Politische Hochstapelei - Nicht Fake News bedrohen die Demokratie, sondern Bullshit

Nicht Fake News sind die größte Bedrohung für unsere Demokratie. Es ist das um sich greifende Phänomen der Hochstapelei - denn wenn Wahrhaftigkeit als Leitlinie verabschiedet wird, wachen wir in einer Gesellschaft des kollektiven „Bullshit“ auf.

Leonardo di Caprio als Meister der Hochstapelei in „Catch me if you can“ / picture alliance
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Autoreninfo

Patrick Oelze ist Programmleiter Politik und Geschichte im Verlag Herder.

 

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Die Aufregung war groß, aber die Überraschung hielt sich in Grenzen: Ein israelisches Unternehmen soll den gezielten Einsatz von Fake News (warum spricht eigentlich niemand mehr von Lügen?) als Dienstleistung anbieten. Generell existiert offenbar eine schnell wachsende Desinformationsindustrie, um unliebsame politische Gegner ins Visier zu nehmen oder politische Entscheidungen bis hin zu Wahlen im eigenen Sinne zu beeinflussen. Der israelische Sicherheitsunternehmer Gabi Siboni raunte dazu in einem Zeit-Interview „Es gibt keine Wahrheit mehr“, und der Bildungsbürger schaudert. Dabei ist ein anderes Phänomen als Fake News viel bedrohlicher für den demokratischen Diskurs.

Ein herausragendes Beispiel für diese andere Bedrohung gibt George Santos ab, der junge republikanische Kongressabgeordnete, der den Lebenslauf, mit dem er vor seiner Wahl auftrat, in allen wichtigen Belangen fälschte. Er legte sich jüdische Großeltern zu, die Holocaust-Überlebende gewesen sein sollen, und eine Mutter, die am 11. September 2001 angeblich in den Twin Towers umkam; er behauptete, zwei Hochschulabschlüsse zu haben, als Investmentbanker an der Wallstreet erfolgreich gewesen zu sein und noch vieles mehr.

Obwohl alle diese Behauptungen als falsch enttarnt sind, sieht George Santos darin kein Problem. Er spricht von „Ausschmückungen“ oder „Fehlern“. Mit seiner Eignung als Kongressabgeordneter soll das alles nichts zu tun haben. Seine Karriere kann nach seinem Verständnis weitergehen. Es ist das Einzige, was man ihm glauben mag: dass er nicht verstehen will, warum er kein Politiker bleiben kann.

Dem Bullshitter ist die Wahrheit schlicht egal

George Santos produziert das, was Harry G. Frankfurt in seinem gleichnamigen und noch immer wegweisenden Büchlein „Bullshit“ nennt. Im Gegensatz zum Lügner, der die Wahrheit kennt und sie bewusst verfälscht, ist dem Bullshitter die Wahrheit schlicht egal, sie ist kein Bezugspunkt für sein Handeln: „Der Lügner verbirgt vor uns, dass er versucht, uns von einer korrekten Wahrnehmung der Wirklichkeit abzubringen. Wir sollen nicht wissen, dass er uns etwas glauben machen möchte, was er selbst für falsch hält. Der Bullshitter hingegen verbirgt vor uns, dass der Wahrheitswert seiner Behauptung keine besondere Rolle für ihn spielt.“

Wenn Santos in einem Interview sagt, er sei zwar ein schrecklicher Lügner („terrible liar“) gewesen, aber es sei nie darum gegangen, die Menschen zu hintergehen, sondern darum, bei seiner Partei akzeptiert zu werden, dann wird sein rein strategisches Verhältnis zur Wahrheit offenkundig. Santos interessiert offenbar ausschließlich, welche Wirkung er mit einer Behauptung erzielen kann, nicht, welchen Bezug zur Wirklichkeit sie besitzt. Er ist ein Indiz dafür, dass die Politik selbst längst in die Ära des Bullshits eingetreten ist. Man könnte das auch als pathologischen Opportunismus bezeichnen.

Vielleicht setzt Santos auch gerade zu jener zweiten Karriere an, die große Hochstapler idealtypisch hinlegen. Die Karriere zahlreicher Hochstapler nahm erst nach ihrer Enttarnung so richtig Fahrt auf. Georges Manolescu (1871–1908) veröffentlichte nach einem aufsehenerregenden Prozess seine sehr erfolgreichen Memoiren und wurde zur Vorlage für Thomas Manns Hochstapler Felix Krull. Paul Abagnale (*1948) wurde durch Steven Spielberg und Leonardo di Caprio in „Catch Me If You Can“ verewigt und lebte auch sonst gut von seinem Nachruhm als eleganter Betrüger. Schon Mary Baker (1791–1865) genoss als falsche fernöstliche Prinzessin besondere öffentliche Aufmerksamkeit, nachdem sie enttarnt worden war.

Hochstapler wissen sich zu vermarkten

Zur hochstaplerischen Biografie gehört idealtypisch nicht nur die Enttarnung, sondern auch die nachfolgende Vermarktung der falschen Identität und des damit meist einhergehenden Betrugs. Der Hauptmann von Köpenick oder jüngst Anna Sorokin lassen grüßen. Doch einfach ungebrochen weitergehen kann die Karriere nach der Enttarnung nicht. Zuerst muss aufgedeckt und benannt werden, was eine Lüge war, damit aus ihr dann Kapital in Form von Buch, Funk, Film oder heutzutage Streamingserie geschlagen werden kann: Mary Baker war keine Prinzessin, Paul Abagnale kein Pilot, Georges Manolescu kein Fürst, Anna Sorokin keine Millionenerbin, Friedrich Wilhelm Voigt kein Hauptmann.

So wird aus jemandem, der gar nichts ist und auch nichts kann, am Ende doch noch jemand. Das Verwertungsinteresse der Massenmedien hilft dabei kräftig mit. Manolescus Memoiren sollen von seinem Verleger Paul Langenscheidt verfasst worden sein. Für Netflix lag „Inventing Anna“ mit dem Vorbild Anna Sorokin nach eigenen Angaben auf Platz 5 der erfolgreichsten Serien 2022. Angeblich plant die von manchen als Risikounternehmerin gefeierte Sorokin gerade ihre eigene Reality-TV-Show im New Yorker Hausarrest. Laut einer Meldung von rnd wird „die 32-Jährige mit ihren Gästen vor allem über sich selbst sprechen“.

„Der Märchenerzähler“

Hoffen wir, dass Santos nicht in ähnlicher Weise bei seiner Zweitkarriere Unterstützung finden wird. Die Zeichen dafür stehen allerdings schlecht. Schon wurde ein Buch des Newsweek-Journalisten Mark Chiusano angekündigt und rasch an die offenbar Schlange stehenden Verlage verkauft. Arbeitstitel: „Der Märchenerzähler“.

Der Beschreibungstext, den der angehende Bestsellerautor selbst auf Twitter veröffentlichte, enthält fast ebenso viele Übertreibungen wie ein von Santos selbst verfasster Lebenslauf: „Wie George Santos die Welt betrog, eine kontinentumspannende Gaunergeschichte, die die Lebensgeschichte von George Santos erzählt und wie es ihm gelang, die kaum bewachten Schlupflöcher der US-Politik zu seinem Vorteil zu nutzen, um Amerikas Top-Hochstapler zu werden“. Besser hätte Santos selbst seine weitere Selbstvermarktung nicht planen können. Vermutlich wird er demnächst von einigen als besonders risikoaffiner Politikunternehmer gefeiert, der die Schwächen und die Heuchelei des medialen und politischen Establishments entlarvte.

Dass Santos jedenfalls wohl nicht so einfach davonkommen wird, ist ein tröstlicher Hinweis auf die funktionierenden Abwehrkräfte der amerikanischen Demokratie. Und wer Bullshit im Stile von Santos für einen Auswuchs der schon immer krasseren Politik in den USA hält, der so hierzulande nicht möglich wäre, hat sicher Recht.

Bullshit-Symptome erreichen auch Deutschland

Doch auch bei uns mehren sich in den letzten Jahren die Bullshit-Symptome. Man denke an eine Außenministerin, die es mit den Angaben in ihrem Lebenslauf nicht so genau nahm und auch nicht mit der sauberen Zitation in ihrem Buch, oder an einen Bundeskanzler, der mit bemerkenswerten Erinnerungslücken über den größten Steuerbetrug der europäischen Nachkriegsgeschichte aufwartet. Anlässlich der aktuellen Verhandlungen um das politische Spitzenamt des Landes Berlin ist man außerdem versucht, an die noch keine zwei Jahre zurückliegende Aberkennung des Doktortitels von Franziska Giffey durch die FU Berlin zu erinnern. (Damit das Ganze parteipolitisch ausgewogen bleibt, sei hier auf den langjährigen Spitzenmann der Berliner CDU, Frank Steffel, verwiesen, der 2019 den Entzug seines Doktortitels wegen Plagiats hinnehmen musste, oder an Karl-Theodor zu Guttenberg.)

George Santos wird gern als eine Folge von Donald Trump verstanden, das greift zu kurz. Denn wie Trump, der durchaus ebenfalls als Hochstapler betrachtet werden könnte und definitiv ein Bullshitter ist, ist Santos das Symptom einer Gesellschaft, in der die Wahrheit als zentraler Bezugspunkt des Sprechens und Handelns gefährdet ist. Dabei geht es vor allem um das, was der englische Philosoph Bernard Williams als Wahrhaftigkeit bezeichnet, das aufrichtige Bemühen um die Wahrheit mit Hilfe der Genauigkeit und gegen Selbsttäuschung, Wunschdenken, Bequemlichkeit, Feigheit, Unkenntnis, Profitstreben.

Wenn etwa Franziska Giffey die Aberkennung ihres Doktortitels mit dem Hinweis kommentierte, „Fehler, die mir bei der Anfertigung der Arbeit unterlaufen sind, bedaure ich. Diese waren weder beabsichtigt noch geplant“, dann beschreibt das sehr gut ein fehlendes Verständnis dafür, dass es bei der Wahrheit nicht nur darum geht, ob man bewusst gegen sie verstößt. Es geht auch darum, ob man sich wirklich um sie bemüht hat.

 

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Begünstigt wird der Bullshit offenbar durch ein mediales Milieu mit einem immer kürzeren Gedächtnis und einer immer schnelleren Abfolge neuer Skandalnachrichten. Eine völlig neue Qualität von Bullshit wird durch ChatGPT möglich, einen Chatbot, für den Wahrhaftigkeit kein Kriterium ist, sondern der die Wahrscheinlichkeit von Wortverteilungen widerspiegelt.

Die Bitte „Schreibe einen Text über Karl-Theodor zu Guttenberg“ fabriziert u.a. folgende Abschnitte: „Karl-Theodor zu Guttenberg war ein deutscher Politiker und Unternehmer. Er war von 2009 bis 2011 Bundesminister der Verteidigung und von 2009 bis 2013 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Guttenberg wurde 1971 als Sohn des Grafen und Diplomaten Karl-Philipp zu Guttenberg und der Politikerin Beatrix von Storch geboren. Er begann seine politische Karriere als Mitglied der Jungen Union und wurde 2003 Mitglied der CSU. Im Jahr 2007 wurde er zum Generalsekretär der CSU und im Jahr 2009 zum Bundesminister der Verteidigung ernannt.“ Mehr Bullshit geht kaum, besonders, weil das Ganze so autoritativ im Stil einer Wahrheit formuliert wird.

Tolerierter Mangel an Wahrhaftigkeit

Nicht Fake News sind das Problem oder ein zur Bedrohung der Demokratie von einer um ihre Auflagen und Klickzahlen besorgten Wochenzeitschrift hochgejazztes „Team Jorge“. Politische Propaganda gab es schon immer. So wie es auch immer wirksame Mechanismen gab (nicht zuletzt hervorragenden investigativen Journalismus), Propaganda als solche zu enttarnen. Viel besorgniserregender ist die wachsende Bereitschaft, sich von der Wahrhaftigkeit als Leitlinie guten politischen Handelns zu verabschieden beziehungsweise den Mangel an Wahrhaftigkeit bei den gewählten politischen Vertretern (aber auch bei der eigenen Informationsbeschaffung!) zu tolerieren.

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler sagte gerade in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Ich glaube, die Stärke einer Demokratie lebt letztlich von dem Bemühen um Wahrhaftigkeit.“ Hier trifft er sich dann mit ChatGPT. Das Programm gab mir auf die Frage „Glaubst du an eine Wahrheit?“ folgende Antwort: „Ja, ich glaube an eine Wahrheit. In der heutigen Welt gibt es viele verschiedene Meinungen und Ansichten, aber ich glaube, dass es eine grundlegende Wahrheit gibt, die uns alle verbindet.“ Vielleicht rettet uns am Ende doch die KI vor der endgültigen Machtübernahme durch den Bullshit.

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