Hartmut Rosa - Die Systemfrage stellen

Hartmut Rosa ist einer der bekanntesten Soziologen des Landes. Die Aufgabe der Soziologie sieht er nicht allein darin, gesellschaftliche Zustände zu diagnostizieren und zu beschreiben. Nun wird ihm der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehen.

Hartmut Rosa will nicht nur Probleme beschreiben, sondern auch Lösungsalternativen vorstellen / dpa
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Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Wahrscheinlich sollte man gerade jetzt, wo jeder so verzagt und ratlos ist, so mutlos angesichts von Krieg und Zeitenwende, von Corona, Klimakrise und Demokratieverdrossenheit, nicht nur darüber nachdenken, woran unsere Gesellschaft leidet. Sondern wagen, sich vorzustellen, dass sie auch ganz anders aussehen könnte.

Ein grauer Winternachmittag in Jena. Die Straßen sind voller Studenten, die aus ihren Vorlesungen und Seminaren kommen. Der Campus mitten im Zentrum. Jena wirkt wie eine Universität, um die man eine Stadt herumgebaut hat. Im Fachbereich Soziologie sitzen Studenten an Tischen vor ihren Laptops. Das Studienfach boomt in Jena. Und das dürfte auch an Hartmut Rosa liegen, der hier seit 2005 lehrt.

Soziologie und die Gegenwart

Rosa, dem am 15. März der Leibniz-­Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehen wird, ist einer der wichtigsten und einer der spannendsten Soziologen in Deutschland. Auch weil er schon immer gern über die Fachgrenzen hinausgesehen hat. Als Abiturient wollte er Physik und Philosophie studieren. Es wurde dann erst mal Germanistik im Hauptfach, weil er die interessanteren philosophischen Fragen in der Literatur fand. Promoviert hat Rosa in Politik über den kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor. Sich habilitiert in Soziologie. 
 

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Auf Rosas Bürotisch türmen sich die Bücher: Philosophie, Politik, Länderkunde. Gerade hat Rosa ein Erstsemester-Seminar zum Thema „Zeitdiagnosen“ gehalten. Der 57-Jährige wirkt jungenhaft, offen, ohne professoralen Dünkel, dafür voller Leidenschaft und Begeisterung für die Fragen, die ihn schon als junger Mann zur Wissenschaft geführt haben und noch immer antreiben. Warum handeln wir so, wie wir handeln? Warum denken und fühlen wir so, wie wir es tun? Was treibt uns an? Rosa redet schnell, seine Hände sind immer in Bewegung und unterstreichen jedes Wort. Wenn er spricht, dann klingt immer noch warm und weich gedehnt das Alemannische seiner Herkunft aus dem Hochschwarzwald durch.

Hartmut Rosa ist derzeit ein gefragter Gesprächspartner. „Ich fände es absurd, wenn wir wie jetzt Krisen großen Ausmaßes haben, und die Soziologie sagt nichts dazu“, erklärt Rosa. Er sieht die zentrale Aufgabe seines Faches darin, „die bestmögliche Deutung zu machen, die mir zu diesem Zeitpunkt möglich ist“. Rosa betrachtet die gegenwärtigen Krisen nicht als Einzelphänomene. Für ihn sind sie Ausdruck „eines kardinalen Webfehlers moderner Gesellschaften“. Nicht Wachstum und Beschleunigung seien das Problem der modernen Gesellschaft. „Das ist ein zivilisatorisches Prinzip“, sagt Rosa.

Die Systemfrage stellen

Doch was ist, wenn Steigerung und Beschleunigung nicht mehr Fortschritt bedeuten? Wenn eine Gesellschaft immer mehr Energien und Ressourcen aufwenden muss, damit sie ihre Institutionen und ihr Gefüge, Renten, Arbeit, Gesundheit und Bildung, aufrechterhalten kann? Was, wenn die Generationen verbindende Erzählung, dass man hart arbeitet, damit es den Kindern einmal besser geht, nicht mehr gilt? „Diese kulturelle Hoffnung ist völlig verschwunden“, sagt Rosa. „Das führt zu einem Aggressionsverhältnis gegenüber der Welt.“

Anders als viele seiner Kollegen sieht Rosa die Aufgabe der Soziologie nicht allein darin, gesellschaftliche Zustände zu diagnostizieren und zu beschreiben. Sondern auch Alternativen, neue Pfade aufzuzeigen. Mehr noch, auch die Systemfrage zu stellen. Nach einer neuen Gesellschaftsform zu fragen, die beschleunigt, wenn Knappheit herrscht, wenn es Bedarf gibt, etwa an neuen Medikamenten. Die sich steigert, wenn das zu einer Verbesserung des Lebens führt. Die aber nicht gezwungen ist zu wachsen, um das Bestehende zu erhalten.

Resonanz mit der Umwelt

Wie schwer es gesellschaftliche Gegenentwürfe haben, erlebt Rosa immer wieder. „Wenn ich sage, ich bin skeptisch gegenüber dem Wachstumszwang, dann werde ich unweigerlich gefragt, ob ich zum Stalinismus zurückwill.“ Als gebe es nur Kapitalismus und Kommunismus. Tausend Entwürfe für die Apokalypse, aber nur zwei Sinnangebote für die Zukunft.

Denn es bleibt die Frage nach einem gelingenden Leben, nach einer Antwort auf die Leiden an der Beschleunigung, auf die Aggressivität. Ein Leben, in dem die Menschen „Resonanz“ erfahren, wie Rosa es ausdrückt. Sich verbunden und lebendig fühlen. Sich „anrufen“ lassen und gehört werden. Und bereit sind, etwas Neues entstehen zu lassen. Man kann das mit der Musik vergleichen, die die Dinge in Schwingung versetzt, den Raum, Spielende und Hörende. Am Wochenende wird Rosa in der protestantischen Kirche seiner kleinen Heimatgemeinde im Hochschwarzwald Orgel spielen.

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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