Rolling Stones: „Hackney Diamonds“ - Mission accomplished

Achtzehn Jahren nach ihrem letzten Album veröffentlichten die Stones ihre neue LP „Hackney Diamonds“. In den britischen Medien wurde das Album gefeiert. Das war vielleicht etwas übertrieben. Doch nicht zuletzt dank Produzent Watts wäre es ein würdiger Abschluss einer grandiosen Bandgeschichte.

Legenden der Rockgeschichte: Ronnie Wood (l.), Mick Jagger und Keith Richards / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

Wenn eine Band im vierundsechzigsten Jahr ihres Bestehens ihr vierundzwanzigstes beziehungsweise (auf dem amerikanischen Markt) sechsundzwanzigstes Studioalbum herausbringt, wenn die noch lebenden Mitglieder dieser Band zusammen 235 Jahre alt sind und wenn diese Band zudem „The Rolling Stones“ heißt (ok, keine andere Band kann solche Daten liefern), dann ist die Versuchung groß, eine neue Platte dieser Band in den Himmel zu loben – allein dafür, dass es sie gibt.

Doch in der Musik ist Quantität und die Tatsache, überlebt zu haben, noch kein Qualitätskriterium. Zudem ist die Bandgeschichte für jede neue Produktion der Stones vor allem auch erst einmal eine Bürde. Denn selbst hartgesottene Fans werden zugestehen, dass die besten Alben der Band („Aftermath“, Let it Bleed“, „Sticky Fingers“) vor über fünfzig Jahren produziert wurden. Und man tritt den Stones sicher nicht zu nah, wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass das letzte wirkliche Highlight das Album „Exile On Main St“ markiert. Und das datiert von 1973.

Eine echte Stones-Platte

Man braucht sich nur die eben erwähnten Alben zu vergegenwärtigen, um sich klar zu machen, was für eine Last eine neue Stones-Platte für alle Beteiligten sein muss. Zu groß ist die Gefahr, kurz vor dem Eintritt ins Greisen-Alter ein mediokres Werk abzuliefern, das mit höflichem Applaus aufgenommen und dann vergessen wird. Und noch größer ist die Chance zur eigenen Karikatur zu verkommen. Das liegt allerdings nicht nur an der Band selbst, sondern auch an den Fans. Denn die erwarten von den Stones genau das: eine neue Stones-Platte.

Und immerhin das kann man schon einmal verraten: „Hackney Diamonds“, die gestern erschienene neue LP der Stones, ist eine echte Stones-Platte. Und sie ist nicht die schlechteste. Mission accomplished.

 

Mehr aus der Grauzone:

 

Aber so einfach darf man es einer Band wie den Stones natürlich nicht machen. Auch im Jahre 2023 nicht. Man muss schon genauer hinhören. Oder auch hinsehen. Das empfiehlt sich etwa bei dem Opener „Angry“, der zugleich die erste Single-Auskopplung war. Denn das Video von „Angry“ ist ein Ärgernis, selbst wenn man es ironisch versteht und nicht in Wokeness gebadet ist. Denn das Filmchen zeigt vor allem eine junge Blondine (gespielt von Sydney Sweeney), die sich im Lederoutfit in einem Mercedes-Cabrio räkelt, das über den Sunset-Boulevard fährt. Was soll das sein? Ein gefilmter Alt-Herren-Witz? Und dass der eigentliche Song sich so anhört als hätte man eine KI beauftragt ein Stones-Stück zu komponieren, macht die Sache auch nicht besser.

Gleiches gilt für die zweite Nummer der Platte „Get close“, die zu allem Überfluss auch noch mit einem biederen Saxophone-Solo aufwartet, für das man tatsächlich über achtzig sein muss, um es groovy zu finden. „Depending on You“, die Folgenummer, wird wahrscheinlich auch keinen Originalitätspreis gewinnen, sorgt aber immerhin dafür, dass man nicht endgültig jede Hoffnung fahren lässt.

Retro-Haftigkeit mit einem modernen Rahmen

Mit „Bite my Head off“ folgt dann ein lupenreines und eingängiges Rock-Stück, das zudem Paul McCartney an seinem alten Höfner-Violinbass bietet. McCartney war es auch, der den Stones den erst 33-Jährigen Andrew Watt als Produzenten empfahl, dem es gelungen ist, „Hackney Diamonds“ bei aller Retro-Haftigkeit letztlich einen modernen Rahmen zu geben – und so zu retten.

Das wird besonders deutlich bei „Whole Wide World“, einem leicht zugänglichen Stück mit ohrwurmhaften Refrain, das nur aufgrund Mick Jaggers Stimme nicht klingt wie eine Brit-Pop-Nummer der 1990er Jahre – was nicht negativ gemeint ist, im Gegenteil. 

„Dreamy Skies“ setzt danach einen sauberen Country-Kontrast, der durch Mundharmonika und die Slide-Guitar von Keith Richards noch akzentuiert wird – fein.

Es folgt „Mess it up“, einer von zwei Songs, in denen der 2021 verstorbenen Stones-Schlagzeuger Charlie Watts zu hören ist: routiniert, rockig, eine stonige Nummer für Stones-Fans. Doch nicht genug der Erinnerung. Bei „Live by Sword“ griff Ex-Stones Bill Wyman zum Bass, was zusammen mit den Gitarren von Richards und Woods die Retro-Ästhetik abrundet. Bei „Driving me too hard“ schafft es Produzent Watts jedoch, dass die Platte mitsamt der Midtempo-Nummer nicht endgültig im Musealen versinkt.

Endgültiger Schlusspunkt der Bandgeschichte?

Ein wirklicher Höhepunkt des Albums stellt die von – Ehre wem Ehre gebührt – Keith Richards gesungene Bluesballade „Tell me straight“ da. Ein wunderbarer melancholischer Fingerzeig unter all den Rocker-Posen.

Ebenfalls als Bluesballade kommt „Sweat Sounds of Heaven” daher. Doch anders als ihre Vorgängerin ist diese Nummer nicht schlank und gradlinig, sondern aufgeblasen und am Rande des Kitsches, was vielleicht auch am Hintergrundgesang von Lady Gaga liegt, nicht aber an der Keyboardbegleitung von Stevie Wonder.

Den Abschluss bildet das Muddy-Waters-Stück „Rolling Stones Blues“, was insofern sinnig ist, weil die Stones ihren Namen angeblich genau jenem Song (bei Waters „Rollin‘ Stone“) verdanken. Und das Netz spekuliert: Ein Hinweis, dass das der endgültige Schlusspunkt der Bad-Geschichte ist? Mag sein und vielleicht wäre es kein Fehler. Denn mit „Hackney Diamonds“ haben die Stones ein alles in allem solides Werk abgeliefert, das alte Fans nicht enttäuscht, neue Hörer nicht befremdet und es versteht, hier und dort kleine Glanzlichter zu setzen. Was will man mehr nach einundsechzig Jahren Bandgeschichte?

Anzeige