Künstliche Intelligenz - ChatGPT wird die Buchbranche ruinieren, nicht die Autoren

Die technischen Möglichkeiten von ChatGPT bedeuten auch einen radikalen Umbruch für den Literaturbetrieb. Doch da das Phänomen des Selfpublishing in Zeiten Künstlicher Intelligenz immer mehr an Bedeutung gewinnt, werden nicht die Autoren, sondern die Verlage die Verlierer sein.

Alles eine Frage der Perspektive: ChatGPT, Fluch oder Segen für das Literaturwesen? / picture alliance
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Autoreninfo

Gideon Böss ist Roman- und Sachbuchautor und hat unter anderem über Religionen in Deutschland und Glücksversprechen im Kapitalismus geschrieben.

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Eigentlich weiß noch niemand so richtig, was man von ChatGPT und all seinen Geschwistern halten soll. In allen Branchen wird über diese Frage gerätselt, während die einen recht optimistisch sind, sind andere verunsichert und überfordert. Erstaunlicherweise findet sich die Buchindustrie eher im Lager der Optimisten wieder und möchte die Chancen nutzen, die diese neuen Entwicklungen mit sich bringen.

Aufseiten der Autoren, auf deren Arbeit bislang die gesamte Industrie basierte, ist die Stimmung hingegen weniger zuversichtlich. So mancher fragt sich, ob es das jetzt war mit den Schreiberlingen aus Fleisch und Blut und ob der Federkiel an die Künstliche Intelligenz weitergereicht werden muss. Diese Sorgen sind verständlich (auch wenn ich meine, dass es für Autoren keineswegs so düster aussieht, dazu später mehr im Text), zumal es manchen Verlagen mit der Integration von ChatGPT tatsächlich gar nicht schnell genug gehen kann.  

Noch ist es nur eine Testphase

So will etwa der Hersteller der beliebten Tonieboxen, bei denen es sich um würfelförmige Hörspielboxen für Kinder handelt, demnächst mit dem Einsatz der Künstlichen Intelligenz beginnen. Eltern sollen Stichworte für individualisierte Geschichten liefern, die dann vom Programm in unvergessliche Storys umgewandelt werden sollen.

Noch läuft das alles unter Testphase, aber wenn diese zur Zufriedenheit des Verlags abgeschlossen wird, besteht kein Bedarf mehr an Autoren. Auch große Publikumsverlage träumen schon von einer Zukunft, in der ChatGPT im Lektorat eingesetzt werden kann – wovon der Schritt zur eigentlichen Manuskriptarbeit nicht mehr weit ist.

Wahre Verlierer des Umbruchs

Das sind durchaus bemerkenswerte Töne für eine Branche, die sich lange (zum Teil bis heute) gegen die Digitalisierung und das E-Book gesträubt hat und Neuerungen traditionell so aufgeschlossen gegenübersteht wie eine Katze einem Schwimmbadbesuch. Dabei kann ihr niemand übelnehmen, dass sie nach Möglichkeiten sucht, Kosten einzusparen und Abläufe zu verbessern. Wenn sie aber meint, dass ChatGPT ihr Verbündeter sein wird, täuscht sie sich auf fatale Weise. In Wahrheit sollte sie die Finger von der Künstlichen Intelligenz lassen und das aus zwei Gründen.  

Der eine ist so naheliegend, dass es erstaunt, mit welcher Unbefangenheit manche Verlage trotzdem den Einsatz der künstlichen Intelligenz preisen: ChatGPT ist schlicht der größte Angriff auf die Idee des geistigen Eigentums und des Urheberrechts, den es je gegeben hat. Die Buchbranche müsste ein Interesse daran haben, dass diese weiterhin respektiert werden – außer, sie legt keinen Wert mehr darauf, die Inhalte der Bücher zu schützen, die sie veröffentlicht.  

 

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Noch problematischer ist aber der andere Grund. Es mag vielleicht im ersten Moment so aussehen, als wären die Autoren die Verlierer, wenn die Verlage sich den unbezahlten 24/7-Mitarbeiter des Monats ChatGPT ins Haus holen, aber in Wahrheit ist es genau umgekehrt. Sollte dieses Programm nach und nach die Autoren ersetzen, ändert sich für die meisten eigentlich nicht viel. Es gibt nämlich kaum Autoren, die wirklich vom Schreiben leben können. Darum haben sie oft Zweitjobs oder toben sich überhaupt erst nach Feierabend als Poeten aus. Entsprechend haben sie schlicht nicht so viel zu verlieren, wenn ChatGPT Einzug halten würde.

Ganz anders sieht die Sache aber für die Verlage aus, die Mitarbeiter haben und Büroflächen und Druckkosten und Heizkosten und allerlei andere Ausgaben. Sie haben viel zu verlieren, wenn sich die Branche radikal wandeln würde.  

KI öffnet Autoren ganz neue Welten

Wenn Autoren zunehmend überflüssig werden und keine Verlage mehr finden, hören sie nicht auf zu schreiben. Sie werden es nur nicht mehr in Verlagen tun. Die Folge wäre eine zweite Phase der Selfpublishing-Kultur, aber dieses Mal unter den Bedingungen von ChatGPT und Co. Was bedeutet, dass jedem eine Infrastruktur zur Verfügung steht, für die es bisher beachtliche finanzielle Mittel gebraucht hätte. Bisher konnten sich Autoren nicht leisten, was sich Verlage leisten konnten, doch die künstliche Intelligenz ebnen diese Kluft in rasanter Geschwindigkeit ein.

Es gibt schon jetzt AI-Programme, die aus einem Text einen Film auf Hollywood-Niveau kreieren (okay, vielleicht auch nur auf ÖRR-Niveau), die Romane in Sekundenbruchteilen in jede beliebige Sprache übersetzen, die Hörbücher und E-Books bereitstellen, und all das ohne relevanten Zeit- oder Kostenaufwand.

Mögliche Pleiten großer Verlagshäuser

Sollten die Verlage in dieser neuen Ära tatsächlich die Rolle der Autoren infrage stellen, wird es absehbar immer mehr Selfpublisher geben, die ihre Werke in bester Qualität selbst anbieten. In kurzer Zeit würden sich um die erfolgreichsten von ihnen bedeutende Leserkreise bilden (und auch die weniger erfolgreichen Autoren würden in der Summe beträchtliche Leserzahlen anziehen), wodurch der Verlagsbranche immer größere Einnahmen entzogen würden, die direkt zwischen den Lesern und den „neuen Selfpublishern“ ausgetauscht werden. Ab einer gewissen Höhe an Einbußen wäre es für die Verlage immer schwieriger, ihren teuren Apparat am Laufen zu halten. Pleiten, auch großer Verlagshäuser, wären dann nur noch eine Frage der Zeit.  

Die Künstliche Intelligenz bedroht von daher in erster Linie das alte Verlagssystem, das bisher eine ganze Branche (außer die Autoren) finanziell gut versorgt hat. Diese Entwicklung ist naheliegend. ChatGTP ist darum auch kein Trojanisches Pferd. Um im Bild zu bleiben, marschieren in diesem Fall Odysseus und seine Griechen einfach ganz ohne Tarnung zum Stadttor und klopfen an. Es bleibt abzuwarten, ob die Verlagsbranche wirklich freiwillig die Tore öffnet oder ob ihr noch rechtzeitig dämmert, dass ChatGPT alles mitbringt, um diese Branche schlicht zu ruinieren. 

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