Der Fall Lisa-Maria Kellermayr - Von Ferndiagnosen und dem „Werther-Effekt“

Der Suizid einer österreichischen Ärztin, die wegen ihrer politischen Ansichten zu Corona über Monate hinweg bedroht wurde, erhitzt die Gemüter. Der Vorwurf lautet, sie sei von Kritikern der Corona-Maßnahmen in den Tod getrieben worden. Allerdings sind die Gründe für suizidales Verhalten komplex – und je emotionaler die Debatte geführt wird, desto größer auch die Gefahr, dass es zu Nachahmungen kommt.

Teilnehmerin einer Querdenker-Demonstration in Frankfurt am Main im Jahr 2020 / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Hinweis: Sollten Sie suizidale Gedanken haben oder Angehöriger sein, können Sie sich an die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention wenden, die auf ihrer Internetseite verschiedene Telefonnummern und Kontaktadressen für Betroffene wie Angehörige listet. 

In Goethes Schlüsselroman „Die Leiden des jungen Werthers“ nimmt sich der junge Werther das Leben, weil er unglücklich in die verheiratete Lotte verliebt ist. Und obwohl dieser Roman eine fiktionale Geschichte erzählt, die lediglich Parallelen zu Goethes Leben aufweist, könnte er Auslöser gewesen sein für eine „Selbstmordwelle“ in der realen Welt, die nach Veröffentlichung folgte. Damals, ab dem Jahr 1774, als die Erstausgabe des Buches zur Leipziger Buchmesse erschienen ist. 

Bis heute ist deshalb vom „Werther-Effekt“ die Rede, wonach ein kausaler Zusammenhang zwischen Suiziden, über die in den Medien ausführlich berichtet wird, und einer Erhöhung der Suizidrate in der Bevölkerung bestehen könnte. Im Journalismus ist es deshalb eigentlich Konsens, nicht leichtfertig, nicht verkürzt und nur unter besonderen Umständen über das Thema zu berichten. Doch derzeit erhitzt der Suizid einer österreichischen Ärztin die Gemüter – und wird in der Presse und in den sozialen Medien heftig diskutiert. Der Vorwurf lautet, dass „Querdenker“ eben diese Ärztin in den Selbstmord getrieben haben sollen. 

Ein Schlaglicht auf die Corona-Debatte 

Unstrittig ist, dass die österreichische Allgemeinmedizinerin Lisa-Maria Kellermayr wegen ihrer Ansichten zur Corona-Politik über Monate hinweg massiv angefeindet und bedroht worden war. Das führte so weit, dass sich Kellermayr wohl nicht anders zu helfen wusste, als ihre Praxis zu schließen. Laut eigenen Angaben soll sie zudem rund 100.000 Euro für Schutz ausgegeben haben, weil sie sich von Polizei und Politik im Stich gelassen fühlte. Am vergangenen Freitag wurde bekannt, dass sich Kellermayr das Leben genommen hat. 

Der Fall ist genauso tragisch wie heftig – und wirft zunächst einmal ein Schlaglicht auf die Corona-Debatte, in der sich Befürworter und Kritiker der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung kompromisslos gegenüberstehen. Formulierungen wie „Pandemie der Ungeimpften“ waren ebenso an der Tagesordnung wie der Vorwurf, eine Mehrheit – jene, die für Maskenpflicht und anderes waren und sind – würden eine Minderheit unterdrücken, die sich partout nicht impfen lassen will. Der Begriff der „Corona-Diktatur“ war geboren. Und jeder sieht sich im Recht und wirft folgerichtig dem jeweils anderen vor, im Unrecht zu sein. 

Geschmacklose Ausfälle sind in dieser Debatte längst an der Tagesordnung, auf allen Seiten beobachtbar, und jeder Tweet, jede öffentliche Äußerung, die weiter polarisiert, wirkt wie ein kleiner Tropfen, der die Diskussion immer weiter vergiftet. Besonders problematisch ist hierbei, dass sich viele Menschen eingenistet haben in ihrer Perspektive auf das Thema, sich radikalisiert haben und jedem, auch Journalisten, die sich kritisch mit den Maßnahmen der politisch Verantwortlichen hier oder kritisch mit der Querdenker-Szene dort beschäftigen, einsortieren in das eine oder das andere Lager, obwohl das freilich unsinnig ist, weil Menschen eben Individuen sind.   

Eine demokratische Gesellschaft muss auch heftig streiten

Dass die stärksten Grundrechtseinschränkungen in Nicht-Kriegszeiten die Gemüter erhitzen und dass die Debatte rund um die Corona-Pandemie entsprechend heftig geführt wird, war und ist nicht überraschend. Mehr noch braucht doch eine jede demokratische Gesellschaft den Streit, auch den heftigen, solange dabei einige Grundregeln beachtet werden, wie jene, sich zuvorderst am Argument einer Person abzuarbeiten, nicht an der Person selbst.
 

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Freilich sind die Grenzen hier fließend. Deshalb scheint dem Autor dieser Zeilen die konkrete Motivation entscheidend. Wenn jemand heftig gegen ein Argument zu Felde zieht und dabei auch den Argumentierenden trifft, ist das etwas anderes, als direkt auf die Person zu zielen, um sich im Meinungskampf durch Argumente ad hominem einen Vorteil zu verschaffen, indem der politische Gegner öffentlich diskreditiert und ihm die Moral abgesprochen wird. 

Was Kellermayr betrifft, lässt sich nun, nüchtern betrachtet, erst einmal feststellen, dass sich bestimmte Leute partout nicht an bestimmte Regeln im Meinungskampf halten wollen. Welche Ausmaße das bei Kellermayr angenommen hat, ist überdies alarmierend, ja, unentschuldbar, egal, welche konkreten Positionen sie auch vertreten haben mag. Wer andere Menschen bedroht, weil sie anderer Meinung sind, schießt sich aus der demokratischen Sphäre ins Nirgendwo. Und man kann nur hoffen, dass jeder Absender jedes Drohbriefs, den diese Frau in den vergangenen Monaten erhalten hat, ermittelt und entsprechend strafrechtlich belangt wird. Das ist das eine. 

Eine toxische Mischung unglücklicher Umstände

Das andere ist dies: Suizide entstehen in der realen Welt anders als in der Literatur. Nicht allein ein singuläres Ereignis führt zu suizidalem Verhalten, sondern eine toxische Mischung von verschiedenen (unglücklichen) Umständen, die sowohl die Person selbst als auch die Rahmenbedingungen betreffen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention ist suizidales Verhalten „meist komplex begründet“. Dabei seien „sowohl biologische (z.B. genetische) Ursachen zu nennen als auch die persönliche Entwicklung eines Menschen, belastende Lebensereignisse, das soziale Umfeld sowie psychische Grunderkrankungen“.

Ähnliches ist in einer Publikation zur Suizidprävention der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu lesen: „Häufig wirken mehrere Risikofaktoren kumulativ und erhöhen so die Vulnerabilität einer Person für suizidale Handlungen“, heißt es darin. Und weiter: 

„Risikofaktoren in Verbindung mit dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft beinhalten Schwierigkeiten beim Zugang zum Versorgungssystem und Engpässe beim Bereitstellen der notwendigen Versorgung, den einfachen Zugang zu tödlichen Mitteln und Methoden, unangebrachte Medienberichterstattung, die Suizide sensationalisiert und damit das Risiko von Nachahmungstaten erhöht sowie Stigmatisierung der Menschen, die Hilfe bei suizidalem Verhalten, psychischen Erkrankungen und Problemen mit Substanzmissbrauch suchen.“

Dass eine Person Suizid begeht, hat in der Regel also mehrere Gründe und Facetten, die sowohl mit der Person selbst, aber auch mit den Rahmenbedingungen, etwa bei der Depressionshilfe, zu tun haben. Depressionen sind die häufigste Ursache für Suizide. In der öffentlichen Debatte um Lisa-Maria Kellermayr lässt sich nun allerdings beobachten, dass ihr Fall vielfach ferndiagnostiziert wird, ohne Kenntnis ihrer Lebensgeschichte, ihres sozialen Umfeldes oder ihrer Krankheitshistorie. Und auch strukturelle Baustellen im Umgang mit Menschen, die suizidale Tendenzen zeigen, spielen in der Debatte derzeit keine Rolle. 

Dass allerdings erst ein Gesamtbild gewisse Schlüsse zulässt, warum Kellermayr sich entschieden hat, wie sie sich entschieden hat, liegt entsprechend auf der Hand und ist im Prinzip Grundwissen Psychologie. Heißt auch: Wenn Politiker oder sonstige Diskutanten ohne weitergehende Informationen das Narrativ verbreiten, die Drohungen gegen Kellermayr seien die Ursache für ihren Suizid, ist das in dieser reduzierten Darstellung unseriös – und der Vorwurf der politischen Instrumentalisierung dieses Falles einer, mit dem man sich als Journalist auseinandersetzen muss. 

SPD-Politiker stellt Zusammenhang mit Lübcke-Mord her

Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann etwa behauptet, dass sich Kellermayr „aufgrund unfassbarer Drohungen von Coronaleugnern“ das Leben genommen habe, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) spricht davon, dass eine Ärztin „durch Hetze und Gewalt in den Tod getrieben wurde“, und der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh stellt sogar einen Zusammenhang zwischen dem Suizid Kellermayrs und dem Mord an Walter Lübcke her. Der CDU-Politiker wurde wegen seiner Positionen in der Flüchtlingspolitik und seiner Kritik an Pegida im Juni 2019 von dem Rechtsextremisten Stephan Ernst ermordet.  

Lindh twitterte in Richtung eines FDP-Mitglieds, das kürzlich verschiedene Zitate, die sich unter anderem gegen Ungeimpfte richteten, gesammelt hatte: „Eine Ärztin in Österreich begeht nach Morddrohungen von Impfgegnern Suizid. Mic de Vries’ (Nutzername des FDP-Mitglieds: Anm. d. Red.) unsägliche Corona-Liste ist nicht nur ein Online-Pranger, es ist eine potentielle Todesliste. Nichts aus dem Lübcke-Mord gelernt, keine Konsequenzen aus dem Suizid Dr. Kellermayrs gezogen.“ Über die Hintergründe dieses Streits berichtete unter anderem die Bild

Doppelt so viele Menschen, wie im Straßenverkehr sterben

In Deutschland begehen jährlich rund 10.000 Menschen Suizid, das sind in etwa doppelt so viele wie im Straßenverkehr sterben. Hinzu kommen rund 100.000 Suizidversuche, plus eine unbekannte Dunkelziffer, heißt es. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hat in dem Zusammenhang einen „Medienguide Suizid“ erstellt, der Journalisten helfen soll, in ihrer Berichterstattung über Suizide nicht übers Ziel hinauszuschießen und gewisse Fehler zu vermeiden. Die darin enthaltenen Empfehlungen lassen sich aber genauso gut auf die öffentliche Debatte insgesamt übertragen, also beispielsweise auf Äußerungen in den sozialen Medien.  

Im „Medienguide Suizid“ heißt es unter anderem: „Umso größer die Aufmachung eines Berichtes über Suizid und umso emotionaler der Inhalt, desto häufiger wird es zu Nachahmungen kommen.“ Hier zeigt sich denn auch ein weiteres Problem in der öffentlichen Debatte um Kellermayr: dass diese derart emotional geführt wird, dass aus der Ferne öffentlichkeitswirksam gemutmaßt und spekuliert wird, lässt die ohnehin vorhandene Gefahr, dass es zum „Werther-Effekt“ kommen könnte, steigen.

Wenn sich die Redaktion von SWR3 also für die Überschrift „Haben Impfgegner diese österreichische Ärztin in den Tod getrieben?“ entscheidet, die taz „Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr: Totgeleugnet“ titelt oder sich Politiker zum Fall derart äußern, wie sie es tun, müssen sich die Beteiligten mindestens den Vorwurf gefallen lassen, zu leichtsinnig mit dem Fall Kellermayr und damit auch mit dem Thema Suizid umzugehen. Dass heute Debatten – über Corona und anderes – sträflich reduziert geführt werden, ist zwar keine neue Erkenntnis. Im Fall Kellermayr allerdings lässt sich feststellen: Was die Corona-Debatte betrifft, zeigt sich hier der nächste traurige Höhepunkt einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Diskurssituation. 

Anlass für eine mentale Rückkehr in die Zivilisation

Das alles heißt selbstredend nicht, dass es eine Alternative wäre, nicht über den Fall zu berichten. Aber etwas mehr Verantwortungsbewusstsein in der Debattenführung wäre wünschenswert. Weniger Mutmaßungen und Küchenpsychologie, dafür mehr Interesse an einer nüchternen Aufklärung – und weniger politische Instrumentalisierung ohnehin. Das gilt übrigens für alle Seiten. Denn nicht nur die Wut auf jene, die sich kritisch mit den Corona-Maßnahmen der politisch Verantwortlichen beschäftigen, bekommt derzeit neuen Aufwind. Zu beobachten ist auch, dass selbst der tragische Tod dieser Frau nicht dazu führt, dass sich einzelne Nutzer, die schon in der Vergangenheit übers Ziel hinausgeschossen sind, zurückhalten würden.

Tatsächlich finden sich im Netz zahlreiche hirnlose Kommentare als Reaktion auf den Suizid Kellermayrs. Exemplarisch sei dieser Tweet eines Nutzers zitiert: „Eine ,Impf'-Ärztin hat sich umgebracht. Das kann ich verstehen. Es lebt sich nicht gut damit, Menschen wesentliche Dinge vorenthalten zu haben und sie mit Lügen zu einer potentiell tödlichen Maßnahme verleitet zu haben.“ Und so dreht sich die Debatte im Kreis und dreht sich und wird immer noch ein bisschen geschmackloser. Und immer dann, wenn man als Beobachter glaubt, die Eskalation habe ihren Höhepunkt endgültig erreicht, kommt garantiert von irgendwo ein Tweet daher, der einen eines Besseren belehrt. Dabei wäre der Tod Kellermayrs ein guter, wenn auch tragischer Anlass, um in der Corona-Debatte auch mental wieder in die Zivilisation zurückzukehren. 

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