Wokeness und Identitätspolitik - Der Reiz der Rezession

Die aktuelle Krise hat einen intellektuellen Unterbau: Mit der sogenannten Wokeness hat sich eine Gesellschaft an das eigene Limit gedacht. Doch der Preis für das hippe Denken ist längst viel zu hoch.

Rainbow Warrior / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Irgendwann wird es wohl vorbei sein. So, wie eben alles irgendwann vorbei ist. Complet! Finito! Und dann wird die Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel) einfach weitergehen – allen neuen Normalitäten und jeglicher Performanz-Politik zum Trotz. So, wie die Freiheit es eben immer schon getan hat. Auf den 8. folgt der 9. Thermidor; und die Viererbanden stürzen, so wie Täuferkönige und Albigenser gehen, wie Parteisekretäre sich wegstehlen und falsche Propheten das Weite suchen.

Doch jedes Erwachen hat eben auch einen Preis – selbst das der „Wokisten“ und der vermeintlich längst schon „Aufgewachten“. Diesen Preis aber sieht man zumeist erst hinterher. Die Herrschaft der Jakobiner etwa, der „la Grande Terreur“ in der leider noch immer viel zu jungen und fragilen Geschichte der Demokratie, zeichnete sich ja nicht nur dadurch aus, dass binnen eines Jahres vermutlich 300.000 Menschen verhaftet und von diesen wiederum 17.000 hingerichtet wurden. Weit schlimmer war oft das Fallbeil der Seele; die schmerzlich empfundene Dissonanz im einstmals so wohltuenden Akkord aus Liberté, Egalité, Fraternité. Vielleicht hat kein österreichischer Kanonier und kein preußischer Husar dem republikanischen Schwur so sehr die Kehle zerschnitten, wie der Messerschleifer der Guillotine. 

Und dann erst die immensen ökonomischen Kosten: Historiker gehen zumeist davon aus, dass die 1793 von den Jakobinern eingeführten Höchstpreis- oder Maximumgesetze, mit denen die Radikalen unter der phrygischen Mütze irrigerweise die Inflation in den Griff bekommen wollten, nicht nur den weiteren ökonomischen Niedergang verursacht, sondern zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Volk und Jakobinerclub geführt hatte. Gleiches galt wohl auch für die später erfolgte Festsetzung des Lohnmaximums. Noch am Tag der Hinrichtung Robespierres sollen in den Straßen von Paris daher Rufer zu hören gewesen sein, die „Nieder mit dem Maximum!“ gefordert hatten.

Der Sprung nach vorn

Und so war es am Ende wohl immer: Kein Sprung nach vorn war groß genug, um nicht irgendwann mit dem Fuß bei einem massiven Ausfall von Ernten und ungezählten Toten aufzukommen. China etwa am Ende seiner „Jahre der Schande“ war ein Land mit zwischen 1 bis 2,4 Millionen mehr Namen in den Totenbüchern – wobei es um das Jahr 1959 mehr Tote durch politische Repressalien als durch Hunger gegeben haben soll. Nichts, so sagt es schon ein altes Sprichwort, schadet dem Guten eben so sehr wie das im Ursprung vielleicht einmal Gutgemeinte.

 

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Aber zurück zu den Wokisten – den Dickköpfen und den Dogmatikern unserer oft so fremden Gegenwart. Man will ihr zorniges Treiben ja auch nicht feuilletonistisch über-treiben. Denn anders als bei manch einem Schwarmgeist der Geschichte kennt die vermeintlich progressive neue Linke sowie die mit ihr einhergehende woke Identitätspolitik keine strukturelle Unterdrückung, keine Gewalt gegen Leib und Leben. Im Gegenteil: Was wäre einzuwenden gegen eine Welt mit weniger Rassismus und ohne sexuelle Diskriminierung?

Die Welt ist ohnehin ein Tollhaus

Natürlich nichts! Doch wie heißt es schon in „Dantons Tod“? „Wir alle sind Narren, es hat keiner das Recht, einem anderen seine eigentümliche Narrheit aufzudringen.“ Und genau dort, bei der eigenen Narretei nämlich, beginnt das Problem. Wer wirklich meint, diese einem anderen Menschen mit Moralismus und Verboten austreiben zu können, der übersieht die eigene Narrenkappe mithin den eigenen Rassismus und die eigenen Vorurteile. Und dass die Welt darüber hinaus ein Tollhaus ist – fürwahr, geschenkt!  

So sind es am Ende eben wirklich die kleinen Dinge, die die Kosten extremen Denkens in die Höhe treiben. Und das damals wie heute. Wer bemisst schon die Schäden, die durch gecancelte Wissenschaft und abgesagte Debatten in einer angeblichen Wissensgesellschaft tagtäglich entstehen? Eine Universität als „Safe-Space“ jedenfalls, in der mittlerweile nichts so sehr gefürchtet wird wie die offene und einstmals freie Debatte, wird uns schon bald keinerlei Mehrwert mehr bringen.

Im Gegenteil, je mehr Stimmen jetzt verstummen, je größer werden die Lücken und Ungenauigkeiten in unserem künftigen Wissen und Denken sein. Der Umgang mit Wissensressourcen während der Pandemie lieferte in dieser Hinsicht nur den Vorgeschmack für die sukzessive Verkümmerung des Geistes. Unter einem Dogma woker Unfehlbarkeit werden sich Hochschulen wohl allmählich wieder zu frommen Klosterschulen zurückentwickeln.

Der woke Ikonoklasmus

Und wer wiegt den Kulturverlust, der nun täglich mit jedem puristischen „Darf man noch …?“ in die Theatersäle und die Feuilletonspalten hineindeklamiert wird? Wer zählt den Verlust an Bildern und Weltansichten zusammen, den der neue Ikonoklamus einem frühchristlichen Bildersturm gleich über Museen, Kinos und Ausstellungshäuser bringt? Und wer beziffert am Ende auch die immensen volkswirtschaftlichen Schäden, die durch die große Sehnsucht nach einfachen Lösungen sowie durch die gesteigerte Sehnsucht nach Unschuld entstehen? 

Und dann erst die zunehmende Teilung der Gesellschaft: In seinen unerschütterlichen moralischen Ur-Teilen, in seiner fast schon infantilen Spaltungssucht, die die Welt immerzu in Gute und Böse parzellieren will, hat der Wokismus die Axt längst an jenes Wurzelwerk angelegt, das für das Leben und Überleben in einer freien und offenen Gesellschaft unbedingte Voraussetzung ist.

Die Teile und das Ganze

Und das alles für eine Niederlage, die immer schon in den Sternen stand. Da muss man gar nicht erst die Weissagungen des Deutschen Idealismus oder den eingangs zitierten Hegel bemühen. Selbst der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama scheint sich noch immer ziemlich sicher darin zu sein, dass das Ende von Identitätspolitik und Wokeness letztlich nur eine Frage der Zeit sei: Die Zunahme der Identitätspolitik in modernen, liberalen Demokratien, so schrieb er 2018 in seinem damals viel diskutierten Buch „Identity“, sei zugleich eine ihrer Hauptbedrohungen. Denn die partielle Anerkennung von Nation, Religion, Sektenzugehörigkeit, Rasse, Ethnizität oder Gender untergrabe letztlich die universale Art der menschlichen Würde – und somit auch den Zusammenhalt und die Mehrheitsfähigkeit einer ganzen Gesellschaft.

Wer aber will einen solchen Preis schon bezahlen? Wäre es da nicht eher an der Zeit, das Projekt Wokeness so schnell wie möglich zu beenden? All die leck geschlagenen Ideologeme aus Genderfluidität und Sprechakt – aus Sprachgerechtigkeit auf der einen, und Sprachlosigkeit auf der anderen Seite –, sie werden ohnehin vergessen werden. Complet! Finito!

Denn wer erinnert sich schon noch an die Sprachpolitik des Jakobiner-Priesters Henri Jean-Baptiste („Um alle Bürger in der nationalen Masse zu verschmelzen, braucht man Sprachidentität“)? Und wer weiß heute noch um die ungezählten Namen, um die Tage und Wochen im republikanischen Kalender? Sicher ist vermutlich nur dieses: auf den 8. folgt der 9. Thermidor! Die Frage ist nur, welchen Preis wir in den Stunden dazwischen bezahlt haben werden.

 

Cicero Podcast Gesellschaft mit Bernd Stegemann: „Woker Lustgewinn durch Grausamkeit“

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