Der neue Gender Gap - Ist Nationalismus die Antwort auf #MeToo?

Ursprünglich gab die MeToo-Bewegung auch männlichen Opfern von Missbrauch und Übergriffen eine Stimme. Doch bald drehte sich der Wind, und Männlichkeit als solche wurde als „toxisch“ bezeichnet. Die Folge: Männer und Frauen driften auch politisch immer weiter auseinander.

Reines Männer-Bashing? Die Statue „Medusa mit dem Haupt des Perseus“ von Luciano Garbati in New York entstand im Zuge der MeToo-Debatte / dpa
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Autoreninfo

Ralf Bönt ist Schriftsteller und Physiker. 2015 erschien sein Roman „Das kurze Leben des Ray Müller“.

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Alice Evans, derzeit Gast am Stanford King Center on Global Development und seit langem in der Genderforschung auf weltweiten Pfaden unterwegs, legte jüngst Zahlen über einen politischen Gender Gap vor, der sich seit etwa sechs Jahren aufgetan hat. Junge Männer wählen rechts bis rechtsextrem, junge Frauen linksliberal. Startschuss für diese Spaltung soll #MeToo gewesen sein. Das ist keine gute Nachricht.

Bevor der Geist von MeToo an einem alten Denkfehler zerbrach, hatte die Bewegung doch schon eine Reihe spektakulärer Erfolge errungen. Es war kein Kampf von Frauen gegen Männer, sondern wirklich einer gegen sexuelle Ausbeutung. Doppelstandards existierten nicht, auffällig leicht übersprang man die jahrzehntelang geltende Geschlechtergrenze: Jungen und Männer bekamen als Opfer genau so viel Aufmerksamkeit wie Frauen. Im Deutschlandfunk hatte ich gar das Glück, an einer Sendung mit Hörerbeteiligung mitzuwirken, als in der zweiten Stunde ein Mann mittleren Alters erst stockend, aber dann anschaulich von der Vergewaltigung berichtete, die er als Sechzehnjähriger erlitt. Täterin war die beste Freundin der Mutter. 

Ganz anders war es noch in den Achtzigerjahren, als man Manfred Bieler für seinen Roman „Still wie die Nacht“, der vom Missbrauch durch die Mutter erzählt, im „Literarischen Quartett“ ausgelacht hatte. Dabei sind derlei Schilderungen wichtig: So steigt die Vorstellungskraft anderer Männer für die Welt der Übergriffe, in der vor allem Frauen leben. Nebenbei werden auch die Annahmen widerlegt, Männer seinen unverletzlich und gefühllos.

Aber leider ging es nicht so positiv weiter. Zunehmend wurde mit der immer selben Erregung über krass unterschiedlich schwere Fälle gesprochen. Mehrere Beschuldigte wie etwa der Choreograf und Tänzer Liam Scarlett und der schwedische Theaterregisseur Benny Fredriksson brachten sich um, ohne dass es zur Klärung der mindestens zweifelhaften Vorwürfe kam. Immer häufiger sprachen vor allem Männer von Hexenjagd. Das war zwar nicht jedes Mal berechtigt, aber auch Opfer von Falschbeschuldigungen müssen in dieser Welt weiterleben, ohne dass ihr Ruf vollständig wiederhergestellt wird.  

Die Annahme der Gleichheit verstellt den Blick auf die Probleme der Männer

Als sich dann ein amerikanischer Starautor in der Pause einer Zoomkonferenz vor noch laufender Kamera selbst befriedigte – versehentlich, wie er anschließend beteuerte – und eine queere Starautorin ihn dabei beobachtete, war das ein großer Skandal, allerdings nicht etwa zu Lasten der ungebetenen Beobachterin am Fenster. Weil das im umgekehrten Fall – Mann beobachtet Frau – womöglich anders gewertet worden wäre, sahen sich all diejenigen im Recht, für die #MeToo vor allem male bashing war, mit dem Ziel, Männern erst die bürgerliche Ehre und dann die begehrten beruflichen Positionen abzunehmen.

Denn #MeToo findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist Teil eines großen Umbaus der Gesellschaft – mit Schlagseite: Weil Frauen heute viel weniger Kinder bekommen als noch vor 60 Jahren, haben sich ihre Biografien stark verändert: Sie arbeiten etwa mehr, machen Karriere, sind unabhängiger vom Ehemann. In der Folge ergeben sich neue Erwartungen an Männer, die aber nicht besonders klar umrissen sind. Im Moment regiert die mixed message, ein System widersprüchlicher Forderungen. Einerseits sollen Männer „alles richtig machen“ und sich etwa gleichberechtigt um die Kindererziehung kümmern, andererseits stehen viele Frauen noch immer auf den sich exponierenden Mann alter Prägung. Nichts ist anziehender als Kraft, Unabhängigkeit und Erfolg. Das gilt übrigens auch für Männerkreise.

Die Debatte um den neuen Mann – und was das überhaupt sein soll – wird schon seit der Französischen Revolution geführt, bislang ohne bahnbrechendes Ergebnis. Das mag auch an einem Denkfehler liegen, denn oft werden mit Frau und Mann zwei Ungleiche für gleich erklärt, die sich bitte gleich verhalten sollen – auch wenn sie das biologisch betrachtet nicht sind. Viel schwieriger wäre es allerdings, gleiche Freiheit, Würde und Rechte unter zwei Ungleichen herzustellen, wie es in der Proklamation der universellen Menschenrechte gemeint war. Denn die Annahme der Gleichheit verstellt den Blick auf die Probleme der Männer. Sie verhindert auch, das Patriarchat besser zu durchschauen, das aus diesem Problemen entstanden ist, sie aber auch lange Zeit entschärfte.  

Einen safe space gibt es für Männer nicht

Nach Jahrzehnten der strapazierten Idee, Geschlecht sei vor allem sozial, lohnt es sich, einen frischen Blick auf die Unterschiede zu werfen. Die Gründe für die einstige Trennung der Welten von Männern und Frauen sind nämlich leicht zu finden. Sexualität imaginierte man etwa innerhalb des einen (weiblichen) und außerhalb des anderen (männlichen) Körpers. Vor Urzeiten führte dies zur mythischen Aufladung der weiblichen – rätselhaften – Innenwelten. Man sah ja nichts. Ganz anders die Sache beim Mann: alles sichtbar von der Erregung bis zum Höhepunkt – alles klar und einfach also. Niemand beschäftigte sich mit seinen Gefühlen, Zweifeln und Leiden. Ausgemacht war, wer zu werben und wer zu wählen habe, wer aktiv, wer passiv ist.

 

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Der Außenraum aber war nie privat, sondern muss mit allen anderen geteilt werden: Hier ensteht die existenzielle männliche Unsicherheit. Einen safe space gibt es für Männer nicht, das spüren Jungs – so der Stand des psychoanalytischen Wissens – ab dem Moment, in dem sie ihren Unterschied zur Mutter entdeckt haben. Weil der Vater dann in der Regel nicht da ist, entsteht eine übergroße Vorstellung vom Leben eines Mannes, das dem Jungen Angst macht. Er wird diese Angst nicht mehr los werden und begegnet ihr später etwa mit Alkohol und Übersprungshandlungen. Das ist dann, was heute toxische Männlichkeit heißt, in Fachkreisen aber Übermännlichkeit genannt wird: etwas außerhalb der Männlichkeit, und daher auch der Menschlichkeit. Das eigentlich Toxische ist nicht der Mann, sondern die Heldentat als Männlichkeitsbeweis, denn ständig über sich hinausgehen zu müssen ist keine Übung in Selbstkontrolle.

Schließlich wird die Aufteilung in weibliche Innenwelten und männliche Dominanz in Außenräumen natürlich durch die Fortpflanzung selbst, diesem berührendsten Vorgang im Leben, prägnant bestätigt. Historisch betrachtet muss man sagen: Leben gab immer nur die Frau. Noch Goethe wusste beim Verfassen der „Wahlverwandtschaften“ nicht, wie Fortpflanzung wirklich vonstatten geht. Man bemerkt es in der Schlüsselszene, die auf der heute seltsam klingenden Idee beruht, das Gesicht eines Kindes würde von den Gesichtsausdrücken der Eltern im Moment der Zeugung bestimmt. Darwin war damals noch fern. Es galt die Prädestinationslehre, nach der ein – natürlich maskuliner – Schöpfer einst alles Leben schuf, also auch das noch ungeborene. Unter Gelehrten ging der Streit seit je darum, ob die schon fertigen Menschlein im weiblichen Körper lagerten oder im männlichen. Mit Erfindung der Mikroskope behaupteten eifrige – natürlich maskuline – Forscher denn auch schnell, ganze Menschenkörper im Sperma gesehen zu haben, mit Kopf, Armen und Beinen. Das bestätigte sich dann nicht, aber man entdeckte bald das weibliche Ei und den Umstand, dass Leben stets neu entsteht. Eigentlich könnte seitdem alles gut sein, wissen die Geschlechter doch jetzt, wie unentbehrlich, unterschiedlich und ergänzend sie sind.

Der Mann steht im Patriarchat nicht automatisch auf der Siegerseite

Doch nichts ist gut. Weil sie nur den Außenraum im Blick hatte, den sie erorbern wollte, sah die französische Feministin Simone de Beauvoir eine auf sich selbst beschränkte Frau und einen über sich hinaus gehenden Mann. Ganz anders klang zwar die Schriftstellerin Virginia Woolf, als sie in dem Klassiker „Ein Zimmer für sich allein“ fragte: Wenn sich so das Eingeschlossensein anfühle, wie dann erst das Ausgeschlossensein? Doch Beauvoir dominiert bis heute die Debatte mit der falsch verstandenen Rhetorik von der Frau, als die man nicht geboren werde. Der Schriftsteller Elias Canetti schrieb einmal, die Frau verfüge mit der Macht über das Kind über die intensivste Form von Macht. Und es stimmt ja: Dieser gender power gap erst hat all die absurden Ideen der Männer produziert, wie die unbefleckte Empfängnis durch einen Heiligen Geist oder den profanen Wahn, Frauen besitzen und abwerten zu müssen. Die Welt würde gleichberechtiger, wenn man dieses Machtgefälle abbauen würde. Wie das ginge? Indem man die Prämisse, dass der Mann im Patriarchat automatisch auf der Siegerseite steht, aufgibt. Weil man nicht nur auf die Außenräume schaut, sondern auch die Machtverhältnisse in den Innenräumen, in denen Frauen dominieren, anerkennt. Vom Opferbekenntnis #MeToo könnte frau zur Einladung gelangen, auch ihre Macht zu teilen, vielleicht als #YouToo?  

Aber das ist Zukunftsmusik. Solange die Gleichberechtigung nur die Wege der Frauen nach draußen meint und nicht auch neue Räume für Männer, solange wird sie von ihnen nur als Wand wahrgenommen werden, die sich auf sie zubewegt. Männer empfänden die Gleichheit der Geschlechter als tödliche Falle, schrieb die Philosophin Elisabeth Badinter. Weil sie instinktiv spüren, dass sie derzeit nichts zu gewinnen und alles zu verlieren haben, retten sehr viele Männer sich jetzt ins politische Rechtsaußen. Dort verspricht man eine Rückkehr zur traditionellen, patriarchalen Familie und Arbeitswelt, umgeben von einem Außenraum namens Nationalstaat, den die Männer brüderlich zu ihrem safe space machen. Das ist die andere besonders dumme Lüge, denn die Vergangenheit mit im Haus lebenden Frauen und geschlossenen Grenzen kommt nicht zurück. Die Idee gleicher Freiheit, Würde und Rechte für Frau und Mann aber ist jetzt auf einige Zeit gescheitert.

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