Corona-Aufarbeitung - Schwarz-Weiß-Denken

Egal ob RKI-Files, Impfstoffverträge oder SMS-Gate: Eine wirkliche Aufarbeitung der Corona-Krise wird erst stattfinden, wenn alles auf den Tisch kommt. Es wird Zeit, dass die europäischen Bürger mehr Transparenz einfordern.

Blick ins Schwarze: Unterlagen mit Schwärzungen / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die Moderne ist schwarz. In kleinem Format und umrandet von großzügigem Weißraum schluckt sie das Licht in der ehrwürdigen Tretjakow-Galerie an Moskaus berühmter Lawruschinski-Gasse. Kasimir Malewitschs Gemälde „Das schwarze Quadrat“ ist hier in über hundert Jahren Kunstgeschichte zu einer Ikone herangereift. „Der Aufstieg zu den gegenstandslosen Höhen der Kunst ist mühselig und voller Qualen“, hatte Malewitsch selbst im Jahr 1915 über diesen historisch einzigartigen Versuch geschrieben, mit der Geschichte der klassischen Darstellungsweisen tabula rasa zu machen.

Manch ein Politiker von heute, der sich mit diesem Statement des Ikonenmalers des Suprematismus konfrontiert sieht, dürfte Vergleichbares empfinden. Denn der Versuch, zu den gegenstandslosen Höhen der Politik aufzusteigen, scheint mit ganz ähnlichen Mühen verbunden zu sein. Es ist nämlich durchaus nicht einfach, Geschichte vergessen zu machen. Schon gar nicht jene Geschichte, die wir alle erlebt haben und die gerade erst vor unseren Augen vorübergezogen ist. 

Schwärzungen sind für dieses Streben nach der perfekten Amnesie daher noch immer das geeignete Mittel der Wahl. Denn der schwarze Abgrund Unendlichkeit, der jegliche Erkenntnis vor aller Augen verschluckt, er saugt alles in seinen düsteren Schlund hinein: „Alles, was wir geliebt haben, ist verloren gegangen“, war sich die Kunstkritik bereits weitestgehend einig, als sie mitten im Ersten Weltkrieg erstmals vor Malewitschs 80 x 80 Zentimeter großem Schwarzfeld stand. „Wir sind in einer Wüste!“, so der beängstigte Ausruf damaliger Hochkultur in Anbetracht des totalen Nichts der Avantgarden.

Kleine schwarze Löcher

Manch einer mag sich an diese Worte erinnert fühlen, wenn er heute die Dokumente und Akten aufschlägt, die von den eigentümlich zähen drei Jahren der zum Glück hinter uns liegenden Corona-Pandemie erzählen. Denn immer wieder fällt hier die Erkenntnis in kleine schwarze Löcher hinein. Wie durch Säurefraß verursacht haben sich diese in das sonst strahlendweiße Papier der Amtsschimmel und Zeitkonservatoren eingenistet.

Schwarze Indizierungen – wir sehen sie morgens, wir sehen sie mittags, wir sehen sie abends. Mal findet man sie auf den im vergangenen Jahr freigeklagten Protokollen des deutschen Corona-Expertenrates wieder, dann auch auf den jüngst vor einem Gericht erstrittenen RKI-Files. Schwarz sind ganze Seiten auf den Impfstoffverträgen, die die EU-Kommission einst mit dem Pharmariesen Pfizer abgeschlossen hat, und in völliger Dunkelheit ruhen gar jene Kurznachrichten, mit denen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Frühjahr 2021 einen Impfstoffvertrag über 1,8 Milliarden Impfstoffdosen mit einem geschätzten Wert von mindestens 20 Milliarden Euro Steuergeldern abgeschlossen haben soll („SMS-Gate“). Das zumindest hatte die deutsche Kommissionspräsidentin schon im April desselben Jahres gegenüber Journalisten der New York Times ausgeplaudert. 

Wo also eigentlich Transparenz walten sollte, schauen wir in Abgründe und in Leere hinein. Die dieser Tage immer wieder lautstark eingeforderte Aufarbeitung über die Jahre der Pandemie, sie trifft zwar ins Schwarze, meint dort aber vor allem die lichtabweisenden Sichtblenden für das allzu wissbegierige Auge des Souveräns. Was der nicht weiß, macht ihn zwar heiß, schützt die politisch Verantwortlichen aber vorerst vor lästiger Informationsgleichheit.

Zwar hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nach anfänglichen Windungen und Ausflüchten nun angekündigt, er werde die Paravents der Erkenntnisbildung zumindest bei den RKI-Files in Kürze weitestgehend beiseite räumen, doch dafür müsse das RKI nun erst einmal klären, ob die in den Protokollen genannten Krisenstabsmitglieder mit einer solchen Entschwärzung überhaupt einverstanden sind. „Dies wird eine Zeitlang dauern“, so der SPD-Minister jüngst gegenüber dem Deutschlandfunk. Er rechne mit gut vier Wochen.

Falscher Erkenntniseifer

Möglicherweise könnte sich die neue Transparenzoffensive des Bundesgesundheitsministers, der in der Vergangenheit noch jede Evaluationsbestrebung und jeglichen Sachverständigenausschuss torpediert hatte, dann ohnehin erledigt haben. Das Onlinemagazin Multipolar nämlich, das die Veröffentlichung der Protokolle gerichtlich erzwungen hatte, klagt längst selbst auf Entschwärzung des mehr als 1000-seitigen Dokuments. Der Termin für die mündliche Verhandlung: Montag, der 6. Mai, um 9:30 Uhr. Die Weißmalerei des notorischen Schwarzsehers Karl Lauterbach könnte sich also spätestens dann als plumpe Räuberpistole entpuppt haben, mit der sich der Minister medienwirksam den Weg an die Spitze der Aufklärer freischießen wollte. Getreu dem Motto: Bevor es zu spät ist!

Bewegung scheint derweil aber auch in die geschwärzten Impf-Deals der Ursula von der Leyen gekommen zu sein; und das mitten im anstehenden EU-Wahlkampf. Das Magazin Politico jedenfalls berichtet, dass mittlerweile die Europäische Staatsanwaltschaft (EuStA) unter der Leitung der rumänischen Korruptionsbekämpferin Laura Codruta Kövesi die Ermittlungen in Sachen „SMS-Gate“ übernommen habe. Ja, mehr sogar: Ermittler der EuStA hätten belgische Staatsanwälte abgelöst, die seit langem bereits wegen Einmischung in öffentliche Ämter, Zerstörung von SMS, Korruption und Interessenskonflikten gegen die Kommissionspräsidentin ermittelt hatten.

Die Information stamme laut Politico direkt von einem Sprecher der Lütticher Staatsanwaltschaft, die bis vor kurzem noch der Klage des belgischen Lobbyisten Frederic Baldan sowie der einiger weiterer Beschwerdeführer nachgegangen war. In der Lesart dieser Kläger habe sich Ursula von der Leyen einst strafbar gemacht, als sie Anfang 2021 ganz ohne Mandat über mehrere Monate hinweg direkt mit Pfizer-Chef Bourla einen damals dritten Impfstoffvertrag per SMS ausgehandelt hatte, mit dem der US-Konzern später zu einem Quasi-Monopolisten auf dem europäischen mRNA-Impfstoffmarkt aufgestiegen war. Ob die Vorwürfe stimmen? Die Wahrheit liegt wohl auch hier im Dunkeln.

Falsche Zuständigkeit

Baldan selbst widerspricht den Angaben von Politico zum neuen Engagement der Europäischen Staatsanwaltschaft. Ihm jedenfalls lägen die Informationen aus Lüttich nicht vor, nach denen die EuStA seinen Fall an sich gerissen habe – auch wenn es durchaus Bestrebungen der EuStA gegeben habe, die Angelegenheit an den Sitz der seit Juni 2021 tätigen unabhängigen EU-Einrichtung zu holen, zumal man dort schon seit längerem in Sachen Vakzinankauf ermittelt.

Laut Baldans Anwältin Diane Protat wäre eine solche Übernahme jedoch schon aus formalen Gründen nicht möglich, da die belgischen Ermittlungsrichter unabhängig agierten und die EuStA lediglich im Fall von Korruption, Geldwäsche und Betrug aktiv werden könne. Sie sind in den Bestrebungen nur der leidige Versuch, die Untersuchungen gegen Usula von der Leyen zu verzögern. Zudem hätten sich mit Polen und Ungarn mittlerweile auch europäische Regierungen der Klage aus Belgien angeschlossen, von denen zumindest eine den Vertrag zur EuStA gar nicht ratifiziert habe. Kurz und gut, der Politico-Artikel, der mittlerweile auch von anderen Medien aufgegriffen worden ist, sei im Kern kaum mehr als eine „verrückte Geschichte“, wie Diane Protat vermutet.

 

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Wahr indes scheint zu sein, dass seit geraumer Zeit auch osteuropäische Regierungen gegen die Geheimniskrämerei der deutschen Konservativen an der Spitze der Brüsseler Kommission klagen. Das mag in diesem Fall jedoch weniger an den Schwärzungen liegen als vielmehr daran, dass Pfizer selbst mittlerweile dazu übergegangen ist, Polen und Ungarn wegen ausbleibender Zahlungen für überschüssige Impfstoffdosen zu verklagen. 

Bitte nicht lesen!

Am Ende also: Unfriede und Unwissenheit, wohin man schaut. Statt immer mehr Durchsicht und Klarheit gibt es allerorten nur tiefere Schwärze. Das Licht der Aufklärung scheint auf die Finsternis zu treffen, und die Finsternis kann es auf diese Weise nicht ergreifen. „Wenn die Europäer Vertrauen in unsere Union haben sollen, müssen ihre Institutionen offen und über jeden Vorwurf in Bezug auf Ethik, Transparenz und Integrität erhaben sein“, hatte Ursula von der Leyen zu Beginn ihrer jetzigen Amtszeit als Kommissionspräsidentin als politische Leitlinie ausgegeben. Von Schwärze war damals nicht die Rede. Weder in Berlin, noch in Brüssel.

Die Corona-Krise aber hat die europäischen Bürger etwas anderes gelehrt. Mitmachen sollte hier am Ende jeder, mitlesen aber besser nicht. So sind die unzähligen Schwärzungen in den Dokumenten und Unterlagen längst zum Sinnbild des daraus erwachsenen Schwarzweißdenkens geworden. Denn auf dem Boden des Misstrauens gedieh zunächst und vor allem das Vorurteil. Wer aber aufarbeiten möchte, der muss endlich reinen Tisch machen: Wo also Schwarz war, soll Weiß werden! Soviel Transparenz sollten wir uns und unserer Demokratie schuldig sein.
 

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