Ist man so alt wie man sich fühlt? - Die Selbstbestimmung der Identität ist nur begrenzt möglich

Wenn man sein Geschlecht beliebig wählen kann, müsste man dann nicht auch sein Alter ändern können? Schon die Frage zeigt, dass eine selbstgewählte Identität nur dann Geltung haben kann, wenn sie von anderen anerkannt wird. Eine solche Anerkennung lässt sich aber nicht einfordern oder gar erzwingen.

Ein älterer Transgender auf einer Gay Pride Parade in Sao Paulo / dpa
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Autoreninfo

Ewald Kiel ist Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München und war Direktor des Departments für Pädagogik und Rehabilitation sowie Mitglied des Universitätssenats. Zur Zeit ist er Dekan der Fak. 11 der LMU.

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Ich bin 64 Jahre alt und offensichtlich nicht so sportlich, wie Harrison Ford es in seinem neuen Indiana-Jones-Film noch mit 80 beweist. Wenn ich morgens aufstehe, habe ich die vielen in meinem Alter bekannten Anlaufschwierigkeiten. Mir tut das Kreuz ein wenig weh, die Knie sind steifer, als ich es mir wünsche, und auch der Nacken ist nicht so, wie er sein sollte.

Mit anderen Worten, ich fühle mich morgens eher wie 80, jedoch mittags ist alles besser. Meine Knochen und Muskeln funktionieren, und ich fühle mich eher wie 40 – leider nicht wie 20. Abends hingegen tritt wieder mein morgendliches Gefühl ein. Aus medizinisch-biologischer Sicht habe ich Arthrose, eine degenerative Gelenkerkrankung. Das ist unangenehm, aber ich lebe wie viele andere auch ganz passabel damit.

Nicht alt sein

Betrachte ich jedoch diese Krankheit aus der Perspektive einer schönen neuen woken Welt, sieht alles ganz anders aus. Statt von biologischen Gegebenheiten gehe ich jetzt im Sinne einer sozialen Konstruktion davon aus, dass ich age-fluid bin. Das heißt, am Morgen performe ich als alter Mann, bewege mich steif, und ein befreundeter Kollege, der mich seit 20 Jahren kennt, begrüßt mich in der Universität auf der Treppe jovial mit den Worten: „Na, Alter, wo ist der junge Springinsfeld geblieben?“

Am frühen Nachmittag, wenn ich Tennis spiele und einen 20 Jahre jüngeren Partner schlage, fühle ich mich als wenigstens mittelalter Mensch. Wenn dann noch mein Partner sagt: „Du hast sagenhaft gespielt“, bestätigt dies mein Gefühl, jünger zu sein. Am Abend verlässt mich bedauerlicherweise das Gefühl, und niemand sagt: „Du bewegst dich sagenhaft.“

Es gibt hier keine Binarität zwischen Alt und Jung, das eine geht in das andere über. Anders als der griechische Philosoph Heraklit es behauptet hat, kann ich mehrfach in denselben Fluss steigen – mal in den des Alters und mal in den des Jungseins. Toll! Unglücklicherweise kann der Begriff der Age-Fluidität, von dem ich in professoraler Eitelkeit zunächst geglaubt habe, ich hätte ihn erfunden, auch missbraucht werden. Im Rahmen einer kurzen Internetrecherche lese ich zu meinem großen Entsetzen, dass Pädophile für sich in Anspruch nehmen, age-fluid zu sein. Sie selbst betrachten sich im Rahmen sozialer Konstruktionen als jünger und die, die sie missbrauchen, bisweilen als älter. Ein furchtbarer Gebrauch des Begriffs!

Anerkennung um jeden Preis

Ich übertrage in meiner Beschreibung das sogenannte performative Modell von Geschlecht auf das Alter. Judith Butler, Literaturwissenschaftlerin in Berkeley, eine Ikone der Queertheorie, argumentiert wie folgt: Ein Geschlecht ist nicht naturgegeben, sondern abhängig von der Gefühlslage und Performance einer Person. Mit anderen Worten, wenn ich mich z.B. als biologischer Mann anders als mein biologisches Geschlecht fühle, beispielsweise eine Frau sein möchte, sollte ich auch als Frau performen, d.h. mich anders anziehen, bewegen, schminken oder gar operativ verändern lassen etc.

Das allein ist allerdings noch keine soziale Konstruktion. Es bedarf auch der Bestätigung der Performance durch wichtige andere, etwa indem diese wichtigen anderen die Person als Frau anreden, weibliche Personalpronomen gebrauchen, aber auch mit ihr zum Frauenschwimmtag ins Hallenbad gehen etc. Es geht um die zum Ausdruck gebrachte Akzeptanz durch andere Mitglieder der Gesellschaft. Das kann verbal geschehen oder auch durch entsprechende Handlungen. Erst dann ist die soziale Konstruktion perfekt!

 

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Bewegt man sich innerhalb des von Butler vorgegebenen Rahmens, dann ist eine Selbstbestimmung der Identität meines Erachtens im Prinzip nur begrenzt möglich, auch wenn die Bundesregierung und andere Institutionen der Gesellschaft diese Idee vorantreiben, denn man kann lediglich Einfluss auf die eigene Gefühlswelt und Performance nehmen, aber man hat keinen Einfluss darauf, ob wichtige andere mich bestätigen. Der Eintrag im Personalausweis ist nur eine formale Seite; das, was andere im Alltag tatsächlich tun, eine andere!

In der gegenwärtigen Diskussion an der LMU München etwa, meiner Universität, und der TUM in München möchten Studierende mit Transidentität mit ihrem neuen Namen angesprochen oder bei universitären Angeboten entsprechend adressiert werden, obwohl dieser nicht im Personalausweis steht. Dies tun die Universitäten nicht. Deswegen sind sie meines Erachtens nicht transphob, sondern einfach nur bürokratisch.

Zwischenstufen im Alter wie beim Geschlecht

Was für das Geschlecht gilt, müsste meines Erachtens auch für mein Alter gelten! Im Alter wie beim Geschlecht gibt es Zwischenstufen. Ich fühle mich nicht plötzlich wie 45, sondern im Laufe des Vormittags nimmt das Gefühl des Altseins – zumindest bei mir – meist kontinuierlich ab, eine ungeschickte Bewegung jedoch, und das Alter kann plötzlich erbarmungslos aus dem Nichts auftauchen. Beim Geschlecht ist es aus der Sicht des woken Sozialkonstruktivismus, so habe ich gelernt, ähnlich. Es gibt keine Binarität, es gibt fließende Übergange, und es kann zu plötzlichen Veränderungen kommen.

Mit all diesen Phänomenen kann man am besten umgehen, wenn Gefühl, Performance und Sprechakt gemeinsam im Rahmen einer sozialen Konstruktion Identität(en) etablieren. Würde dies gelingen, könnte dies auch in Hinblick auf das Alter umfassende bürokratische Konsequenzen haben – wenn etwa Menschen aufgrund ihres jungen Gefühls nicht pensioniert werden oder gerade, weil sie sich alt fühlen, früher pensioniert werden möchten. Gesetze hierfür wären wahrscheinlich schwieriger als alle Gesetze zum Heizungsbau.

Biologie besiegen

Kann man in diesem Zusammenhang sagen, die soziale Konstruktion besiege die Biologie? Beklagt wird von der Queerbewegung, dass in der Gesellschaft gerade der letzte Akt, die Bestätigung der gefühlten Identität durch andere, fehlt. Dies ist etwa der Fall, wenn jemand nicht mit dem gewünschten Pronomen im Alltag angeredet wird, etwa Tessa Ganserer im Deutschen Bundestag, wenn einer Transfrau zum Frauenschwimmtag im Hallenbad der Zugang untersagt wird oder einer Transfrau in Schottland verweigert wird, in einem Frauengefängnis untergebracht zu werden.

Diese und viele andere ähnliche Akte verhindern den letzten Schritt der sozialen Konstruktion von Identität. Diejenigen, denen der letzte Schritt verweigert wird, sind gekränkt. Denjenigen, die diesen letzten Schritt verweigern, wirft man gern vor, falsche oder althergebrachte Konzepte zu verfolgen. Ein gängiger Vorwurf lautet, man vertrete „Biologismus“ – das ist im üblichen Verständnis die Übertragung biologischer Maßstäbe und Begriffe auf nicht primär biologische Verhältnisse.

Kurz gesagt: Die einen halten Alter und Geschlecht für eine Frage der Biologie und die anderen für eine Frage sozialer Interaktion, und in beiden Gruppen gibt es Menschen, die sich fragen, warum man überhaupt über eine Alternative – Biologie oder soziale Konstruktion – nachdenken muss. Ein anderes schönes Schimpfwort ist das des Essentialismus. Anders als in der akademischen Philosophie bezeichnet der Begriff heute gern die Reduktion von Phänomenen auf materielle Einheiten – Geschlecht werde reduziert auf Biologie, sprich auf Chromosomen.

Es gibt auch die Reduktion auf gedachte homogene Einheiten. Kultur etwa werde reduziert auf einen homogenen, geographisch abgrenzbaren sprachlich und ethnisch einheitlichen Raum. Den Nichtessentiellen wird Dynamik im Sinne von Veränderungsmöglichkeiten zugesprochen, den anderen wird eine nicht in die moderne oder postmoderne Welt passende Statik attestiert, gern wird dies kombiniert mit dem Vorwurf, die Statischen seien transphob.

Gregor Mendel vs. hinduistische Transgenderfrau

Dynamik und Statik werden in diesem Kontext moralisch aufgeladen. Es gilt in der Tat, die Statischen zu besiegen. Als Hauptakteure des Statischen betrachtet man häufig ältere, weißhaarige Herren mit Bauchansatz, die gern dunkle oder anthrazitfarbige Anzüge tragen – mit anderen Worten, Menschen wie mich! Feministische oder queere Wissenschaftler_Innen kämen, so heißt es, aufgrund ihrer modernen dynamischen Theorien auch in der Wissenschaft zu anderen Ergebnissen.

Über solche recht waghalsig generalisierte Ideen wird vergessen, dass die Reichweite der sozialen Konstruktionen immer begrenzt ist – nämlich nur auf die, die sie akzeptieren. Und echte Akzeptanz kann nicht erzwungen werden, sie bedarf der Überzeugung! Hinzu kommt, nicht jeder Gegenstand oder jedes Phänomen eignet sich für soziale Konstruktionen.

Stellen wir uns hierzu einmal im Kontext Biologie vor, es wäre nicht der zölibatär lebende Mann, Katholik und Augustinermönch Gregor Johann Mendel gewesen, der die nach ihm benannten nach wie vor gültigen Vererbungsgesetze entwickelt hat. Stattdessen hätte eine japanische, promiskuitiv lebende, hinduistische Transgenderfrau Vererbungsgesetze entdeckt. Wären es andere Gesetze? Wohl kaum! Es gibt wissenschaftliche Tatsachen, die sich sozialen Konstruktionen nicht beugen, seien sie auch noch so sehr en vogue. Alter und Geschlecht gehören meines Erachtens dazu. Andererseits, wenn ich soziale Konstruktionen selbst zum Forschungsgegenstand mache, kann es durchaus eine Rolle spielen, wer forscht.

Eine Kollegin von mir an der LMU etwa beschäftigt sich mit der Frage, warum weibliche Pädagogen in der Rezeptionsgeschichte stiefmütterlich behandelt werden. Das heißt, vor allem männliche Forscher erwähnen sie kaum, unterschätzen ihre Beiträge, verzerren ihre Positionen etc. Hier besteht in der Tat die Möglichkeit, dass der forschende Blick einer Frau ein anderer sein kann, aber auch nicht unbedingt sein muss.

Best Agern und Golden Agern

Wenn ich von meinem Eingangsbeispiel ausgehe, dann ist Alter auf jeden Fall eine biologische Tatsache. Ich kann zwar mit Kortisonspritzen an die Wirbelsäule oder Ibuprofen Schmerzen erleichtern und mich dadurch besser bewegen, mich an diversen Körperteilen chirurgisch optimieren lassen (Fettabsaugung, Falten glätten, Haartransplantation, Botox, Polifting …) und dadurch tatsächlich jünger aussehen, mich vielleicht jünger fühlen und sogar anders angesprochen werden, aber an meinem biologischen Alter ändert das nichts.

Gleichwohl nehme ich wahr, dass es im Jahr 2023 anders ist, 64 zu sein, als bei meinem Großvater, der im Jahr 1965 64 Jahre alt war. Wir sprechen heute von Best Agern und Golden Agern. Über 60-Jährige fangen heute zum ersten Mal in ihrem Leben an, Taekwondo zu machen, schwitzen mit den Jungen in Fitnessstudios, bewegen sich auf Ü-50-Onlinekontaktplattformen und wollen meist ganz und gar keine Seniorenbusfahrt machen, wo man am Ende eine überteuerte Kuschelheizdecke kauft, die das lahme Kreuz wärmt.

Man spricht davon, dass 60 das neue 40 ist. Damit wird das biologische Alter sicherlich nicht außer Kraft gesetzt, aber durch verschiedene soziale Dynamiken anders erlebt. Man geht mit dem Alter anders um, man erlebt es anders. Jedoch: Man kann sich noch so jung fühlen oder eine gute junge Performance zeigen, am Ende stirbt man – egal, ob man sich selbst oder die anderen einen für viel jünger oder gar zu jung für den Tod halten.

Die sozialen Konstruktionen besiegen nicht die Biologie, sondern sie helfen uns, mit biologischen Tatsachen umzugehen, die wir bisweilen als unangenehm empfinden. Meines Erachtens unterscheiden sich Alters- und Geschlechtsidentität da nur wenig. Für beide Seiten sind positiv konnotierte soziale Konstruktionen gut, richtig und verdienen Akzeptanz.

Anerkennung und Denunziation

Eine Seite in diesem Diskurs wünscht sich Anerkennung dafür, dass sie die biologischen Schranken des Körpers überwinden möchte. Diesem Anspruch nach Anerkennung kommen einige nach, manche sind unsicher, und andere halten ihn für abstrus. Die Queerbewegung versucht, den Diskurs, um hegemoniale Meinungsführerschaft bemüht, dahingehend zu beeinflussen, andere dazu zu bringen, die Anerkennung unter allen Umständen auf jeden Fall auszusprechen und damit die soziale Konstruktion perfekt zu machen. Dieser Hegemonialanspruch übersieht meines Erachtens die Grenzen sozialer Konstruktion und das Recht anderer, eine andere Meinung zu haben.

Abgesehen davon ist eine erzwungene Anerkennung keine Anerkennung, sondern einfach nur Zwang, der die Oberfläche verändert, aber nicht das, was dahintersteht! Hegemoniale Ansprüche führen zu Widerstand und Anstrengungen, dem Hegemon zu widerstehen. Die Widerständigen übersehen die Macht sozialer Konstruktion, die Möglichkeiten der Sinngebung enthalten, die sie sich selbst kaum vorzustellen vermögen.

Wenn diese Sinngebungen im Widerspruch zu eigenen Überzeugungen stehen, sind sie nicht böse, sondern müssen ausgehalten werden. So ist jedenfalls mein Ideal einer liberalen und demokratischen Gesellschaft. Meines Erachtens verlassen wir dieses Ideal im gegenwärtigen Diskurs zu diesem Thema auf beiden Seiten.

Ich persönlich werde niemals in meinem Leben auf einen Christopher Street Day gehen, finde es aber gut und richtig, dass es ihn gibt, Menschen dort ihre Lebensfreude ausdrücken, auf ihre Existenz und auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen und sich gegen Diskriminierung wehren. Andersherum würde ich mir auch ein wenig Liberalität wünschen, sodass ich nicht denunziert werde als weißhaariger alter Mann, der ein ewiggestriges heteronormales Leben führt und wahrscheinlich ein transphober Faschist ist, weil er queere Formen der Sinngebung für sich selbst nicht für überzeugend hält. Man muss einander mit Respekt aushalten können, auch wenn es bisweilen schmerzt.

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