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() Hannah Arendt schrieb über die „Banalität des Bösen“
Die Mörder waren nicht banal

Vor 50 Jahren, am 11. April 1961, begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann. Hannah Arendt war dabei und prägte mit ihrem epochalen und meinungsstarken Prozessbericht unser Bild von den Verbrechen des Dritten Reiches. Zeit für eine neue Betrachtung.

Es war ein Prozess, der die Geschichtsschreibung verändern sollte. Als Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer und Leiter des für die Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamts, im April 1961 vor dem Jerusalemer Bezirksgericht stand, hielt die internationale Öffentlichkeit den Atem an. Ein Jahr zuvor war der Ko-Architekt des Holocaust von Mossad-Agenten in Argentinien gekidnappt und nach Israel gebracht worden. Er war der erste – und neben dem zurzeit in München in Untersuchungshaft sitzenden John Demjanjuk einzige – NS-Verbrecher, dem in Israel jemals der Prozess gemacht wurde. Der Prozess war nicht nur ein beispielloses Medienereignis. Er stellte auch eine außerordentliche Zäsur dar – sowohl in der Geschichte der strafgerichtlichen Behandlung der NS-Zeit als auch in der menschenrechtlichen Wahrnehmung des Dritten Reiches. Standen zuvor die Kriegsverbechen der Deutschen im Zentrum der Aufmerksamkeit, rückten mit dem Eichmann-Prozess zum ersten Mal ihre Verbrechen gegen die europäischen Juden in den Vordergrund. Der Prozess hatte enormen Einfluss auf spätere Gerichtsurteile, vor allem beim drei Jahre später in Deutschland stattfindenden Auschwitz-Prozess, und auf die historische Erforschung der NS-Verbrechen. Er veränderte zudem die Sicht des Westens auf das nationalsozialistische Deutschland. Doch diesem Prozess widerfuhr etwas Ungewöhnliches. Ihm wurde selbst der Prozess gemacht. Im Gerichtssaal saß auch die jüdische, deutsch-amerikanische Intellektuelle Hannah Arendt, die den Nazis 28 Jahre zuvor nur knapp entkommen war. Sie berichtete für den New Yorker, das amerikanische Wochenmagazin. In einer fünfteiligen Artikelserie, die 1963 gesammelt in Form des Buches „Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ erschien, unterzog sie die Ermittlungen, die Anklage und das Urteil des Jerusalemer Bezirksgerichts einer fundamentalen Kritik. Deren Kernpunkt: Das Gericht habe das Eigentliche an Adolf Eichmann nicht verstanden und die Chance verspielt, das NSRegime, dessen totalitäre Struktur und dessen dehumanisierende Bürokratie offenzulegen. Keine Publikation über die NSVergangenheit war bis dahin auf ein derartiges Interesse gestoßen. Auch keines der anderen Bücher der Autorin, etwa ihr beachtliches Standardwerk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ von 1955, fand eine so nachhaltige Aufmerksamkeit. „Eichmann in Jerusalem“ ist noch heute, 37 Jahre nach seinem Erscheinen, im Buchhandel präsent; und der Begriff der „Banalität des Bösen“ machte eine erstaunliche Karriere. In den Debatten der Historiker beriefen sich die Strukturalisten auf ihn, um die Intentionalisten zu widerlegen, die auf die Kategorien der „Verantwortung“ und der „ideologischen Motivation“ der Täter nicht verzichten wollten. In den Feuilletons wurde er zu einer Chiffre für die Art und Weise, wie die nationalsozialistischen Massenverbrechen moralisch zu beurteilen sind. Und bis zu diesem Tag liefert er für viele ein Erklärungsmuster für die Organisatoren und Vollstrecker von Massentötungen in diktatorischen Regimen. Wer heute noch einmal „Eichmann in Jerusalem“ liest, den überkommt jedoch ein zwiespältiges Gefühl. Da schlägt den Leser einerseits eine sprachlich wie gedanklich überaus brillante Autorin in den Bann. Andererseits entsteht zugleich der Eindruck einer meinungsversessenen Journalistin, die sich nicht die Mühe macht, mögliche Gegenargumente zu ihrer These zu prüfen. Hannah Arendt­ schien sich bei der Niederschrift in einer überlegenen Position zu wähnen, einer Position, die sie durch die politologischen Diskurse ihrer Zeit und den Gedankenaustausch mit ihrem väterlichen Freund, dem deutschen Philosophen Karl Jaspers, abgesichert glaubte. Was hatte Hannah Arendt als öffentliche Intellektuelle unter ihren Zeitgenossen so attraktiv gemacht? Für viele ist sie zu einer Ikone der gelebten Urteilskraft geworden. Nicht nur als Buchautorin, sondern auch als Essayistin wurde sie nie müde, sich mit Artikeln in politische Probleme einzumischen oder tatkräftig soziales Engagement für Menschen in Not zu zeigen. Dem in den sechziger Jahren vor allem von Studenten kultivierten Ideal, die Dichotomie zwischen Theorie und Praxis zu überwinden, schien sie von allen bekannten Geistesgrößen am nächsten gekommen zu sein. Eine andere Eigenschaft hob der Philosoph Hans Jonas, hervor, der sie ein „Genie der Freundschaft“ nannte. Ob beim Studium in Marburg oder Heidelberg, während ihres Exils in Paris in den dreißiger Jahren oder nach ihrer Ankunft in New York im Jahr 1941 – ihr gelang es immer schnell, einen Freundeskreis um sich zu scharen. Mit großer Selbstverständlichkeit zählte sie einige der größten Gestalten der deutschen Geistesgeschichte dazu: Ihren Studienfreund und Lehrer Martin Heidegger etwa, aber auch Walter Benjamin, Gershom Scholem oder Martin Buber. Unter den Emigranten aus Deutschland gelang es ihr als einziger, Freundschaften mit in New York lebenden Schriftstellern wie W.H. Auden, Edmund Wilson oder Mary McCarthy zu schließen. Schon Ende der vierziger Jahre veröffentlichte sie Texte in der Vierteljahreszeitschrift Partisan Review, dem damaligen Zentralorgan der New Yorker Intellektuellenszene. Sie folgte zahlreichen Einladungen zu Vorträgen und Vorlesungen an Universitäten. Im ständigen öffentlichen Austausch mit anderen Geistesgrößen entwickelte sie eine moderne Lebensweise, die dem politischen Leben in der griechischen Polis ähnelte. „Gewonnen wird die Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, dass einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt“, sagte sie 1964 in einem Interview mit Günter Gaus. „Nur wer sein Leben und seine Person mit in das Wagnis der Öffentlichkeit nimmt, kann sie erreichen.“ Was aber begeisterte junge Deutsche in den sechziger Jahren an Hannah Arendt?­ Ihr kosmopolitisches Flair einerseits, ihre große Zuneigung zu deutscher Philosophie und Dichtung andererseits ließen sie fremd und doch zugleich vertraut erscheinen. Eine deutsche Jüdin, die in die Emigration gezwungen wurde und doch Martin Heidegger gelten ließ, der den „Ruf des Seins“ in der nationalen Bewegung der Jahre 1932/33 vernahm – das war außergewöhnlich. Begabte junge Männer, unter ihnen Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson und Joachim Fest, aber auch bekannte Politikwissenschaftler lagen ihr zu Füßen. Für die jüngeren, nach dem Krieg geborenen Arendt-Bewunderer spielten vor allem ihre Beobachtungen deutscher Verhältnisse nach 1950 eine ausschlaggebende Rolle. Schon im Jahr 1949, als sie ihr einstiges Heimatland zum ersten Mal nach dem Krieg besuchte, registrierte Arendt­ eine „tiefe moralische Verwirrung“. In ihrem Reisebericht „Besuch in Deutschland“ schrieb sie: „Eine Variante dieser Verwirrung besteht darin, dass Deutsche, die ihre eigene Schuld eingestehen, in vielen Fällen, nüchtern betrachtet, ganz unschuldig sind, wohingegen diejenigen, die sich wirklich etwas haben zuschulden kommen lassen, das ruhigste Gewissen der Welt haben.“ In „Eichmann in Jerusalem“ wird diese Beobachtung weitergeführt: „Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, erzeugt allenthalben ‚erhebende Gefühle‘ und wird gern gesehen. Die normale Reaktion einer Jugend, der es mit der Schuld der Vergangenheit ernst ist, wäre Empörung. Aber wenn diese Jugend von Zeit zu Zeit in eine Hysterie von Schuldgefühlen ausbricht, so nicht, weil sie unter der Last der Vergangenheit, der Schuld der Väter, zusammenbricht, sondern weil sie sich dem Druck sehr gegenwärtiger und wirklicher Probleme durch Flucht in Gefühle, also durch Sentimentalität entzieht.“ In Zeiten, als die meisten der sogenannten Erlebnisgeneration der NS-Zeit ihre Kinder mit treuherzig vorgetragenen Geschichten über die „dunklen Jahre“ beruhigen wollten, waren es die glasklaren Sätze von Hannah Arendt, die den Bann der Vergangenheit brachen. Warum Hannah Arendt in ihrem Eichmann-Essay „übertreibt, dramatisiert und polemisiert“ erfahren Sie im nächsten Teil.

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