Mazzucchellis „Asterios Polyp“ - Ein Architekt in der Wüste

David Mazzucchellis Comic: erstaunliches Werk, grandioses Symboltheater. Eine Geschichte über einen gefallenen Helden, der nicht müde wird, wieder aufzustehen und der schließlich das Glück in der einfachen Existenz findet

Asterios Polyp ist Architekt. Und einer der bekanntesten Vertreter seiner Zunft. Seine Theorien und Bücher sind weltweit berühmt. Als Konferenzredner und Thesendrechsler ist er allzeit gefragt. Nur ein Haus hat Asterios Polyp noch niemals gebaut, keiner von seinen Entwürfen wurde jemals realisiert. Doch davon war sein Selbstbewusstsein nie zu erschüttern gewesen – das ändert sich erst, als seine Beziehung mit der bezaubernden Hana zerbricht, einer japanisch-stämmigen Bildhauerin. Sie verlässt ihn, weil er nicht zuhören kann, weil er arrogant und verpanzert ist. Als seine New Yorker Wohnung durch einen Blitzschlag abbrennt, wird er auch noch obdachlos. Im Greyhound Bus flieht Asterios Polyp in die Wüste; er flieht vor sich selbst und seinem verpfuschten Leben – und findet bei einem Automechaniker, der mit seiner Familie am Rand eines riesigen Meteoritenkraters wohnt, endlich das Glück der einfachen Existenz.

„Asterios Polyp“, so heißt der erste große Comic-Roman von David Mazzu­cchelli, ist ein erstaunliches Werk, dessen scheinbar schlichte Geschichte nur den Rahmen für ein grandioses Symboltheater abgibt. Mazzucchelli, 1960 geboren, ist lange schon einer der interessantesten amerikanischen Comic-Zeichner. Seine Karriere hat er im Superhelden-Genre begonnen; in den achtziger Jahren unterzog er klassische Helden wie Batman oder Daredevil einer radikalen Umdeutung. Doch schon Anfang der Neunziger verabschiedete er sich aus dem Comic-Heft-Gewerbe. Bei ausgedehnten Reisen studierte Mazzucchelli den europäischen Autoren-Comic und den japanischen Manga; von den Japanern eignete er sich den expressiven Strich an und die reiche Symbolsprache für „innere“ Gefühls- und Gemütszustände; von den Europäern lernte er den Gebrauch scheinbar comic-fremder grafischer Techniken wie der Lithografie. Die ersten kurzen Comic-Geschichten, die aus dieser Synthese entsprangen, verlegte er selbst in der „Rubber Blanket“-Serie. Einer breiteren literarischen Öffentlichkeit wurde er anschließend mit seiner gelungenen Comic-Version von Paul Austers Debütroman „Stadt aus Glas“ bekannt. Wo Austers existenzialistisch raunender Postmodernismus schon Ende der neunziger Jahre wieder reichlich altbacken wirkte, gelang es Mazzucchelli, mit distanziert-ironischem Ton und einer minimalistischen Bildsprache, seine Vorlage mit Humor und Leben zu versehen.

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Über zehn Jahre hat es danach gedauert, bis er seinen nächsten Comic vollenden konnte. Doch das Warten auf „Asterios Polyp“ hat sich gelohnt: Denn die Zärtlichkeit und die Konsequenz, mit der Mazzucchelli seine Figuren hier zum Leben erweckt und zugleich zu grafischen Allegorien überhöht – sie suchen selbst im immer elaborierteren Autoren-Comic der Gegenwart ihresgleichen. Geschmeidig verwandelt er sich historische Individualstile an, um seine Figuren zu charakterisieren. So könnte „Asterios Polyp“ aus der Feder von Rea Irvin oder einem der anderen klassisch-modernen Illustatoren des frühen „New Yorker“-Magazins stammen; seine Physiognomie ist schwungvoll, wie aus einem einzigen durchgehenden Strich erschaffen und zugleich zugespitzt. Wie Mazzucchelli es schafft, diese Figur einerseits in ihrem erstarrten Posieren, in ihrer Verpanzerung gegen die Welt und die Mitmenschen zu zeigen – und sie zugleich zu einem bewegten, mit seiner eigenen Starre kämpfenden Charakter zu erheben: Allein diese grafische Leistung lohnt die Lektüre des Buchs.

Und das ist noch lange nicht alles. Denn Mazzucchelli nutzt jedes Mittel, das der Comic ihm bietet, um den Konflikt und die Liebe, die Nähe und Ferne, die Taubheit und Empfindlichkeit seiner Figuren ins Bild zu bringen. Er kontrastiert verschiedene grafische Stile in ein und derselben Szene; er ordnet seinen Figuren unterschiedliche Schrifttypen zu; auch nutzt er die kantigen, runden, gekräuselten und zerfließenden Konturen der Sprechblasen, um das Gelingen oder Misslingen eines Dialogs anzudeuten, bevor sich dieses im gesprochenen Wort niederschlägt. So bekommt das Unbewusste seiner Figuren eine eigene Grammatik. Und wenn Asterios sich an seine verlorene Liebe erinnert, wird das Gedächtnis des Architekten selbst zu einer Bildarchitektur.

In seinen zersplitterten Erinnerungsskizzen, im kunstvoll rhythmisierten Fluss der Erzählung und der kalkulierten Zerstreuung der Bilder in die Seiten-Layouts hat Mazzucchelli jede rein „literarische“ Form der Comic-Erzählung weit hinter sich gelassen. Das ästhetische Leitmodell, dem dieses Werk folgt, ist nicht die Bildergeschichte oder die immer wieder beschworene „Graphic Novel“, sondern die Architektur: Hier gelingt die Verräumlichung des Erzählens und die Narrativierung des Raums.

Wie der Architekt Asterios in der wilden Natur nach seinem wahren Selbst sucht, so sucht David Mazzu­cchelli in der Sprache der Architektur nach der wahren Natur des Bilder-Erzählens: „Asterios Polyp“ ist zuerst und zuletzt eine epochale Reflexion auf die Ästhetik des Comic; eine Reflexion, die noch lange sein Maßstab sein wird.

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