„Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre - Das Wort „Roman“ als Schutzbehauptung

Der vor allem im Medienbetrieb mit Spannung erwartete neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre ist vor allem das Porträt zweier Machtmenschen, die lange den Springer-Verlag prägten. Doch ihre Namen werden in „Noch wach?“ konsequent verschwiegen.

Benjamin von Stuckrad-Barre bei der Lesung aus seinem neuen Buch „Noch wach?“ im Berliner Ensemble / dpa
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Vielleicht ist es ganz passend, die Rezension eines sogenannten Schlüsselromans mit dem Zitieren von SMS zu beginnen. Auf der Seite 293 werden mehrere SMS zitiert, die der Chefredakteur einer Tageszeitung an mehrere Frauen geschrieben hat. Vorgelesen werden sie in einem Videochat, und die Frauen müssen zum Teil selbst lachen, wie schablonenhaft sie geschrieben sind. Sie klingen so: „Du bist so schlau und schön“, „Heute um 22 Uhr in meinem Büro?“, „Melancholisches, schlafloses, sehnsüchtiges Andichdenken“. Und etwas ungelenk: „Ich will dich mit jeder deiner Fasern spüren.“

Auf dem Titel des neuen Romans von Benjamin von Stuckrad-Barre steht ebenfalls eine dieser SMS: „Noch wach?“ Das Buch ist seit diesem Mittwoch im Handel, hat 380 Seiten, und eine digitale Version wurde erst um 10 Uhr morgens am Erscheinungstag an Journalisten verschickt. Normalerweise erhält man Tage oder Wochen vor Erscheinen eines Buchs die Druckfahnen, um sich auf die Besprechung vorbereiten zu können. Möglicherweise sollten so einstweilige Verfügungen oder Auslieferungsverbote verhindert werden. Manche munkeln, dass es diese trotzdem geben könnte und das Buch bald wieder vom Markt verschwinden müsse. Denn es liest sich nicht, als hätte der Autor hier eine fiktive Geschichte aufgeschrieben, sondern vielmehr so, als hätte er das Wort Roman als Schutzbehauptung auf das Cover drucken lassen.

„Inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen“

So machen wir das hier am besten auch und weisen darauf hin, dass die in dieser Kritik enthaltenen Informationen ihren Ursprung in der Lektüre eines fiktionalen Textes haben. Gleichwohl lassen sich sämtlichen Protagonisten ohne Mühe reale Personen zuordnen, und es ist nicht davon auszugehen, dass sie zugestimmt haben, in einem Buch so beschrieben zu werden, allen voran Kai Diekmann, Julian Reichelt, Mathias Döpfner. Stuckrad-Barre zieht sich in einem Hinweis hinter die Behauptung zurück, das Buch sei nur „inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen“. Er habe nicht den Anspruch, Personen „authentisch wiederzugeben“.

Das wird nicht verhindern, dass viele Leserinnen und Leser „Noch wach?“ als nicht autorisierte Biografie und Fallstudie über den Springer-Verlagsgeschäftsführer Mathias Döpfner lesen werden. Die an Döpfner angelehnte Figur im Buch besucht den Ich-Erzähler in den USA, baut mitten in Berlin ein neues Verlagshaus auf, gründet einen Fernsehsender mit einem neuen Chefredakteur, vertritt im Laufe der Zeit immer radikalere politische Ansichten und verliert zunehmend die Bodenhaftung.

Der Chefredakteur, der unangemessene SMS verschickt

Zum ersten Mal taucht der „Freund“ im dritten Kapitel auf. Sie sitzen zu zweit in einem Sportwagen auf dem Weg von Los Angeles nach San Francisco und reden vertraulich. Mehrere Führungskräfte des großen Berliner Verlagshauses sind an die Westküste der USA geflogen, um sich weiterzubilden über die Start-up-Industrie des Silicon Valley. Alles Männer, die Musik in ihren Autos hören, umso lauter, je näher ihre Scheidungen gerückt sind, wie der Erzähler genüsslich kommentiert. Auch der Chefredakteur, der nachts unangemessene SMS verschickt, ist mit dabei. In einem Geländewagen mit Panzeroptik. Eindeutig: Julian Reichelt.
 

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Stuckrad-Barre schreibt: „Angeschnallt waren wir, trotz FREIHEIT. Freiheit war ja ganz wichtig; sein LEBENSTHEMA, wie mein Freund immer wieder überall betonte, er hatte geradezu eine Freiheitsobsession, was in sich irgendwie unfrei wirkte, aber auch dafür liebte ich ihn natürlich.“ Es läuft Jazzmusik, und dieser Verlags-Vorstand weiß offenbar nicht, dass er diese Internet-Radiosender auch in Deutschland hören kann, er will Netflix kaufen und schaut nie fern.

Und dann, etwas unvermittelt, sprechen die beiden Männer über einen Vorwurf der sexuellen Belästigung durch einen ehemaligen Bild-Chefredakteur. Ja, im Buch wird die Bild immer wieder genannt, auch der Springer-Verlag wird mit Namen bezeichnet, darüber hinaus sind keine Namen der Protagonisten erkennbar. Bild TV wird nur „ein Nachrichtensender“ genannt, und die New York Times wird hinter dem Pseudonym TransAtlantic versteckt.

„Nichts Schlimmes passiert“

Doch zurück zum Beinahe-Autorennen vor kalifornischer Kulisse: So früh wird also das Thema Machtmissbrauch eingeführt. Stuckrad-Barre schreibt: „Schlimme Geschichte, sagte mein Freund. Aussage gegen Aussage, die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren dann ja eingestellt. Aber das war schon alles sehr merkwürdig.“ Es geht um nächtliches Nacktbaden und einen versuchten Übergriff. Interessante Zusatzinformation: Der Nachfolger als Chefredakteur soll in dieser Nacht das mutmaßliche Opfer auf einer Bank fotografiert haben, was später entlastend gewirkt haben soll: Die Frau sitzt da, trinkt Wein und raucht. „Nichts Schlimmes passiert.“

Teilweise liest sich das Buch wie eine Abrechnung. Auffällig, dass der Autor wie die Bild-Zeitung immer wieder Großbuchstaben in seine Sätze einbaut. Diese Worte ragen wie Pfeiler aus dem Text, ohne jedoch inhaltlich unbedingt betont zu werden: „Ich hatte mich für diesen Typen nie interessiert, weder für ihn noch für das, was er da so sendete in seinen immer verrückter werdenden POLITIKFENSTERN (...). In Tonlage, Infamie und Dauerhetze ahmte er überdeutlich den amerikanischen Lügenprediger Tucker Carlson nach, SENDERINTERN nannte man ihn, wenn er gerade nicht in der Nähe war: Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere.“

An Handlung enthält das Buch nur wenig. Der Erzähler verliebt sich in eine Springer-Mitarbeiterin, die zu dem weiten Netzwerk des Bild-Chefs zählt. Er fliegt zwischen Los Angeles und Berlin hin und her, auch, weil sein „Freund“, der Verlagschef, ihm diese finanzielle Unabhängigkeit überhaupt erst ermöglicht hat. Reale Personen wie Palina Rojinski, Lars Eidinger, Sophie Rois und Elon Musk tauchen auf, Szenen, über die verschiedene Medien berichteten, wie der absurde Auftritt des Tesla-Gründers in Brandenburg. Im Zentrum dieser Szenen steht die immer wackeligere Freundschaft zum Verleger.

Vergewaltigt wurde keine

Ein erster Bruch ist die Berichterstattung über den Fall Kasia L., im Buch nicht mit Namen benannt. Die 25-Jährige hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen, nachdem in der Bild-Zeitung ein Fußballer-Interview mit Anschuldigungen gegen sie abgedruckt wurde. Im Roman streitet sich die Döpfner-Figur vor der Schaubühne mit einer Figur, in der man einen bekannten Berliner Medienanwalt erkennen kann.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
380 Seiten, 25 Euro

Der Anwalt empfiehlt dem Verleger: „Lesen Sie mal lieber Böll heute Abend, ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘. Und dann stellen Sie den Sendebetrieb ein.“ Der Verleger nennt den Anwalt einen Heuchler und verweist auf die Pressefreiheit. Der Erzähler urteilt nach dieser Szene über seinen Freund: Er habe „in letzter Zeit zu streiten verlernt“, seit „er die UNSELIGE Entscheidung für diesen Chefredakteur getroffen hatte“.

Alles, was schiefläuft, so die These dieses Buches, begann mit dieser an Reichelt angelehnten Figur. Langsam entspinnt sich im zweiten Teil des Buches dann die Geschichte, die schon vom Spiegel und der New York Times detailliert aufgeschrieben wurde: Mehrere Frauen erzählen ihre Geschichten mit dem Chefredakteur. Vergewaltigt wurde keine. Aber wie freiwillig ist ein sexuelles Verhältnis, wenn Frauen es mit einem Chef eingehen, der über ihre berufliche Zukunft bestimmen kann? Oder wie Stuckrad-Barre schreibt: „Sie wollten Benachteiligung wegen Nichtvögelns verhindern.“

„Völlig hysterisch rumgeheult“

In Kapitel 14 erzählen nicht nur die Frauen ihre Geschichten im O-Ton („Hat der bei euch auch immer nachts so völlig hysterisch rumgeheult und dauernd diese ganze Scheiße vom Krieg erzählt?“), sondern auch der Autor selbst. Er berichtet vom Übergriff eines älteren Mannes, als er mit 19 Jahren zu einer Privatparty ging, Drogen waren im Spiel. Als er von dem Mann belästigt wird, kann er sich nicht rühren. Mehr noch: Ihm ist peinlich, dass er sexuell nicht erregt ist. „Aber es war toll, in einem Hotel zu sein“, schreibt er. „Und immer, wenn ich diesen Typen später traf, war mein Gefühl ihm gegenüber: Du hast noch was gut bei mir.“

Während solche Stellen erschütternd und dicht sind, verlieren andere Passagen deutlich an Fahrt. Vielleicht soll das einen Rhythmus erzeugen. Das Buch verhandelt immer wieder recht brisante Enthüllungen aus der realen Welt, deutet sie an, doch das reale oder fiktive Liebesleben des Erzählers vor idyllischer Hotelkulisse ist einfach ungleich uninteressanter. Die Passagen über das Leben im Hotel wirken wie Werbepausen in einem Thriller.

Dann seien die Frauen eben selbst schuld

Denn das ist das eigentlich Neue über die Affäre Reichelt, das in diesem Buch enthüllt wird. Der Verleger, so deuten es die vielen Begegnungen mit dem Ich-Erzähler an, muss sehr früh gewusst haben, wen er zum neuen Chefredakteur gemacht hat und welche Praxis dieser mit untergebenen Frauen pflegt. Dass er das entweder nicht so schlimm fand oder gar deckte, deutet dieses Buch zumindest an. Schon auf der Autofahrt am Anfang werden erste Vorwürfe laut, doch wie reagiert der Verleger: „Er brauche Namen und Screenshots, sagte mein Freund ernst. Dann werde er DURCHGREIFEN. Er nehme das SEHR ERNST und werde dem NACHGEHEN.“ Und sonst? Dann seien die Frauen eben selbst schuld. Dieser Ausflug der Springer-Chefs ins Silicon Valley, er fand wirklich statt, im Juni 2012.  

Das Buch endet, als der „Freund“ zum „Ex-Freund“ wird. Er sei gewarnt worden, sich mit dem Verleger anzulegen, schreibt der Erzähler. „Meinen Namen auf einer von Journalisten enthüllten FEINDESLISTE zu finden, die mein Ex-Freund und der Chefredakteur in ihrer Argumentationsnot offenbar erstellt hatten, das fand ich ja beinahe noch lustig.“ Zudem wurde ihm ein Drogenrückfall angedichtet. Er überlegt noch, „einen gemeinsamen Langzeitdrogentest einzufordern“. Verleger und Drogen kommen hier ganz am Ende in einem Satz vor. Vielleicht der gemeinste von allen. Aber der Erzähler entschied sich gegen diesen Test, er wollte wieder nach Los Angeles in sein Hotel. Vielleicht arbeitet er dort am Film.

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