Einsames Sterben während der Pandemie - „Man zwang mich, zu gehen“

Angehörige durften während der Corona-Zeit oft Sterbende nicht mehr sehen. Für viele Angehörige ist das bis heute ein traumatisches Erlebnis. Doch die Gesellschaft will das Thema nicht aufarbeiten.

Tote mit einem Blumenstrauss / dpa
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Autoreninfo

Pat Christ hat Kulturgeschichte an der Universität Würzburg studiert. Seit 1990 arbeitet sie als freischaffende Foto- und Textjournalistin.

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Sie stürzte. Brach sich zwei Rippen. Und durfte sich danach kaum bewegen. Hätte sie es getan, hätte das eine Querschnittlähmung zur Folge haben können. „Meine Mutter musste operiert werden, doch die Ärzte konnten nicht sagen, ob sie die OP überleben würde“, schildert Julia T. (Name geändert). Die 55-Jährige akzeptierte den Eingriff. Ihrer Mutter versprach sie: „Was auch immer passiert, ich werde dich bis zum letzten Atemzug begleiten.“ 

Coronabedingt wurde Julia T. dies verwehrt. Darunter leidet sie bis heute. „Das ist so furchtbar quälend, es lässt sich gar nicht beschreiben“, sagt die Niedersächsin. 

Julia T.s Mutter starb im Juli 2022 mit 94 Jahren. Allein die Tatsache ihres Todes war für die Tochter schlimm. Julia T. liebte ihre Mutter sehr: „Ich habe keine Angehörigen mehr, ich hatte nur noch sie.“ Erzählt die Niedersächsin von den näheren Todesumständen, wird sie ständig von Weinen unterbrochen. Bis heute kann Julia T. nicht fassen, wie unmenschlich man mit ihr und ihrer Mutter umgegangen ist. 

 

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Wiederholt habe sie in der Klinik gefleht, doch bitte bei ihrer Mutter bleiben zu können, als diese im Sterben lag, erzählt sie. Vergebens. Dabei hätten die Umstände es nach Julia T.s Überzeugung trotz Corona erlaubt. „Ich hatte einen negativen Corona-Test, und das Sterbezimmer meiner Mutter lag direkt am Notausgang der Klinik, ich hätte niemanden gefährdet, wenn ich bei ihr geblieben wäre, dennoch zwang man mich, zu gehen“, schildert sie unter Tränen. 

Stirbt ein geliebtes Familienmitglied, ist das immer schlimm. Doch zu wissen, dass dieser geliebte Mensch einsam sterben muss, ist grausam. So jedenfalls war es für Julia T. „Was hätte ich denn anrichten können, wäre ich geblieben?“, fragt sie immer wieder. Jeden Tag hatte sie ihre Mutter in der Klinik kurz besuchen können. Jeden Tag hatte sie einen negativen Corona-Test mitgebracht. Sie hätte bis zum letzten Atemzug bei ihrer Mutter bleiben können, ohne jemandem über den Weg zu laufen: „Im Sterbezimmer befand sich eine Toilette, nicht einmal deshalb hätte ich auf den Gang gehen müssen.“

Anhaltende Traumatisierung 

Was Julia T. erlebt hat, traumatisierte sie. Immer wieder sieht sie das Gesicht ihrer sterbenden Mutter vor sich: „Sie war total aufgequollen, es war ein grausamer Anblick.“ Oft schreckt sie nachts aus Albträumen hoch. „Ich habe bis heute psychische Einschränkungen, doch dafür entschädigt mich dieser Staat nicht“, klagt sie. Lange war Julia T. krankgeschrieben. Nach wie vor ist sie in Psychotherapie. 

Die Geschichte von Julia T. und ihrer verstorbenen Mutter steht für unzählige Leidensgeschichten während der Pandemie. Doch wie viele alte Menschen wegen Besuchseinschränkungen oder wegen strikter Besuchsverbote in dieser Zeit einsam im Krankenhaus, im Hospiz oder im Pflegeheim gestorben sind, scheint aktuell noch unbekannt zu sein. Die Dimension des Problems lässt sich allenfalls näherungsweise bestimmen. Fakt ist, dass pro Jahr rund 800.000 Menschen im Alter ab 70 Jahren in Deutschland sterben.  

Gut zwei Millionen Senioren sind während der Krise gestorben 

Dies bedeutet, das während der zweieinhalbjährigen Corona-Krise rund zwei Millionen Senioren gestorben sind. Laut einer Veröffentlichung des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands vom November 2022 stirbt höchstens die Hälfte aller Menschen zu Hause. Damit wären in den zweieinhalb Krisenjahren rund eine Million Menschen in Akutkliniken, Palliativabteilungen, Intensivstationen, Pflegeheimen und Hospizen gestorben. 

Nun könnte man sehr wohlwollend davon ausgehen, dass jede dritte Einrichtung Wege und Möglichkeiten gefunden hat, wie Angehörige ihre sterbenden Väter, Mütter und Großeltern trotz „Virengefahr“ bis zum Lebensende intensiv begleiten konnten. Vor allem stationäre Hospize waren darum sehr bemüht. Dann hätten über die gesamte Corona-Krisenzeit hinweg immer noch um die 700.000 Menschen das Schicksal gehabt, ohne kontinuierliche, intensive Begleitung seitens ihrer Angehörigen sterben zu müssen.

Ein Albtraum

Doch zurück zu Julia T. Die wird mittlerweile auch von Stefanie Garbade, einer Trauerbegleiterin aus dem niedersächsischen Osterholz, unterstützt. Garbade versteht nur zu gut, wie sehr das, was sie erlebt hat, Julia T. an die Nieren geht. Überhaupt: Was während der Corona-Krise mit alten Menschen gemacht worden war, sei oft „der absolute Albtraum“ gewesen, meint die Trauerbegleiterin. „Viele Angehörige erzählen mir, dass ihre Eltern wegen der sozialen Isolierung im Altenheim nicht mehr leben wollten“, so Garbade. Auch ihre Mutter, berichtet Julia T., sei wochenlang in ihrem Zimmer eines diakonischen Pflegeheims „gefangen“ gehalten worden. Auch ihre Mutter habe irgendwann nur noch sterben wollen. 

Alte Menschen waren fraglos durch das Coronavirus gefährdet. Dennoch wollten sich viele nicht abschotten. Es gab Kliniken, Heime und Hospize, die dies respektierten. „In unserem Hospiz duften Sterbende immer begleitet werden“, versichert Steffen Röger, Geschäftsführer des Hospizvereins im südbayerischen Pfaffenwinkel. Alles andere wäre „unmenschlich“ gewesen. 

Das vermeintlich medizinisch Notwendige

Oft ist zu hören, man habe nach dem aktuellen Wissensstand gehandelt. Doch das lässt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie so nicht gelten. Unter dem Eindruck der damaligen Erkenntnissen zu den Gefahren und durch ständig wechselnde Rechtslagen habe das Pendel zu oft „zugunsten des vermeintlich medizinisch Notwendigen“ ausgeschlagen. „Die soziale Isolation in Pflegeeinrichtungen gehört zu den unmenschlichen, vielfach tödlichen Folgen der Corona-Pandemie“, sagt er. Vor allem der einsame Tod sei zu einer schrecklichen Begleiterscheinung der Pandemie geworden.  

Natürlich wird das Leben vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Und hinterher ist man klüger. „Doch um zu verhindern, dass sich solche Tragödien wiederholen, müssen wir uns intensiv um Verstehen bemühen, wir dürfen die Corona-Pandemie nicht abhaken, wir müssen offen über Fehler diskutieren“, fordert Lilie. Ebenso wichtig bleibe, Sterben, Tod und Trauer zu enttabuisieren: „Räumen wir menschlicher Begleitung einen angemessenen Platz ein, wird sie künftig nicht wieder komplett unter den Tisch fallen.“ 

Sterbebegleitung muss erlaubt bleiben

Wie geht es dem Vater, der just aus dem Operationssaal kam? Das nicht zu wissen, weil kein Besuch erlaubt ist, kann fürchterlich quälen. Vielleicht scheiterte die OP. Vielleicht liegt der Vater just im Sterben. In solchen Fällen, betont Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, müsse Begleitung erlaubt sein. Es sei „unerträglich“, dass insbesondere in den ersten Infektionswellen kaum Räume für Sterbebegleitung geschaffen worden waren und Menschen einsam sterben mussten. 

Eugen Brysch weiß, dass ein solches Erlebnis für lange Zeit in tiefste Trauer führen kann. Sterbebegleitung hilft nach seinen Worten, den Tod eines Angehörigen besser zu verkraften. Menschen, die sich nicht verabschieden können, litten hinterher seelisch oft viel stärker. 

Niemanden alleine sterben zu lassen, Begleitung bis zum letzten Atemzug zu gewähren, das waren bis vor kurzem sakrosankte Prinzipien. Während der Corona-Krise wurden sie ausgehebelt. Oft seien Angehörige daran gehindert worden, ein sterbendes Familienmitglied zu begleiten, bestätigt Ernst Engelke. Der emeritierte Professor für Soziale Arbeit aus Würzburg gilt als Wegbereiter der Hospizbewegung in Deutschland. Auch nach seinen Worten leiden Angehörige bis heute darunter, dass sie sich nicht verabschieden konnten. Um daran nicht zu zerbrechen, benötigten sie Hilfe durch Profis oder Trauergruppen. 

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