Die Berlinerinnen. Eine Hommage

Die Berlinerin ist längst ein Mythos, gerühmt von Kennern wie Kurt Tucholsky oder Alfred Kerr.

Der erste Satz, den ich über die Berlinerin niederschrieb, war dieser: Sie ist streng, aber trotzdem hingebungsvoll, musisch bis mystisch, mit sachlich kühlen Einschüben und regelmäßigen Ausflügen ins Bodenständige. Oder so: Sie muss das kulturelle Erbe dieser Stadt als eine Art geistiges Leuchten in den Augen tragen und dies aber mit dem einstigen Preußentum verbinden, in welches dann immer wieder aus der anderen Richtung das Laissez-Faire der Weltmetropole hineinfließt mit all den multikulturellen Einflüssen von Afrika über Frankfurt/Oder bis zum Orient. Ich verknappe es jetzt zu folgender Formel: Aura (Hauptstadtkultur) Disziplin (Otto von Bismarck) Plus Weltzugewandtheit (Melting Pot) Diese drei Säulen müssen sich in ihr zu einer Frau vereinigen, die übrigens trotzdem „ick“ und „det“ sagen kann oder „Du hast keene Ahnung“ und die mir diese Stadt von der Havel bis zum Türkenmarkt zeigen will und danach vielleicht die Villa ihrer Eltern in Pankow. Sofort zählte ich alle Frauen durch, die ich in Berlin kennengelernt hatte, und bereits nach wenigen Minuten war ich mir sicher: Es gab nicht eine einzige darunter, die einfach nur Berlinerin war, geschweige denn in jener hingebungsvoll-strengen, mystisch-sachlichen Mischung aus Haupstadtkultur, Otto von Bismarck plus Melting Pot. Recherche im Großraum Charlottenburg, zuerst: Die Supermarktkette Kaiser’s. 1. Sie war ungefähr 25 Jahre alt, trug eine weiße Schürze und hatte ihr langes Haar auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt, der aussah wie ein blonder Turban über ihrem blassen Gesicht. Ich bemerkte, wie sie verschiedene Käsesorten von der einen Seite zur anderen umlagerte, dann einen Gouda mit einem großen Messer in mehrere Stücke zerteilte. Das wirklich Interessante aber daran war, dass sie zwar die ganze Zeit arbeitete, man jedoch das Gefühl haben musste, sie täte etwas ganz anderes. Die Betonung ihres Tuns lag zum Beispiel auf dem Summen eines Liedes, und die ganze Art, wie sie sich bewegte, drückte einen Abstand aus, eine Entfernung, die sie zu ihrer Käsetheke innerlich eingenommen hatte. Aus meinem Geburtsort hatte ich die Käseverkäuferin als eine Frau in Erinnerung, die über ihrem Käse zusammenbrach, die den Käse anblickte und es augenblicklich deutlich war, dass sie Käse hasste, dass sie Menschen hasste, die Käse aßen, und dass sie sich auch selbst hasste, weil sie Käse verkaufte. Die Berliner Verkäuferin aber schwebte wie ihr blonder Turban über dem Käse. Sie erinnerte mich an eine Tänzerin, die Raum und Zeit vergessen hatte, vielleicht sogar an eine Künstlerin in der Mischung aus Aura und Disziplin, denn wer so alles gleichzeitig erledigen konnte, ohne danach im Geringsten auszusehen, der musste von einem tiefen Glauben beseelt sein, der ihn so hoch und eben über die Dinge stellte. Ich selbst stand gegenüber in der Nudelabteilung und blickte hinüber. Bisher war sie allein, aber ich wartete auf einen Kunden, um zu sehen, wie sie den Käse verkaufen und wie sie dabei sprechen würde, aber es kam niemand. Zehn Minuten später, länger konnte ich unmöglich in der Nudel-Abteilung stehen, ohne aufzufallen, fasste ich mir ein Herz und schritt mit der größtmöglichen Leuchtkraft meiner Augen an die Käsetheke. (Ich habe für das Folgende die typische Romantechnik gewählt.) „Gutentag, vielleicht von dem Gouda da.“ „Das ist Emmentaler, junger Mann!“ Er errötete. „Ich sagte, das ist Emmentaler!“ Wie konnte dieses mädchenhafte Wesen mit dem blonden Turban einfach so zu ihm sagen: „Das ist Emmentaler, junger Mann!“? Sie hätten theoretisch ein Paar sein können. Aber jetzt kam es ihm vor, als sei er plötzlich sieben. Oder fünf. Auf jeden Fall fühlte er sich mit einem Male herabsinken in die Grundschulphase. Vermutlich hatte sie diese gängige Floskel von ihren älteren Kolleginnen übernommen, aber in ihrem Lächeln und in der beiläufigen Selbstverständlichkeit, die in den Worten lag „Das ist Emmentaler, junger Mann!“ war irgendetwas Tieferes, etwas Grundsätzlicheres, das sie ihm unerreichbar zu machen schien. Mittlerweile standen jeweils 150 Gramm Emmentaler, Camembert, Le Tartare, Roquefort, Edamer, Brie, Bleu, Tilsiter und auch Gouda auf der Theke. Und noch an der Kasse dachte er, bestimmt insgesamt 14 verschiedene Käsesorten auf das Laufband legend: Wie disponiert muss diese Heilige sein, dass es so unbemerkt geschah? Er hatte doch alles sehr genau beobachtet: den wippenden blonden Turban, das Summen ihres Liedes, es war „Don’t cry for me Argentina“, ihr Lachen, ihre Beiläufigkeit – das alles war zu beobachten. Aber nicht, dass sie ihn bediente. Ich glaube heute, dass mich der Käse selbst bediente. Der Käse hatte sich unter ihren Händen selbstständig gemacht, sodass sie sich ganz auf ihr Eigentliches konzentrieren konnte. Ja, das Eigentliche. Ich glaube nämlich, dass ich im Eigentlichen dieser Frau eine Berlinerin sah. Moritz Rinke schrieb preisgekrönte Reportagen, bevor er als Dramatiker Furore machte, unter anderem durch eine Neufassung der „Nibelungen“

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Nicole Köhler | Fr., 15. Juni 2018 - 11:23

Bin fast ein Jahr lang Berlinerin,aber nur halb so emanzipiert wie im Gedicht.

Nicole Köhler | Fr., 15. Juni 2018 - 11:27

Bin fast ein Jahr zehnt Berlinerin,aber nur halb so emanzipiert wie im Gedicht.N. K?

Nicole Köhler | Fr., 15. Juni 2018 - 11:57

Ja,im allgemeinen wird diese Frau als sehr selbstbewusst gehandelt und in ihrer Gefühlswelt in Bezug auf Männer im Besonderen als gefühlskühl beschrieben. Ihr geht es an sich gut- materiell zumindest. Und Sie sucht den Spass -die daraus erfolgenden Erfahrungen. Was auch immer Sie damit verbindet bzw. Sie als verbindlich empfindet. Wow1935!!!!!!N.K.