Flugblatt-Affäre bei Anne Will - Die Moralisierungsrepublik kann nicht loslassen

Eigentlich ist die Diskussion um die Flugblatt-Affäre längst an ihrem Ende angekommen. Doch schon mittendrin in der Sackgasse, dreht man sich immer noch im Kreis. Auch bei Anne Will. Mit noch mehr Slogans in einer an Slogans nicht gerade armen Debatte.

Aiwanger-Runde bei Anne Will
Anzeige

Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

So erreichen Sie Ben Krischke:

Anzeige

Die Fähigkeit loszulassen gehört zu seriösem Journalismus dazu. Manchmal recherchiert man und recherchiert, und am Ende kommt nichts bei rum. Dann ist das ärgerlich, aber das Loslassen ist nicht so schwer. Ein anderes Mal, und da sind wir direkt beim Fall Aiwanger, recherchiert man und recherchiert und findet etwas, das lange zurückliegt, irgendwie unklar ist, aber zweifellos unschön. Dann wird es etwas komplizierter; dann muss man abwägen und die Dinge in Relation setzen.

Bei der Süddeutschen Zeitung konnte man vor dem ersten Bericht über die Flugblatt-Affäre nicht loslassen, und in Relation gesetzt hat man im Artikel auch nichts, was aber nur oberflächlich mit dem Flugblatt selbst zu tun hat, sondern vor allem damit, dass man in Berg am Laim nichts Geschmackloses über einen Grünen-Politiker ausgegraben hatte, sondern über den Freie-Wähler-Chef Aiwanger (respektive über dessen Bruder, was erst hinterher klar wurde). Und hier wird es ärgerlich. 

Die SZ blamiert sich

These: Wäre ein solches Flugblatt im Umfeld eines grünen Spitzenpolitikers vor 35 Jahren aufgetaucht, wäre das ganze Thema niemals derart hochgekocht worden. Ein Bericht, eine Distanzierung, eine Entschuldigung für was auch immer, und die Sache wäre längst vom Tisch. Doch stattdessen hat sich die Süddeutsche Zeitung im Fall Aiwanger sauber blamiert, viele Kommentatoren aus den Reihen der politischen Gegner Aiwangers ebenso, und am Ende legen die Freien Wähler in einer jüngsten Umfrage sogar deutlich zu, weil die Menschen im Freistaat nicht so blöd sind, wie man das im Pädagogikjournalismus glaubt. Dort glaub man nämlich, man wisse besser, was fürs Land gut ist und was sich schickt in der Moralisierungsrepublik Ampelland. 

Nein, mit ein wenig gesundem Menschenverstand müsste man längst zu dem Schluss gekommen sein, dass dieses Flugblatt geschmacklos war, ekelhaft, aber das Tohuwabohu drumherum in keinem Verhältnis mehr steht. Außerdem war die Strategie der SZ von Anfang an durchschaubar. Cui bono? Man wollte Aiwanger vor allem schaden, nicht aufklären. Man wollte ihm Antisemitismus an den Hals schreiben, kurz vor der bayerischen Landtagswahl. Schließlich sind unsere Breitengrade, ich lebe in Bayern, auch bekannt dafür, dass wir derzeit das letzte Bollwerk sind gegen grüne Umtriebe auf Landesebene. 

Das mit dem Loslassen hätte der SZ gut getan. Und eigentlich dachte ich vor wenigen Tagen noch, dass das Thema jetzt vom Tisch wäre, nachdem die von Grünen, SPD und FDP angestoßene Sondersitzung im bayerischen Landtag zur großen Show-Einlage mit Antisemitismus wurde. „Ist gut jetzt“, müsste die angemessene Reaktion sein. Aiwanger hat genug eingesteckt, alle haben alles gesagt – und genaugenommen gibt es derzeit einen Skandal, der viel wichtiger wäre: der um Nancy Faeser und den Fall Schönbohm nämlich. Antisemitisches Flugblatt vor 35 Jahren versus Stasi-Methoden heute. 

Auf Biegen und Brechen moralisiert

Und weil dem so ist – verzeihen Sie mir bitte die lange Vorrede, aber hilft ja nichts –, hat mich die Themenwahl bei Anne Will vom Sonntag dann doch überrascht. Denn schon wieder wurde über den Fall Aiwanger gesprochen, schon wieder wurde auf Biegen und Brechen moralisiert. Und zwar dahingehend, dass jetzt darüber diskutiert wird, wie seit Tagen schon, ob sich Aiwanger ausreichend entschuldigt habe für damals, wobei das Flugblatt ja vom Bruder kommt und es eher schwierig ist, sich für die Taten anderer zu entschuldigen.

Aber seine Reaktionen! So schallt es dann zurück. Ja, über seine Reaktionen auf die Affäre und ob diese richtig waren, darüber kann man selbstredend sprechen. Aber über was diskutieren wir dann eigentlich? Genau. Über reine Geschmacksfragen, wie aus der individuellen Perspektive eine gute Entschuldigung und echte Reue auszusehen hat. Da können wir uns bis in alle selbstgewählte Ewigkeit im Kreise drehen, weil der moralische Zeigefinger groß und dick ist, aber die kritische Selbstreflexion, die man von Protagonisten, die Aiwanger seit Tagen angreifen, ja ebenfalls sollte einfordern dürfen, die bleibt auf der Strecke. 

Aiwanger sei schuld

Apropos Entschuldigung und Angemessenheit. Bei Anne Will war Roman Deininger zu Gast, Chefreporter der Süddeutschen Zeitung, der sich auf kritische Nachfrage zur Arbeit der SZ nicht entschuldigte, also gar nicht, sondern behauptete, die SZ habe in dem Fall „sauber recherchiert“. Das ist, mit Verlaub, leider Bullshit, wie die durch die SZ im ersten großen Aufschlag falsch zugeschriebene Urheberschaft eindrücklich zeigt.

Und was macht Deininger? Der sagt, Aiwanger sei schuld, dass die Geschichte erschienen sei. Denn hätte er von Anfang an richtig aufgeklärt hinsichtlich der Urheberschaft, so Deiningers Logik, wäre die Geschichte nicht erschienen. So funktioniert die Nummer aber leider nicht, lieber Kollege, weil es eben vor Erscheinen eines solchen Beitrags nicht Aufgabe derer ist, aufzuklären, die sich Vorwürfen ausgesetzt sehen, sondern der Journalisten, wasserdicht zu recherchieren, bevor man Vorwürfe dieser Art abdruckt. 

„Schaden für die Demokratie“

„Es hätte ja eigentlich eine sehr kurze und knackige Geschichte sein können“, sagte die Publizistin Marina Weisband bei Will. Hätte, hätte, hätte. Unterm Strich kritisiert auch Weißband primär den Umgang Aiwangers mit der Affäre. Das kann man so machen, aber auch da sind wir dann wieder bei individuellen Vorstellungen von Entschuldigung und angemessenem Umgang, und zugespitzt könnte man in dem Zusammenhang dann die Frage stellen: Soll Aiwanger sich so oft entschuldigen, bis wirklich jeder der 83 Millionen Deutschen da draußen zufrieden ist?

 

Mehr zum Thema:

 

Aber!!! Es hallt schon wieder aus den unendlichen Weiten der Moralisierungsrepublik. Es hallt schon wieder bei Will. Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin und Sprecherin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt, findet, dass die Behauptung Aiwangers, hier finde eine Kampagne gegen ihn statt – was ich so unterstreichen würde –, rechtspopulistisch sei. Auch das ist eine durch und durch undifferenzierte Betrachtung der Ereignisse. Man wünscht sich von Aiwanger (noch) mehr Reue, gleichzeitig beschimpft man ihn aber als eine Art bayerischer Donald Trump. Weisband behauptete sogar, Aiwanger bediene sich aus dem „Playbook Trumps“. 

Deitelhoff wiederum will sogar einen „Schaden für die Demokratie“ erkennen. Der nächste Slogan in einer an Slogans nicht gerade armen Debatte. Aber ich gestehe zu, Deitelhoff hat Recht. Jedoch anders als sie meint. Denn der Schaden für die Demokratie, der ist aus der unsauberen Recherche der SZ entstanden, aus der öffentlichen Hetzjagd auf Aiwanger. Er entsteht daraus, dass sich diese Moraldebatte permanent im Kreis dreht. Denn „der Demokratie“ ist es reichlich wurscht, ob sich jemand in aus Perspektive Dritter angemessener Art und Weise entschuldigt. Was „der Demokratie“, um im Duktus zu bleiben, aber nicht wurscht ist, ist, wenn eine renommierte Zeitung Falsches behauptet und zig Politiker die Schoa für ihren Wahlkampf instrumentalisieren

Will’sches Moralisierungsgericht

Falls Sie meine Talkshow-Besprechungen regelmäßig lesen, wissen Sie, dass ich eigentlich dazu neige, recht ausführlich verschiedene Zitate aus so einer Sendung zu bringen. Aber in dem Fall ist es nicht ganz leicht, obsolet eigentlich, weil es nicht viel von Substanz zu zitieren gibt aus dem Will’schen Moralisierungsgericht vom Sonntag.

Obwohl, dieses vielleicht von Florian Streibl, Vorsitzender der Freie-Wähler-Fraktion im Bayerischen Landtag: „Eine Chance gibt es immer – und es gibt immer die Möglichkeit eines Neuanfangs.“ Und auch: „Wir müssen wieder positiv über unsere demokratischen Werte reden, über den Wert der Freiheit, (...) ein großer und starker Wert. (...) Über den Wert des Rechtsstaates, keine Demokratie ohne Rechtsstaat. (...) Es muss regeln geben, wie man mit den Menschen umgeht.“ Meine Rede. Und das gilt auch für den Umgang mit Hubert Aiwanger.  

Anzeige