Migrationskrise bei Anne Will - „Wie soll kontrolliert werden, dass es dort mit rechtsstaatlichen Verfahren zugeht?“

Die Asyl-Reformpläne der EU-Staaten stehen derzeit ganz oben auf der politischen Diskussionsagenda. Entsprechend wurde darüber auch bei Anne Will debattiert. Ein historischer Erfolg? Oder steckt der Teufel eben doch im Detail?

Runde bei Anne Will zum Thema EU-Asylreform / Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Das ist ein historischer Erfolg – für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten“, kommentierte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am 8. Juni 2023 die Einigung der EU-Staaten auf eine Verschärfung des EU-Asylrechts. Faesers Kommentar taugt gut als Ausgangspunkt für eine Diskussion über diese Einigung. Ist sie wirklich eine historische? Wie solidarisch geht es innerhalb der EU tatsächlich zu bei dem Thema? Und welche Auswirkungen wird die Einigung auf die Menschenrechte haben, also etwa ganz konkret auf die Situation der Migranten an den EU-Außengrenzen? 

Über diese Fragen wurde am Sonntag auch bei Anne Will diskutiert. Zu Gast waren die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken, der CDU-Politiker Jens Spahn, der Grünen-Chef Omid Nouripour, der Migrationsforscher Ruud Koopmans sowie die Journalistin Franziska Grillmeier, die seit 2018 auf der Insel Lesbos lebt und deren Buch „Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas“ im März erschienen ist. 

Stichwort: Solidaritätsmechanismus

In einem Punkt hatte die SPD-Parteivorsitzende Esken erstmal recht: Im Prinzip handelt es sich um Eckpunkte, auf die sich die EU-Staaten geeinigt haben. Wie diese dann im Detail ausgestaltet werden, wird sich in den kommenden Monaten zeigen müssen. Die EU selbst geht, hieß es, davon aus, dass entsprechende Gesetze nicht vor Sommer 2024 verabschiedet werden.

Die Debatte über Sinn und Unsinn der Reformen wird die Öffentlichkeit also noch eine Weile begleiten. Auch deshalb, weil Länder wie Ungarn und Polen bereits angekündigt haben, sich nicht auf einen Verteilungsmechanismus einzulassen, der vorsieht, dass eine eine einzelne Aufnahmeweigerung durch einen EU-Staat 20.000 Euro kosten könnte; Stichwort: Solidaritätsmechanismus. 

Jede Menge Ärger an der Basis 

Spahn kritisierte zunächst einmal die deutschen Grünen und die SPD, die, findet Spahn, jetzt schon wieder rhetorisch und politisch daran arbeiten würden, die Einigung aufzuweichen. Und da ist sicherlich was dran. Schließlich sorgt die Einigung vor allem an der grünen Basis für jede Menge Ärger, aber auch beim linken Flügel der SPD. Details zum Streit bei den Grünen können Sie hier nachlesen

Dass sich Faeser für die Einigung feiern lässt, kann Spahn derweil nicht nachvollziehen. Sie habe sich lediglich „gefügt“, so der CDU-Politiker. Für ihn ist die Einigung gleichwohl ein „wichtiger Schritt“, insbesondere mit Blick auf die Verfahren an den EU-Außengrenzen, die die Einigung insofern vorsieht, als dass Asylbewerber ohne Bleibeperspektive bereits dort abgewiesen werden könnten.  

Was die EU inhaltlich beschlossen habe, werde „kaum etwas mit der Realität vor Ort“ zu tun haben, hielt Grillmeier direkt dagegen, die beklagt, dass es an den EU-Außengrenzen bereits heute zu „haftähnlichen Zuständen“ kommen würde, die sich mit der angedachten Asylreform noch verschlimmern könnten. Spahn konterte, er finde den Begriff „Haft“ schwierig. Schließlich rede man hier lediglich von der „Nicht-Möglichkeit, weiter in die EU zu reisen“. 

Abkommen mit Drittstaaten

Esken schoss im ersten Wortbeitrag gleich gegen Spahn und die deutschen Vorgängerregierungen unter Führung der Union, insbesondere deren Innenminister. Die jüngste Einigung habe es nun erstmal möglich gemacht, so Esken, dass mit „großer Mehrheit beschlossen wurde, dass alle Mitgliedstaaten ihren solidarischen Beitrag leisten müssen. Sei es durch die Aufnahme von Flüchtlingen oder durch finanzielle Leistungen“. Sie sieht in der Einigung einen ersten Schritt hin zu einer humanitären und rechtsstaatlichen EU-Asylpolitik.
 

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Der Migrationsforscher Koopmans lässt sich auch nicht gerade zu Jubelarien hinreißen. Er glaubt, dass sich der Migrationsdruck auf Basis der nun beschlossenen Eckpunkte nicht nennenswert wird verringern lassen. Schließlich würden drei Viertel der Migranten nicht ins Schnellverfahren an der EU-Außengrenze kommen. Auch der Verteilungsmechanismus werde nicht funktionieren, wenn Länder wie Ungarn und Polen sich dem schlicht weiterhin verweigern. 

Koopmans plädiert daher vor allem für Abkommen mit Drittstaaten; dass also etwa Menschen, die im Rahmen des Asylverfahrens abgelehnt werden, schnell in ihre Herkunftsländer zurückkehren respektive zurückgeschickt werden können in Länder, die sie auf dem Weg nach Europa durchquert haben. Und er sagte: „Kein Migrationspakt ist das Wort wert, wenn dadurch nicht das Sterben auf dem Mittelmeer verhindert wird.“ 

„Kein Grund zu Jubeln“

Die größte politische Bürde der Runde hat derzeit Grünen-Chef Nouripour zu tragen. Denn die jüngste Einigung der EU-Staaten, während die Grünen in der Bundesregierung sitzen, ist der Parteibasis, aber auch linken Wählern und Sympathisanten in den Medien schwer zu vermitteln. „Das ist kein historischer Erfolg“, so Nouripour, sondern „bittere Pillen“. Die Einigung sei daher „kein Grund zu jubeln“, aber  die verpflichtende Solidarität sei „ein richtiger Schritt nach vorne“.

Die Bundesregierung hatte sich in den Verhandlungen etwa dafür stark gemacht, dass Kinder aus den vorgesehenen Schnellverfahren an der EU-Außengrenze herausgenommen werden. Das ist ihr mit Blick auf die jüngste Einigung nicht gelungen. Folgt man Nouripour, müsse die Bundesregierung sich nun weiter stark machen für eine solche Ausnahmeregelung: „Die Schritte jetzt sind klein, aber die können bis zu einem gewissen Grade in die richtige Richtung gehen.“ Es werde weitere Verhandlungsrunden geben. 

Wer kontrolliert das eigentlich?

Bilanzieren lässt sich also: Unterm Strich war sich die Runde bei Anne Will einig, dass es so wie bisher nicht einfach weitergehen kann. Und dass es für dieses Nicht-weiter-so ein Gemeinsam der EU-Mitgliedstaaten beim Thema braucht. Ein Anspruch, der ja bereits seit der Flüchtlingskrise 2015/16 unzählige Male formuliert wurde. Doch die Theorie, also etwa die europarechtlichen Rahmenbedingungen, ist das eine.

Das andere ist freilich die Praxis, also, wie diese europarechtlichen Rahmenbedingungen dann vor Ort umgesetzt werden. Und hier machte die Journalistin Grillmeier einen Punkt, als sie bei Anne Will sagte: „Die Frage, die ich ich mir stelle, ist, wie soll kontrolliert werden, dass es dort mit rechtsstaatlichen Verfahren zugeht?“

Man habe, so Grillmeier, bereits jetzt schon an den fünf ägäischen Inseln drei Hochsicherheitslager, die eigentlich dafür geeignet wären; inklusive einer „haftähnlichen Struktur“, weshalb NGOs bereits heute Alarm schlagen würden. Sie etwa, so Grillmeier, könne seit dem Brand in Moria heute schon kaum noch ihre Arbeit machen, weil sie nicht mehr an die Menschen in den Lagern herankomme. Dort gehe es von griechischer Regierungsseite bereits „wahnsinnig restriktiv“ zu.

„Sachlich, vernünftig und rechtsbasiert“

Der Gesprächsstoff wird bei dem Thema also nicht ausgehen; weder in den Medien, noch in der Politik. Da kann der Aufruf von Jens Spahn, den er am Sonntagabend bei Anne Will noch formulierte, nicht schaden: „Ich würde mir wünschen, dass wir diese Debatte, die eine der zentralen Fragen unserer Gesellschaft und unseres Landes ist, in der demokratischen Mitte, mit den unterschiedlichen Positionen, die wir haben, sachlich, vernünftig und rechtsbasiert ausdiskutieren.“ Das wäre doch mal was. 

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