Kirchenaustritte - Im säkularen Pfarrhaus gehen die Lichter aus 

Die Evangelische Kirche vermeldet für 2022 einen neuen Rekord an Austritten. Das ist kein Wunder, denn niemand braucht eine Kirche, der ihr eigener Wesenskern fremd geworden ist und die lieber über den Klimawandel redet als über Gott.

Die Inhalte ändern sich, der missbilligende Blick bleibt: „Klima-Bischöfin“ Kristina Kühnbaum-Schmidt / dpa
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Gideon Böss ist Roman- und Sachbuchautor und hat unter anderem über Religionen in Deutschland und Glücksversprechen im Kapitalismus geschrieben.

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Wann haben Sie das letzte Mal bei einer TV-Talkrunde gedacht, dass sie zu diesem Thema jetzt unbedingt die Sichtweise der katholischen oder evangelischen Kirche hören möchten? Vermutlich nie. Tatsächlich wird die Stimme der Kirchen nicht vermisst. Zu diesem Eindruck passt auch die beständig hohe Zahl an Kirchenaustritten. Gerade haben die Protestanten für das Jahr 2022 einen neuen Rekord verkündet. Innerhalb von zwölf Monaten schrumpften sie um fast drei Prozent und verloren 575.000 Mitglieder. Erstmals überstieg dabei die Zahl der Austritte mit 380.000 die der Todesfälle. Die Katholiken haben ihre Zahlen noch nicht veröffentlicht, aber auch sie werden wieder Hunderttausende Austritte vermelden müssen.  

Beide Volkskirchen haben in wenigen Jahrzehnten die Bedeutung verloren, die sie über Jahrhunderte hatten. Seit die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend die Banden zu den Kirchen lösten, warben diese nicht etwa für die Rückkehr zum Glauben, sondern gingen den Weg der Säkularisierung im Grunde mit. Erst zögerlich, doch mittlerweile mit aller Entschiedenheit. Es macht den Eindruck, als würden sie sich heute mehr in der Rolle überparteilicher Pseudobehörden gefallen und weniger in der religiöser Dienstleister. Lieber Ethik-Ministerium als christliche Kirche.  

Es gibt schon genügend NGOs, Lobbygruppen, Parteien und Bürgerinitiativen

Ein Blick auf die Website der evangelischen Kirche bestätigt diesen Eindruck. Auf der ganzen Seite findet sich das Wort „Gott“ genau zweimal. In einem Bibelvers, der automatisiert eingespielt wird, und in „Gottesdienst“ – ein Begriff, der womöglich auch mehr Präsenz auf dem Internet-Angebot einer Kirche haben könnte. Aber die evangelische Kirche setzt andere Schwerpunkte. Vor allem Klimawandel, da wird „mehr Tempo“ gefordert, und eine „Klima-Bischöfin“ sowie Prominente wie Eckhard von Hirschhausen werden mit mahnenden Worten zitiert. Auch das Thema Flüchtlinge ist wichtig oder die möglichen Alternativen zur traditionellen Ehe und Familie. Das sind alles für sich genommen bedeutsame Anliegen, aber für keines davon muss jemand in die evangelische Kirche eintreten. Es gibt viele NGOs, Lobbygruppen, Parteien und Bürgerinitiativen, die sich diesen Themen verschrieben haben. Dabei würde es sogar ein Thema geben, das zivilgesellschaftlich bisher kaum wahrgenommen wird, nämlich die weltweite Verfolgung von Christen. Aber das Thema ist offenbar nicht zeitgeistig genug, um es zum dauerhaften Brennpunkt zu schaffen.  

 

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Damit hat sich die evangelische Kirche (um die es hier vor allem geht, wobei die katholische Kirche ähnliche Entwicklungen durchlebt) in eine erstaunliche Position manövriert. Wer auf Sinnsuche ist, wer über Gott und die Bibel nachdenkt, wird von einer Kirche nicht angesprochen, die sich als Teil der klimarettenden und ziemlich atheistischen Zivilgesellschaft neu erfinden will. Und wer Teil eben dieser Zivilgesellschaft ist, braucht die evangelische Kirche nicht. Niemand braucht eine Kirche, der ihr eigener Wesenskern fremd geworden ist und die lieber über den Klimawandel redet als über Gott und diese Schwerpunktsetzung mit ein paar alibihaften Bibelversen zu begründen versucht. Eine Kirche aber, bei der nicht sicher ist, ob das grüne Parteibuch oder die christliche Bibel wichtiger ist, verliert jede Anziehungskraft und stellt darum regelmäßig neue Rekorde in Sachen Mitgliederschwund auf.  

Die Volkskirchen haben aufgehört, sinnsuchenden Menschen Heimat zu bieten

Dabei ist es keineswegs so, dass die Deutschen an nichts mehr glauben. Der Erfolg von Freikirchen beweist das ebenso wie der ungebrochene Boom der Esoterik. Es sind nur die Volkskirchen, die aufgehört haben, sinnsuchenden Menschen Heimat zu bieten, da sie selbst offenbar in einer Sinnkrise stecken. Die Protestanten mehr als die Katholiken, die mit dem Vatikan eine Kontrollinstanz über sich haben, weswegen sie den Weg in die zeitgeistige Beliebigkeit entschlossener gehen – und entsprechend noch schneller schrumpfen.  

Für die evangelische Kirche scheint der Weg vorgezeichnet. Die Entfernung vom Markenkern, dem Glauben an den christlichen Gott, ist so weit fortgeschritten, dass sie wohl dauerhaft jede Anziehungskraft für religiös Suchende verloren hat. Darum stehen den 380.000 Kirchenaustritten auch nur 27.000 Kircheneintritte gegenüber. Die Säkularisierung des Pfarrhauses ist weit fortgeschritten und das ausgerechnet in einer Phase, in der Religiosität in Deutschland wieder eine gewisse Bedeutung erlangt. Seit 2015 kamen viele hunderttausend Menschen muslimischen Glaubens ins Land und bringen andere Formen der Religion und Tradition mit. Nicht jede davon ist mit westlichen Freiheitswerten vereinbar, etwa das islamische Verbot des Religionswechsels, und längst nicht jeder Einwanderer fühlt sich in dem Glauben wohl, mit dem er hier angekommen ist. Da könnten die Kirchen ihre Rolle nicht nur in einer theologischen Debatte über die (Glaubens-)Freiheit sehen, sondern sich auch als Alternative für Flüchtlinge anbieten, die von Jesus fasziniert sind.

Aber womöglich fehlt den beiden Volkskirchen mittlerweile selbst eben diese Faszination für Jesus. Darum ist es so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Protestanten und Katholiken auch weiterhin Mitglieder in Rekordhöhe verlieren werden.

Vielleicht gab es noch nie Institutionen, die so gleichgültig ihren eigenen Bedeutungsverlust geschehen ließen.  

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