Kurz und Bündig - Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne

Die Katastrophe trifft die Welt unvorbereitet und scheinbar aus dem Nichts, denn niemand lebt mehr, der sich an ihre Vorläufer erinnern könnte. Für die meisten beginnt sie anderswo, so hält sich kaum jemand für betroffen. Dann aber rasen Schockwellen um den Globus, richten in aller Welt unvordenklichen Schaden an – und klingen nach kurzer Zeit ebenso rasch ab, wie sie aufgetreten sind.

Die Katastrophe trifft die Welt unvorbereitet und scheinbar aus dem Nichts, denn niemand lebt mehr, der sich an ihre Vorläufer erinnern könnte. Für die meisten beginnt sie anderswo, so hält sich kaum jemand für betroffen. Dann aber rasen Schockwellen um den Globus, richten in aller Welt unvordenklichen Schaden an – und klingen nach kurzer Zeit ebenso rasch ab, wie sie aufgetreten sind. Im Gedächtnis einer Menschheit, die sich an kaum etwas so gern erinnert wie an das eigene Ausgeliefertsein, bleibt kaum eine Spur. Die Rede ist weder von der Finanzkrise noch von einem Meteoriteneinschlag, sondern von der Grippe. Als «spanische» bezeichnet, weil der spanische König zu den ersten Erkrankten zählte, forderte sie zwischen 1918 und 1920 weltweit mindestens 50 Millionen Tote – deutlich mehr als der Erste Weltkrieg, mit dessen Ende sie zusammenfiel. Ihre Geschichte erzählt der Berliner Arzt und Historiker Wilfried Witte in seinem so faktenreichen wie flott zu lesenden Buch «Tollkir­schen und Quarantäne». Der Titel verweist auf die Hilflosigkeit einer Medizin, die erst durch die Pandemie zu verstehen begann, was Viren sind, und außer dem physischen Schutz vor Ansteckung oder dem Belladonna-Sud eines bulgarischen Wunderheilers nicht viel aufzubieten hatte. Die Leute halfen sich mit Galgenhumor und dichteten Spottlieder auf die Influenza. Wenn die Fotos von Bürgersleuten mit Atemmasken heute auch komisch anmuten, war die Sache doch bitterernst: Allein in Deutschland starben mindestens 300.000 Menschen an der Spanischen Grippe, die im Unterschied zu früheren Epidemien auch unter scheinbar gesunden Personen in der Lebensmitte grassierte. Zu den prominenten Opfern des tödlichen Zusammenspiels von Virus und schlummernder Tuberkulose gehörte Franz Kafka, dessen Krankengeschich­te Witte unter anderen skizziert. Der Versuch, hier eine Künstlerpersönlichkeit mit ihrer Kranken-Akte kurzzuschließen, hinterlässt allerdings Unbehagen. Aufschlussreich ist hingegen Wittes Nachvollzug der begrifflichen Abgrenzung des wissenschaftlichen Krankheitsbildes: Das Wort Grippe als Nebenform von Grille meint ja die Laune, also den Einfluss des Mondes – so wie die Influenza jenen der Sterne. Überzeugen kann der Autor auch als Medizinhistoriker: Er macht plausibel, wie der Krieg die Pandemie befördert hat – verkneift sich aber die womöglich spannendere Gegenfrage nach dem Einfluss der Grippe auf das politische Geschehen der Jahre 1918/19. Am Ende ein ärztlicher Blick in die Zukunft: Witte sieht die Gefahr einer Vogelgrippe-Pandemie, beschreibt aber auch die Fortschritte bei Überwachung, Impfschutz und Medikation – und warnt vor einer hysterischen Massen-Prophylaxe mit antiviralen Wirk­stoffen, die nur die Erreger resistent machen würden.

 

Wilfried Witte
Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe
Wagenbach, Berlin 2008. 124 S., 16,90 €

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