie ihre politische Meinung frei äußern könnten. Einzige Ausnahme: die Wähler von Bündnis 90/Die Grünen. 75 Prozent dieser Untergattung des nun vor dem Aussterben bedrohten deutschen Souveräns gaben im Dezember jedenfalls noch an, bei politischen Fragen frei reden zu können. Gut, könnte man da meinen, dann ist wenigstens eine Gruppe noch an den diffizilen Aushandlungsprozessen im liberal-demokratischen Rechtsstaat beteiligt. Wenn die anderen eben nicht wollen …, bitteschön! 

Schluss mit dem Gezanke!

Doch, ach! Auch die Parteigänger der einstigen Friedens- und Ökopartei – die also, auf deren Parteitagen vor Jahren noch Farbbeutel flogen und die einstmals nicht müde wurden, ihre Kommunarden grobschlächtig in opportunistische Realos und weltverlorene Fundis zu teilen – wollen in der politischen Öffentlichkeit nun lieber auf fragil und zerbrechlich machen. Piep, piep, piep ... Laut einer jüngst vorgelegten Publikation aus dem Bundesfamilienministerium zumindest sind besonders sie es (71 Prozent), die mittlerweile mehrheitlich die Meinung äußern, ihre politische Haltung würde im Internet und, so zumindest die weitergehende Befürchtung, bald auch weit darüber hinaus Hass und Hetze auf sich ziehen.

Machen wir also der Streiterei ein Ende. Der Deutsche hat’s doch eh viel lieber gemütlich. Mochte Friedrich Hölderlin in seinem berühmten „Hyperion“ noch behaupten, die Seele der Deutschen sei „harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes“, die Wissenschaft hat ihn in diesem Punkt längst widerlegt. Bereits 1965 kamen die US-amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba in ihrer zum damaligen Zeitpunkt bahnbrechenden Untersuchung zur „Bürgerkultur“ zu dem für Insider gewiss wenig überraschenden Ergebnis, es gäbe besonders im postfaschistischen Deutschland einen ausgeprägten Hang zu Etatismus und Obrigkeitsdenken. Von Wegen also Kulturkampf oder Gesellschaftsspaltung; der Deutsche liebt seine Harmonie bis zum Abwinken. 

Die verletzliche Gesellschaft

Sind es also vielleicht gar nicht so sehr die wachsenden Anfeindungen oder die marktschreierischen Positionierungen von rechts wie von links, die uns aus der demokratischen Kultur herauszudrängen versuchen? Geht es vielmehr um zunehmende Verletzlichkeiten? Die Rechtsphilosophin Frauke Rostalski, immerhin Mitglied im Deutschen Ethikrat, spricht längst von einer „vulnerablen Gesellschaft“. Ihrer Meinung nach sind wir in Deutschland sogar mehr und mehr dazu bereit, Einschränkungen unserer individuellen Freiheit hinzunehmen, wenn wir damit nur dem gesteigerten Sinn für Verletzbarkeit gerecht werden können. Und das gelte laut Rostalski eben nicht nur bei der Corona-Pandemie oder beim Schutz vor Diskriminierung; eine besondere Gefahr sieht die Kölner Rechtswissenschaftlerin beim Diskurs selbst, mithin bei der DNA einer jeden offenen Gesellschaft: „Diskursvulnerabilität“ nennt Rostalski das, was der Demokratie möglicherweise bald den Garaus machen könnte.
 

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Wir sind also zu sensibel geworden für die Meinung des Anderen. Bollerköpfe wie einst Strauß, Wehner oder Geißler wären heute wohl längst mit Triggerwarnungen versehen. Die „Generation Krokodilstränen“, wie die Berliner Journalistin Pauline Voss jüngst die meist jungen Anhänger des neuen demokratischen Zartgefühls in ihrem gleichnamigen Buch genannt hat, spart lieber ein paar unangenehme Wahrheiten aus, als dass sie sich gegenseitig schmerzlich auf den Füßen rumstünde. Diejenigen, die laut Voss ihre „Diskriminierungserfahrungen und Minderheitenzugehörigkeiten wie Schmisse präsentieren“, beginnen beredet zu schweigen, sobald es um die wahren Konflikte in der demokratischen Auseinandersetzung geht.

Der unaussprechliche Name

Und dieses neuartige Schweigegelübde kennt viele Namen. Namen, die wie der alttestamentarische Gott oftmals unaussprechlich und unbenannt bleiben. Das N-Wort zum Beispiel, das I-Wort, das Z-Wort. Erst im Schweigen mutieren sie zu sakraler Größe. Er ist es nämlich, das heilige Tetragramm, der unaussprechliche Name, der in der Ordnung des Diskurses das eigentliche Machtzentrum bildet. Machen wir uns also nicht länger was vor, formen wir aus unserer Schneeflöckchenexistenz lieber gleich einen ordentlichen Gesetzestext. Es muss ja nicht gleich das eingangs erwähnte Grundgesetz sein, aber irgendwo muss man halt anfangen. 

Der Kabarettist Florian Schroeder, laut Selbstauskunft eigentlich „Fan von Austauschsphären“, hat Anfang der Woche schon mal was vorformuliert. In einem lebhaften Disput mit dem Journalisten Julian Reichelt definierte Schröder die neue Lex silentia kurzerhand so: „Es gibt kein Recht, im öffentlichen Raum so zu sprechen, wie im privaten." Bis dato mag ein solcher Gedanke zwar noch mit Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes kollidieren, doch im Kern geht Schroeders Novelle in die richtige Richtung. Sie atmet den gleichen Geist, wie etwa der jüngst vom Ampel-Kabinett vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Schwangerschaftkonfliktgesetzes zur sogenannten Gehsteigbelästigung. Denn fürwahr: Meinungen sind Zumutungen, vor allem dann, wenn es die Meinungen der anderen sind.

Susan Neiman im Gespräch mit Ralf Hanselle
Cicero Podcast Gesellschaft: „Hoffnung ist nicht utopisch“
  

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