Hausbesuch bei Nummer eins

Ein Schriftsteller führt die „Cicero-Liste der 500“ an. Einer, der die Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat und als politische Instanz gilt. Offenbar schätzen die Deutschen Günter Grass nicht nur als Schriftsteller, sie weisen ihm auch eine exponierte Deutungsmacht zu.

Herzlichen Glückwunsch, Günter Grass, wie finden Sie das?
Aus welchen Gründen auch immer ich da an erster Stelle rangieren soll – die Wirklichkeit spricht eine ganz andere Sprache. Schauen Sie sich doch an, was bei uns im Fernsehen läuft, in den Talkshows – sitzen da etwa Schriftsteller? Da sehen Sie doch immer nur die bekannten Gesichter aus den verschiedensten Medien. Ob das nun bei Herrn Beckmann oder Herrn Kerner ist, man versammelt sich unablässig, es geht von einer Talkshow zur nächsten. In der Öffentlichkeit der Bundesrepublik, von den Printmedien bis zum Fernsehen, ist eine ganz andere Riege präsent, die sich den Ball zuwirft und eine Art von Vetternwirtschaft betreibt, die duzen sich mittlerweile alle untereinander. Die Leute, die heute den Ton angeben, werden aus anderen Bereichen geholt. Das Gespräch über Klinsmann ist gefragt, Leute wie der „Kaiser“ Beckenbauer oder der Mann mit den Gummibärchen, ich habe seinen Namen vergessen. Das sind in der Realität offenbar die Leitfiguren.

Günter Grass steht in der Tür seines Atelierhauses, kaum gebeugt, die Pfeife in der Hand. Ein paar Schritte entfernt liegt das Wohnhaus, die kleine, parodistische Variante einer Villa, eingebettet in die Hügellandschaft des Herzogtums Lauenburg, umgeben von einem Garten und einem schmiedeeisernen Zaun. Eine „umzäunte Seelenanlage“ hat Günter Grass einmal so einen Garten genannt. Drinnen im Atelierhaus riecht es nach Holz, Büchern, Tabak. Ein grünes Sofa, Schreibtische mit Malutensilien tauchen im Halbdunkel des späten Nachmittags auf, ein Stehpult, auf dem ein eng beschriebenes Blatt liegt. Räume mit Spitzwegaroma, ohne technische Geräte, kein Computer, kein Telefon, nicht mal ein Radio. Nur eine alte Olivetti.

Welche Debatten beschäftigen Sie zurzeit?
Mich bedrückt die Bewegungslosigkeit, es tritt alles auf der Stelle. Die Debatten sind zum Teil Scheindebatten. Der Bundestagspräsident ruft nach einer Leitkultur, was immer das sein soll. Und gleichzeitig unternimmt er den Versuch, den Sitz der Bundeskulturstiftung, die jetzt endlich mit der Länderstiftung zusammengelegt wird, von Halle nach Berlin zu holen, aus bloßer Bequemlichkeit, mit vorgeschobenen Gründen – die Lobby säße in Berlin. Ein Grund mehr, in Halle zu bleiben, wenn einem die Lobby nicht auf den Pelz rücken soll!
Diese Dinge widersprechen sich. Schließlich gibt es keinen besseren Ort als Halle, mit den Franckeschen Stiftungen und der deutschen Geschichte verbunden. Wenn man also Identität sucht, dann sollte man sie unter anderem in den Anfängen der Aufklärung suchen, im Humanismus. Halle ist ein vorzüglicher Ort dafür, zudem gepaart mit der Geschichte des Pietismus, die dazugehört. Das war damals eine kluge Entscheidung, den Sitz der Stiftung nach Halle zu legen. Nun soll sie in Berlin, im Moloch verschwinden.
Wenn gekürzt wird, ist Kultur immer als Erstes dran. Barbarische Akte, wie sie sich ereignen, wenn die Politik tätig wird, schlagen sich etwa nieder in drei, vier Jahren Streit über eine Rechtschreibreform, bei der nichts herausgekommen ist außer ungeheuren Kosten, Verwirrung der Schüler, der Lehrer, der Eltern.

Ist „Leitkultur“ ein Kampfbegriff?
Er zeugt von einem gebündelten Unverständnis von Kultur. Jemand, der Kultur begreift und weiß, wie vielfältig sie ist, müsste eigentlich ahnen, dass es das Schlimmste ist, was man ihr antun kann, wenn man ihr einen Leitfaden aufzwingt, wenn man sie bündelt, ihr ein Korsett verpasst. Das ist pure Hilflosigkeit. Sicher, wir haben eine Hauptstadt, aber ganz bestimmt kein Zentrum wie Paris oder Warschau. Diese Art von Wasserköpfen erklärt den Rest des Landes zur Provinz. Wir haben viele kulturelle Zentren, darunter kleine Städte, in denen unsere Geschichte bewahrt wird, das alles ist nicht unter das Dach einer Leitkultur zu bringen.

Sie haben selbst immer wieder Kulturpolitik gemacht, als Berater und Weggefährte von Willy Brandt, als Ideengeber und Wahlkämpfer für die SPD. Gibt es für Sie noch eine erkennbare SPD-Kulturpolitik?
Ich sehe sie nicht. Das ist sehr vernachlässigt worden. Ich weiß aber auch gar nicht, ob man die Kultur den Parteien überlassen sollte. Das Ärgerliche ist eher, dass von der Vielzahl unserer Universitäten kaum Impulse für die Gesellschaft ausgehen. Wenn man von dort überhaupt hört, dann von Streit, bei dem es meist ums Geld geht. Dass aber Impulse entstehen, wie wir es Ende der sechziger Jahre erlebt haben, als die Universitäten Unruhe in die Gesellschaft gebracht haben, bis hin zum Studentenprotest, das ist leider vorbei.

Liegt das an unserem akademischen System, vor allem dem der Geisteswissenschaften, das die Sekundärliteraturverwerter favorisiert?
Sicher, das ist der Triumph des Sekundären über das Primäre. In der Kunst sehen wir das Gleiche: Die Macher schieben sich in den Vordergrund, die Ausstellungsmacher, die „Diesesmacher“ und „Jenesmacher“; die Kritiker, die Interpreten stehen im Vordergrund, so dass das Primäre, der eigentlich kreative Akt, nur noch als Spielmaterial benutzt wird. Schon lange vorher haben wir das im Musikbetrieb mit seiner Überbetonung der Dirigenten gesehen. Karajan hatte damit begonnen: Auf den Plattencovern stand dick und groß sein Name, und darunter ganz klein Mozart, Schumann und Schubert. Diese Art von Dienstleistung im Bereich der Eitelkeit hat immer gern das Sekundäre bedient.

Seit einigen Jahren gibt es das Amt des Staatsministers für Kultur und Medien. Haben Sie Bernd Neumann schon wahrgenommen?
Nein, noch nicht. Ich habe seine drei Vorgänger wahrgenommen und bin nach wie vor dankbar dafür, dass es endlich einmal einen Bundeskanzler gab – Gerhard Schröder –, der diese Möglichkeit genutzt hat. Wir haben etwas Erstaunliches erlebt: Es hat einen häufigen Amtswechsel gegeben unter der rot-grünen Regierung, es waren drei Individualisten, drei äußerst unterschiedliche Personen, doch sie haben die Sache weitergetragen. Auf einmal hatten wir Kulturdebatten in Deutschland, auf einmal gab es etwas, das wir von einer Hauptstadt in einem föderalistischen Staat erwarten dürfen: dass übergreifende Themen artikuliert werden. Nummer vier nun heißt Neumann, viel mehr habe ich von ihm noch nicht bemerkt, außer diesem barbarischen Plan, die Bundeskulturstiftung von Halle nach Berlin zu holen.

Wir sitzen in einem hohen Raum unter einem Sonnensegel, das die Bücher vor Lichteinstrahlung schützt. Auf einem großen, leicht wackeligen Holztisch steht eine Teekanne und ein Aschenbecher mit einem Stillleben mit ausgeklopftem Tabak und angebrannten Streichhölzern. Günter Grass stopft die Pfeife und zündet sie an.

Im Wahlkampf des vergangenen Sommers haben Sie es „fahrlässig“ genannt, Angela Merkel zu wählen, wegen ihrer Haltung zu einer möglichen Kriegsbeteiligung Deutschlands im Irakkrieg. Haben Sie Ihre Einschätzung revidiert?
Frau Merkel hat sich der Situation, die sie vorgefunden hat, angepasst und hat sie zum Glück nicht widerrufen. Das mag daran liegen, dass das Versagen der USA mittlerweile so unübersehbar ist, dass selbst CDU-Politik nicht mehr daran vorbeikommt. Wenn sogar der damalige verantwortliche Minister Powell öffentlich zugibt, gelogen zu haben, falsche Dokumente und falsche Fakten auf den Tisch gelegt zu haben, wie soll man den USA applaudieren? Mittlerweile sind auch die Folterpraktiken der US Army und des Geheimdienstes ans Tageslicht gekommen – es ist durch einen engen Schulterschluss mit den USA zurzeit kein Blumentopf zu gewinnen. Das mag dazu beitragen, dass Frau Merkel den Kurs der rot-grünen Politik beibehält. Und sie muss vorsichtig bleiben, denn die Vereinigten Staaten sind im Begriff, das Iranproblem militärisch zu lösen. So etwas kann nicht an Europa vorbei passieren, da wird sie Stellung beziehen müssen.

Die hundert Tage Schonfrist für die neue Regierung sind vorbei – hat sich die Große Koalition als arbeitsfähig erwiesen?
Man müsste eigentlich annehmen, dass die Große Koalition nun die Dinge, die dringend anstehen und mit knappen Mehrheiten nicht zu erreichen sind, nun beschließen kann. Als Erstes wird das die Föderalismusreform sein. Vor der kann ich nur warnen, obwohl ich ein Anhänger des Föderalismus bin. Aber wenn man übertreibt, dann sind wir wieder beim Separatismus angelangt, bei der Kleinstaaterei, bei der Kurfürstenherrschaft. Ich halte für eine Missgeburt, was sich da abzeichnet. Und ich kann nur hoffen, dass sich für solche Tendenzen keine Zweidrittelmehrheit finden wird.

Welche konkreten Beispiele haben Sie vor Augen?
Nehmen wir ein Beispiel, das harmlos klingt und vielleicht sogar verlockend erscheinen mag, je nachdem, in welchem Bundesland man lebt: die unterschiedliche Besoldung der Beamten. Was wird die Folge sein? Die Spitzenbeamten gehen aus Mecklenburg weg und nach Baden-Württemberg, weil sie dort besser bezahlt werden. Das nennt man dann Konkurrenzkampf, Wettbewerb, Marktwirtschaft. So kann man ein Land nicht regieren. Sonst haben wir Länder zweiter und dritter Klasse.

Man müsse „den Kapitalismus zivilisieren“, haben Sie vor einiger Zeit angemahnt. Ein Widerspruch in sich?
Das sage nicht nur ich, das sagen ja mittlerweile ausgefuchste Kapitalisten, die sehen, dass dieses System sich selbst zerstört. Wir müssen ihn wieder zivilisieren. Er war ja eine Zeit lang durch die Soziale Marktwirtschaft zivilisiert, und es ging uns ganz gut dabei. Aber aus einem Mutwillen heraus, den niemand dingfest machen kann, weil es nicht mehr einzelne Personen sind – das ist ein anonymer Vorgang –, ist als einzige herrschende Ideologie der Kapitalismus übrig geblieben.

Vollends, seit der Ostblock in sich zusammenfiel und kein politisches, kritisches oder gar gefährliches Gegenüber mehr da war, ist der Kapitalismus konkurrenzlos. Sie hören kein Schlagwort häufiger als: „Wir haben keine Alternative.“
Wir leben ohne Alternative. Wir haben nur den Kapitalismus mit seinen Glaubenssätzen, auch als Religionsersatz. „Der Markt wird’s schon richten“, das ist ein reiner Wunderglaube, der immer unglaubwürdiger wird, je mehr Monopole sich durch die Globalisierung bilden und Märkte zerstören – was man jeden Tag beobachten kann: Wenn ein Betrieb rationalisiert, wenn also Entlassungen drohen, steigen die Aktien. Und diesen Zynismus nehmen wir hin! Es ist Teil des Selbstzerstörungsprogramms, das in kapitalistischen Systemen läuft.

Es war ausgerechnet Gerhard Schröder, der Kanzler einer rot-grünen Regierung, der den großen Konzernen Vergünstigungen eingeräumt hat. Ein Fehler?
Für sein Entgegenkommen den Arbeitgebern gegenüber hat sich niemand revanchiert. In einem Land, in dem die Pisa-Studie die Problematik des Bildungssystems nachgewiesen hat, sind viele Arbeitgeber ja nicht mal bereit, Lehrstellen zu schaffen. Selbst bei sinkenden Zahlen von Kindern und Jugendlichen ist man nicht in der Lage, ausreichend Lehrstellen anzubieten – wie soll dann dieses Problem behoben werden?
Wir leben in einem Staat, der sich eine Verfassung gegeben hat. Und in dieser Verfassung steht nach wie vor der Satz: Eigentum verpflichtet. Es gibt die soziale Verpflichtung des Eigentums, trotzdem wird dem nicht Rechnung getragen.
Dabei werden auch unsere kulturellen Wurzeln gekappt, Humanismus, die christliche Ethik. Ein Christ, der Christus beim Wort nimmt, kommt an der Bergpredigt nicht vorbei. Aber selbst dort, wo das Etikett „christlich“ im politischen Programm vorkommt, ist davon wenig zu bemerken.

Ist die Soziale Marktwirtschaft als Konzept eines sozial verantwortlichen Kapitalismus eine abgeschlossene Phase der bundesrepublikanischen Geschichte?
Die Soziale Marktwirtschaft war einmal das Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft. Das, was man als Wirtschaftswunder bezeichnet hat, war eine Lehre aus dem Desaster der Weimarer Republik mit sechs Millionen Arbeitslosen, die eine Grundlage für Hitlers Machtergreifung waren. Die Leute, die als Theoretiker die Voraussetzungen für Erhard und das Wirtschaftswunder geschaffen haben, sind immer davon ausgegangen, dass man die Fehler des Manchester-Liberalismus nicht wiederholen dürfe. Das ist umgesetzt worden, und es war erfolgreich – jetzt soll das zerschlagen werden, tagtäglich wird daran gedreht und geschraubt.

Wir gehen eine Holzstiege hoch zu einer schmalen Empore. Auf dem Boden liegen Blatt an Blatt Zeichnungen, Rötel- und Bleistiftzeichnungen. Es sind Entwürfe für sein neues Buch, das Manuskript ist gerade fertig geworden. Ein autobiografisches Buch, im September wird es erscheinen. Man sieht Zwiebeln in allen Varianten, aufgeschnitten, noch halb in den Häuten steckend, die Schalen fest ineinander gelegt. Zeichnungen eines Mannes, der sich nie gehäutet hat, der nun Schale um Schale seiner Biografie abträgt: „Beim Häuten der Zwiebel“ wird das neue Werk heißen.

Welche Rolle spielt Ihre Doppelbegabung als Schriftsteller und Bildender Künstler, in welchem Verhältnis stehen für Sie das Schreiben und das Zeichnen?
Es gibt Bücher, die schon von der ersten Manuskriptseite an mit Zeichnungen durchsetzt waren, zum Beispiel „Ein weites Feld“. Bei meinem neuen autobiografischen Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ habe ich erst in der Schlussphase, als alles abgeschlossen war und ich den Entwurf für den Umschlag machte, von dieser Metapher ausgehend einige Rötelzeichnungen von Zwiebeln gemacht. Die Wechselbeziehung gibt es auch bei der Lyrik. Ein Blatt fängt mit einer Zeichnung an, dann geht es in Text über, in den ersten Entwurf eines Gedichtes. Auch ist das Zeichnen eine gute Methode, schriftliche Metaphern, die man auf das Papier gesetzt hat, mit dem Zeichenstift zu überprüfen. Oft halten sie nicht stand. Das Zeichnen erfordert eine Genauigkeit, die manches schnell gefundene Bild in Frage stellt.

Empfinden Sie es als Künstler als fatal, dass der Karikaturenstreit eine Diskussion auch über die Freiheit der Kunst ausgelöst hat?
Wir wissen doch, dass Entwicklungen, wie wir sie Gott sei Dank gehabt haben – die Renaissance, die Aufklärung, die Trennung von Staat und Kirche –, in der islamischen Kultur nicht stattgefunden haben. Auch wir mussten das mühsam erkämpfen. Natürlich ist zu bedauern, dass der Islam weit entfernt von diesen Prozessen ist. Das ist ein starres System, in dem jeder Reformversuch versandete. Wir sind nun mal so weit, durch die angesprochenen geistesgeschichtlichen Entwicklungen in Europa, dass wir so etwas bei uns zulassen und ertragen können. Aber was für ein Hochmut steckt dahinter, das auch von anderen Kulturen zu verlangen?
Wir glauben, und vor allem tut das der amerikanische Präsident, dass es gleichsam einen durch das Patentamt geschützten tollen Artikel wie die Demokratie gibt, den man in andere Länder tragen kann, die keine Voraussetzungen dafür haben. Das ist ein Demokratiemodell, das nicht mal bei uns realisiert ist und nun auch noch exportiert werden soll. Wenn Sie sich ansehen, was in unserer Verfassung steht und wie die Verfassungswirklichkeit bei uns aussieht, dann sieht man, inwieweit bei uns die Demokratie nicht verwirklicht ist.
Lügen wir uns doch bitte nichts in die Tasche. Sehen Sie sich doch die Zeitungen und das Fernsehen an: Alle sind auf Werbung angewiesen. Das ist eine andere Form von Zensur. Im Zweifelsfall gibt es einfach keine Anzeigen mehr. Wir haben unsere eigenen Tabus, die nicht berührt werden. Daher haben wir keinen Grund, hochnäsig durch die Gegend zu laufen und anderen Nationen vorzuschreiben, was sie als Demokratie ansehen sollen.

Aber hat der aggressive Protest gegen die Mohammed-Karikaturen nicht auch etwas Beängstigendes?
Die Situation ist so aufgeheizt, dass man wissen konnte, was man anrichtet. Diese dänische Zeitung ist von den Imamen, die in Dänemark als dänische Staatsbürger leben, gewarnt worden. Das Thema ist aber der Nord-Südkonflikt. Wenn der Westen die Kolonialpolitik mit anderen Mitteln fortsetzt und Abhängigkeiten schafft, dann muss man sich nicht wundern, wenn auf dieser Grundlage Enttäuschung, Wut, Hass und schließlich Terrorismus entstehen. Keine Polizei-maßnahme und schon gar nicht Kriege wie der Irakkrieg können diesen Terrorismus bekämpfen. Im Gegenteil, er wächst dadurch. Von einer neuen Weltwirtschaftsordnung ist nach wie vor so gut wie nichts zu spüren.

„Beim Häuten der Zwiebel“, das werden Ansichten Ihres romanhaften Lebens sein, das zum literarischen Material wurde. Junge Autoren werden heute oft dafür kritisiert, dass sie ihre eigene Belanglosigkeit zum Thema machen. Kann man ihnen vorwerfen, dass sie bislang wenig Dramatisches erlebt haben?
Sicher, es gab mal eine Zeit lang eine Tendenz bei jüngeren Autoren, in erster Linie über sich zu schreiben, über die eigenen Probleme, den eigenen Bauchnabel. Danach nahm die Bereitschaft der Autoren wieder zu, die sperrigen Themen in den Vordergrund zu stellen, nehmen Sie Romane wie „Hampels Fluchten“ von Michael Kumpfmüller.
Natürlich kann man sagen, dass es meine Generation in der Beziehung leicht hatte, uns waren die Themen vorgeschrieben. Ich konnte ihnen nicht ausweichen. Ich habe Versuche unternommen, artistisch herumzutänzeln, stand aber immer wieder vor dieser Geröllmasse – die abgetragen werden musste. Es war eindeutig zu erkennen, dass man sich nicht vorbeischummeln konnte. Das ist heute schwieriger. Aber es gibt die großen Themen nach wie vor, allein schon in Deutschland: die Einheit. Ein Gutteil der interessanten Bücher kommt aus Ostdeutschland, weil dort die Problematik nicht zu verdrängen ist. Das geht durch jede Familie hindurch, spielt sich in ihren Biografien ab und führt zu Zerreißproben, etwa durch Abwanderung.

Während Ihres Studiums an der Düsseldorfer Kunstakademie eckten Sie mit Ihren gegenständlichen Bildern an – einmal wurden Sie sogar von einer Jury für eine Gruppenausstellung abgelehnt.
Das war damals das Diktat der so genannten Informellen Malerei, deren Vertreter alle Positionen besetzten. Ich habe daraufhin nur noch Einzelausstellungen in eigener Sache gemacht. Ich wollte mich nie wieder aus ideologischen Gründen ausjurieren lassen. Heute haben wir eine neue Gegenständlichkeit, und wenn Sie in die Museen gehen, die sich eingedeckt haben mit Informeller Malerei, dann geht man gelangweilt daran vorbei, wie man im Louvre einen Saal mit Historienmalerei durchschreitet.
Damals ist das ein richtiger Bilderstreit gewesen. So, wie man 1990 in einigen deutschen Feuilletons versucht hat, die Literatur der DDR in der Gestalt von Christa Wolf niederzumachen. Ich erinnere an Herrn Schirrmacher und an Herrn Greiner, die da draufgeschlagen haben.

Warum reagierte die westdeutsche Literaturkritik so heftig auf Christa Wolf?
Es sollte ja die gesamte so genannte „engagierte Literatur“ abgestraft werden. Das zielte auch nach Westen. Ein missglückter Totschlagversuch mehr (lacht) – he leef immer noch!

Waren Sie verletzt?
Damals ging es mir schon ziemlich nah.

Sind Sie auch heute noch verwundbar, trotz aller Ehrungen und Auszeichnungen, trotz des Nobelpreises?
Natürlich, sonst könnte ich ja nicht schreiben. Ich wollte mir auch nie eine Elefantenhaut wachsen lassen.
Was mir auffällt, ist ein großer Unterschied zwischen der deutschen Literaturkritik und der angelsächsisch geprägten. In Deutschland sind selbst Kritiker mit großen Namen kaum noch bereit, erst einmal ihren Lesern zu erklären, worum es in einem Buch geht. Es geht meist darum, was sich der Kritiker von der Literatur insgesamt erwartet und was er speziell von dem jeweiligen Autor erwartet. Und wehe, wenn der Autor nicht seine Wünsche erfüllt! In der angelsächsischen Literaturkritik wird das Buch als etwas Gegebenes wahrgenommen und dem Leser erst einmal mitgeteilt, was darin vorkommt. Dann wird gefragt: Hat der Autor erreicht, was er erreichen wollte? Darüber urteilt dann die Kritik. Diese Genauigkeit und Bescheidenheit, die in den besten Beispielen dieser Art vorkommt, ist in Deutschland selten anzutreffen.

Und woher kam die heftige Reaktion auf DDR-Literatur?
Es gab eine westdeutsche Mentalität: Wenn es zur Einheit kommt, dann bitte nur und ausschließlich nach westdeutschem Maß. So ist es auch in anderen Bereichen gemacht worden. Nicht nur in der Kunst und der Literatur: Man hat die in der DDR gut funktionierenden Poly-kliniken nach der Wiedervereinigung abgewickelt. Heute fehlen sie. Aber weil es sie im Westen nicht gab, durfte es sie auch dort nicht mehr geben.

Welche Versäumnisse hat es grundsätzlich gegeben bei der Einheit?
Man hat die Verfassung missachtet, die uns im Falle einer Wiedervereinigung im Schlussartikel vorgeschrieben hatte, dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorzulegen. Man hat das stattdessen über Artikel 23 gemacht, einem bloßen Anschlussartikel.
Das Ganze ist ein Darüber-Hinwegreden aus westdeutscher Sicht, ein Nichtwahrnehmen, dass da sechzehn Millionen Menschen sind, die eine ganz andere Biografie haben und weit mehr für den von allen Deutschen verlorenen Krieg bezahlt haben als die Westdeutschen. Unter diesen Versäumnissen leidet das Konzept bis heute.

Hätte man aus symbolpolitischen Gründen auch beispielsweise eine neue Nationalhymne und eine neue Fahne gestalten lassen sollen?
Wir hätten all das tun sollen. Natürlich hätte es Streit gegeben, aber daran hätten sich die sechzehn Millionen beteiligen können. So hat man ihnen etwas übergestülpt, was nicht gewachsen war. Deshalb steht die Einheit nach wie vor nur auf dem Papier.

Sind Sie einer der letzten Moralisten?
Ich bin ein neugieriger Mensch. Mir fallen Dinge auf, nach wie vor, und dann stoße ich mich daran und melde mich zu Wort.

Das Gespräch führte Christine Eichel

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.