Ukraine-Krieg und demografischer Wandel - Pro allgemeine Dienstpflicht: Einer für alle und alle für einen

In Deutschland wird über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht diskutiert. Eine Idee, die richtig ist, weil es eben genau nicht darum geht, jungen Menschen ein Jahr ihres Lebens zu stehlen, sondern den Begriff der Solidargemeinschaft wieder mit Leben zu füllen. Mit symbolischen Gesten allein lassen sich der Pflegenotstand nämlich nicht abmildern und Land und Leute auch nicht verteidigen. Hinzu kommt: Wer heute hilft, könnte bald schon zu jenen gehören, die selbst Hilfe brauchen.

Geben und Nehmen: Bewohner eines Altenheims / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Hier argumentiert Cicero-Redakteur Ben Krischke für eine allgemeine Dienstpflicht. Zeitnah folgt ein Kontra-Beitrag an gleicher Stelle.

Es gibt Momente, die brennen sich ein ins Gedächtnis und begleiten einen ein Leben lang. Einer dieser Momente ist ein kurzer Dialog, den ich im zarten Alter von 19 Jahren führte. Wie jede zweite Woche zu dieser Zeit, nahm ich morgens die Trambahn aus der Augsburger Innenstadt gen Osten, stieg aus, lief die letzten Meter den Berg hoch und eine schöne Allee entlang, um kurz darauf meinen täglichen Dienst in jener psychiatrischen Einrichtung anzutreten, für die ich mich als Praktikumsstelle entschieden hatte.

Schon von weitem begrüßte mich Frau Sonntag – die tatsächlich anders hieß, aber ähnlich schön – lächelnd und winkend. Frau Sonntag war eine ältere, rundliche Dame, stets heiter, die in ihrem Leben zu viel Gewalt und anderes Unschönes erfahren hatte. Ihr Alltagsleben hatte sie ganz gut im Griff, aber ihren Kopf nicht, der ihr manchmal Seltsames zuflüsterte oder sie Dinge sehen ließ, die gar nicht da waren. Frau Sonntag kam auf mich zu, lächelte und dann plötzlich nicht mehr. „Alles in Ordnung, Frau Sonntag?“, fragte ich. „Mein Sohn ist tot“, sagte sie. Auch er war psychisch krank – und hatte sich tags zuvor aus dem Fenster gestürzt. „Aber“, sagte Frau Sonntag und lächelte wieder, „aber dann sind Sie ab heute halt mein Sohn“.

Gepäckmärsche im Wald

In Deutschland wird mal wieder über die Reaktivierung der ausgesetzten Wehrpflicht respektive des Zivildienstes diskutiert. Der Begriff der „allgemeinen Dienstpflicht“ steht im Raum. Wahrscheinlich, damit das, was damit gemeint ist, nicht allzu sehr nach Bundeswehr klingt. De facto geht es darum, dass junge Menschen für einen begrenzten Zeitraum einer gemeinnützigen Tätigkeit nachgehen müssen, im sozialen, ökologischen, militärischen oder kulturellen Bereich. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist dafür, spricht gleichwohl von einer „sozialen Pflichtzeit“, was noch weniger nach Bundeswehr klingt. Mitglieder der Ampel-Koalition sind eher skeptisch, während sich die CDU offen zeigt für eine inhaltliche Debatte. Ebenfalls dagegen scheinen derzeit Gewerkschaften und Sozialverbände, während etwa der Pflegerat dafür ist.
 

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Um bei der Wahrheit zu bleiben, war ich weder beim Bund, noch musste ich Sozialdienst leisten. Einfach, weil ich vergessen wurde. Allerdings war ich trotzdem in sozialer Mission unterwegs, weil wir als Schüler im Sozialzweig einer bayerischen Fachoberschule ein Pflichtpraktikum in einer entsprechenden Einrichtung leisten mussten. Ich entschied mich damals für eine Krankengymnastin, die mit schwerstbehinderten Menschen arbeitete, und eben für die Arbeit mit psychisch Kranken. Im Augsburger Osten halfen wir dabei, Menschen mit einem ganzen Potpourri an psychischen Krankheitsbildern wieder ins Leben zu integrieren, indem wir sie mit einfachen Tätigkeiten – Handarbeit, Gartenarbeit oder dem Verpacken von Ware im Auftrag – ans Berufsleben heranführten. Außerdem aßen wir zusammen und musizierten oder bastelten gemeinsam, hinzu kamen wöchentliche Therapiegespräche und anderes. 

Für ihre Arbeit bekamen unsere Klienten (nicht „Patienten“) ein kleines Gehalt. Und alles, was etwa durch den Verkauf von Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten erwirtschaftet wurde, floss zurück in die Finanzierung der Einrichtung, auf deren Grundstück manche Klienten auch wohnten, andere kamen morgens ganz normal zur Arbeit. Und weil die elfte Klasse an der Fachoberschule – inklusive Pflichtpraktikum im Wochenwechsel – so schön war, dass ich sie gleich zweimal absolvierten musste, kann ich heute besten Gewissens behaupten, einen sozialen Pflichtdienst geleistet zu haben. In der Summe nämlich ein ganzes Jahr – und überdies, dass ich eine, wie auch immer ausgestaltete allgemeine Dienstpflicht für eine sehr gute Idee halte.

Ein Jahr voller Erfahrungen

Warum bin ich dafür? Nicht, weil ich jungen Menschen ein Jahr ihres Lebens stehlen möchte, sondern, um ihnen unter anderem ein Jahr voller Erfahrungen zu schenken, in dem sie zwischen Schule und Ausbildung oder Studium den ein oder anderen Moment erleben können, der sich in ihr Gedächtnis einbrennen und sie ihr Leben lang begleiten wird. So etwas hilft dann übrigens auch bei der beruflichen Orientierung: Ich schwankte dereinst zwischen Journalismus und Heilpädagogik, entschied mich dann aber für Ersteres. Ob das die bessere Wahl war, nunja, darüber ließe sich an anderer Stelle diskutieren. 

Insbesondere jenen jungen Menschen, die aus der Schule direkt ins Studium katapultiert werden, fehlt heute zudem ein entscheidender Zwischenschritt, finde ich, der ihnen vor Augen führt, dass das echte Leben eben anders ist als das Campus-Leben, dass es in der realen Welt nicht darum geht, Credit Points zu sammeln, sondern um echte Herausforderungen und Probleme, die bisweilen existenziell sind. Denn die allermeisten Studenten kommen nach wie vor aus jenen sozialen Schichten, deren Vertreter beispielsweise am Ende des Monats noch mehr als genug Geld übrig haben. Und überdies, wie soziales Engagement wirklich aussieht. Abseits symbolischer Gesten in den sozialen Medien oder anderswo. Das ist das eine.

Das andere ist dies: Dass es wieder Krieg in Europa gibt, ist eine Zäsur, die uns allen schmerzhaft vor Augen führt, dass die Freiheit, in der wir leben, nicht selbstverständlich ist und notfalls auch mit der Waffe in der Hand verteidigt werden muss. Auf der anderen Seite zwingt uns der demografische Wandel, neue Wege wenigstens anzudenken, wie sich soziale Einrichtungen entlasten und Menschen, die sich der Pflege oder einer anderen Arbeit am respektive mit Menschen verschrieben haben, unterstützen lassen. Warum also nicht junge Leute, gesund und fit, für ein Jahr verpflichten, sich nicht nur solidarisch zu zeigen, sondern wirklich solidarisch zu sein? Damit würde man nicht zuletzt den Begriff der Solidargemeinschaft wieder angemessen mit Leben füllen.

Vergleiche mit der Sklaverei

Dass ich der Meinung bin, dass eine allgemeine Dienstpflicht eine gute Idee ist, schrieb ich jüngst auch auf Twitter. Ein Nutzer antwortete: „Staatlich erzwungene Arbeit sollte in einem demokratischen Rechtsstaat nicht einmal angedacht werden.“ Ein ähnlicher Tenor ist im Netz vielfach, gerade auch aus der liberalen Ecke, zu vernehmen. Wobei „staatlich erzwungene Arbeit“ noch eine der freundlichsten Umschreibungen der Dienstpflicht-Gegner ist. Ich habe auch schon Vergleiche mit der Sklaverei gelesen – und ich finde, dass derlei Vergleiche großer Blödsinn sind. Ansonsten ist die zugrundeliegende Perspektive bei der Ablehnung meist zu einseitig.

Gegner bewerten – zumindest demzufolge, was ich so lese – eine allgemeine Dienstpflicht nur aus Sicht jener, die sie leisten müssten. Nicht aber aus Sicht derer, die davon profitieren würden. Dazu zählen nicht nur Menschen wie Frau Sonntag, sondern im Prinzip wir alle. Auch deshalb, weil jeder, der heute Hilfe leistet – und sei sie verpflichtend – selbst schon bald auf Hilfe angewiesen sein könnte. Für mich wäre eine allgemeine Dienstpflicht deshalb keine Zwangsarbeit, sondern würde eher auf einer Stufe mit, sagen wir, den Rentenbeiträgen stehen, die wir alle leisten, um – die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – irgendwann ebenfalls Rente zu bekommen.

Oder auf einer Stufe mit einer behindertengerechten Infrastruktur, die durch Steuern finanziert wird. Oder damit, einzugreifen, wenn jemand auf offener Straße verprügelt wird. Oder damit, hin und wieder mal nach der älteren Nachbarin zu sehen. Denn so funktionieren Solidargemeinschaften, im Kleinen wie im Großen, nun mal. Dass jeder nicht nur nimmt, wenn er braucht, sondern auch gibt, wenn er kann. Und wer könnte besser geben als junge Menschen, die gerade mit der Schule fertig sind und noch kaum private Verpflichtungen haben? Eben.

Man muss schon auch anpacken

Daher ein konkreter Vorschlag meinerseits: Wir sollten die allgemeine Dienstpflicht für die Jahrgänge ab 2010 einführen, weil jene, die heute Jugendliche sind, während der Corona-Pandemie schon genug Zeit und Leben verloren haben. Und ich finde außerdem, dass junge Leute, die sich aus freien Stücken für die Gemeinschaft engagieren, die Möglichkeit bekommen sollten, sich dieses Engagement in irgendeiner Form anrechnen zu lassen. Ich sehe nämlich nicht, warum ein junger Mensch, der seit Jahren, sagen wir, junge Fußballer trainiert, genauso verpflichtet werden sollte wie jene, die kein Ehrenamt inne haben und deren Leben sich primär um sich dreht.

Mit sozialen Engagement meine ich also nicht, freitags die Schule zu schwänzen, um gegen den Klimawandel zu protestieren, oder sich in den Sozialen Medien solidarisch mit wem auch immer zu zeigen. Mit symbolischen Gesten allein schützt man weder Land noch Leute – und das reine Gerede und Getwittere von der Schutzbedürfigkeit vulnerabler Gruppen führt auch nicht dazu, dass Menschen wie Frau Sonntag und andere die Betreuung erhalten, die sie benötigen und verdienen. Dafür muss man selbstlos anpacken. Alexandre Dumas lässt grüßen: Einer für alle und alle für einen.

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