Depeche Mode  - Bedenke, dass du sterben wirst 

Das fünfzehnte Album von Depeche Mode wurde mit Hochspannung erwartet. Auch wegen des Todes von Band-Mitglied Andrew Fletcher im letzten Mai. Mit „Memento Mori“ ist den verbliebenen Depeches ein atmosphärisch dichtes Album auf der Höhe der Zeit gelungen. 

Szene aus dem offiziellen Musikvideo on „Ghost Again“, Single-Auskoppelung aus dem neuen Depeche-Mode-Album „Memento Mori“ / Screenshot
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist vermutlich das am sehnlichsten erwartete Album dieses Popjahres: Depeche Modes „Memento Mori“. Das hat zunächst damit zu tun, dass ein neues Depeche-Mode-Album schon immer ein ganz besonderes Ereignis war, spätestens seit „Violator“ die Band aus Basildon 1990 in den ewigen Pop-Olymp katapultierte. 

Zudem haben es sich Depeche Mode nie leicht gemacht. Anders als andere Bands der Synthie-Pop-Ära der 80er haben sie sich früh von dem süßlichen und seichten Sound dieser Zeit verabschiedet. Jedes Album der letzten vier Jahrzehnten war daher ein Neuanlauf, eine Gratwanderung zwischen musikalischer Innovation und dem Bemühen, die alten „Just Can’t Get Enough“-Fans nicht zu verprellen. Wie kaum eine andere Band versteht es Depeche Mode, die eigene musikalische DNA permanent weiterzuentwickeln. So kommt es, dass auch dreißig Jahre alte Songs immer noch nicht alt klingen. 

Gleichwohl konnte das vorherige Album der Band nicht unbedingt überzeugen. Zwar ist ein durchschnittliches Depeche-Mode-Album immer noch eine gute Platte, man konnte sich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass bei „Spirit“ (2017) die Luft raus war. Das Album erschöpfte sich in Stückwerk, teils Anspielungen auf alte Zeiten, teils weitergestricke Blue Notes. Und dann wollte Martin Gore zu allem Überfluss auch noch politisch sein. Es passte nichts zusammen. 

Das Leitthema Tod stand schon vor Fletchers Ableben fest

Gut möglich also, dass man dem nunmehr fünfzehnten Album von Depeche Mode mit einer gewissen Vorsicht begegnet wäre und der Frage im Hinterkopf: Können sie’s noch? Doch dann starb Ende Mai letzten Jahres Andrew Fletcher, der Keyboarder der Band. Für einen Moment schien das gesamte Projekt in Frage gestellt. War Gore und Gahan nicht schon bei der letzten Platte eine gewisse Lustlosigkeit anzumerken? Wie sollte es musikalisch weitergehen? Und wie menschlich? Immerhin gelten der introvertierte Songwriter Gore und der extrovertierte Sänger Gahan nicht als die besten Freunde. Und mit Fletcher war der ausgleichende Kommunikator im Hintergrund verstorben. 

Entsprechend stieg die Spannung, als im Laufe des letzten Jahres klar wurde, dass es tatsächlich ein neues Depeche-Mode-Album geben würde. Wie der schlechte Scherz einer Marketingabteilung mutet es dabei an, dass der Titel „Memento Mori“ und das Leitthema Tod tatsächlich schon vor Fletchers Ableben feststanden. Auch diese seltsame Koinzidenz hat dazu beigetragen, dass dem Album schon vor seinem Erscheinen eine kaum erfüllbare Erwartungsfront gegenüberstand.
 

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Doch es darf Entwarnung gegeben werden. Gore und Gahan sind ein hohes Risiko eingegangen, doch sie haben die nicht eben wenigen Klippen lässig umschifft, an denen sie hätten scheitern können. Das liegt zum einen daran, dass Gore schon immer dann zu Höchstform auflief, wenn er unter Druck stand. Zum anderen hat man es wieder einmal verstanden, die Balance zwischen Fan-Erwartung und neuen Konzepten zu wahren. 

Nach dem Motto, dass sich nur treu bleibt, wer sich auch verändert, hält das neue Album in jeder Rille Wiedererkennungswerte bereit. Allein die erste Single-Auskopplung „Ghosts Again“ kommt wie eine Reminiszenz an die Alben der späten 80er-Jahre daher und löste bei Traditionsfans wahre Glücksgefühle aus. Ein Übriges tat dann das dazugehörige Video mit übergroßer Verbeugung vor Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“. Da jubelt nicht nur der alt gewordene Fan, sondern der Cineast gleich mit. Als wahre Revolution in der Bandgeschichte darf zudem gelten, dass für „Ghosts Again“ Gore erstmals mit einem anderen Songwriter zusammengearbeitet hat, mit Richard Butler von der Post-Punk-Band Psychedelic Furs. 

Es wäre der würdige Abschluss eines fast singulären Gesamtwerks

Der Eröffnungssong des neuen Albums, „My Cosmos Is Mine“, beginnt nicht etwa mit ein paar gefälligen Akkorden oder gar einer Melodie, sondern mit düsterem Soundgrollen und durch Filter gezerrten Störgeräuschen, dazu kommen Weltschmerz und Isolationssehnsucht, fast klerikal dargeboten. Wer mit einem eingängigen Popsong möglichst viele Käufer an sich binden will, sollte genau so niemals einen Longplayer beginnen. Depeche Mode machen es trotzdem. Chapeau! 

„Wagging Tongue“ war ursprünglich mal ein von Gahan folkig angelegtes Stück, bevor Gore ihm den elektronischen Drive gab – der entspannteste Song der Platte. Ein absolutes Highlight ist „People are Good“ – eine Huldigung an Kraftwerks „Computerwelt“. Weitere Höhepunkte sind etwa die von Gahan verantwortete Ballade „Before We Drown“, das manchmal an „Some great Reward“-Zeiten gemahnende „Always You“ und das wiederum anspielungsreiche „Never Let Me Go“ mit schönsten 80er-Beats, 00er-Jahre-Gitarren und Gahan-Gore-Harmoniegesang. Man könnte die Lobesliste fortführen. 

Viele Kommentatoren haben „Memento Mori“ zur besten Depeche-Mode-Platte seit zwanzig Jahren hochgejubelt. Doch Rankings sind immer schwierig und werden letztlich dem Medium Musik nicht gerecht. Ohne Frage aber ist es Gore und Gahan gelungen, den hohen Erwartungen der Fans gerecht zu werden, ohne dabei in Nostalgie zu versinken.

Das auch deshalb, weil der alte Kniff, progressiven Pop mit existentialistischem Pathos zu paaren, einmal mehr funktioniert hat. Entstanden ist eine atmosphärisch ungemein stimmige und dichte Platte, die darüber hinaus dem tragischen Aspekt des Todes von Andrew Fletcher mehr als gerecht wird. Sollte es das letzte Album der Band sein – und das ist nicht auszuschließen –, wäre es ein würdiger Abschluss eines fast singulären Gesamtwerkes, musikalisch wie gedanklich. Denn bedenke, dass du sterben wirst. 

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