Corona-Debatte bei Anne Will - „Das sagt sich im Bürosessel immer sehr gut“

Der Sachverständigenausschuss zur Evaluierung der deutschen Corona-Politik hat den Verantwortlichen ein gemischtes bis schlechtes Zeugnis ausgestellt. Darüber diskutierten bei Anne Will: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, FDP-Politikerin Christine Aschenberg-Dugnus, „SZ“-Journalistin Christina Berndt und Intensivpfleger Ricardo Lange. Letzterer war ein Gewinn, weil er während der Sendung immer wieder ordentlich an den Elfenbeintürmen der Theoretiker angeklopft hat.

Klopfte ordentlich an die Türen der Theoretiker: Intensiv-Pfleger Ricardo Lange (v.r.) / Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Diese Woche hat der Sachverständigenausschuss zur Evaluierung der deutschen Corona-Politik ein gemischtes bis schlechtes Urteil gefällt über die pandemiegetriebene Politik der vergangenen gut zweieinhalb Jahre. Datenlage: unzureichend. Beschlüsse: instransparent. Maßnahmen-Wirkung: kaum evident.

Bei Anne Will sollte dann am Sonntag auch genau darüber gesprochen werden. Denn mit Blick auf den Herbst könne einem ja „Angst und Bange werden“, so die Moderatorin in der Anmoderation, deren Redaktion sich sichtlich bemüht hatte, eine Diskussionsrunde zusammen zu stellen, in der nicht am gängigen Narrativ gerüttelt wurde, wonach alles wieder ganz schlimm werden könnte, sobald dieser Sommer vorüber ist.

Mit dabei: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Christine Aschenberg-Dugnus (FDP), der Intensivpfleger Ricardo Lange sowie die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt von der Süddeutschen Zeitung, die kürzlich noch öffentlichkeitswirksam behauptet hatte – und dafür im Anschluss mit allerei Häme überschüttet wurde –, dass eine Maßnahme ja nicht zwangsläufig unwirksam sei, bloß, weil sich die Wirksamkeit nicht nachweisen lasse. Eine interessante Argumenation für eine Wissenschaftsjournalistin. Im Prinzip die Gleiche wie bei Globuli oder Big Foot. Aber sei's drum.

 

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Ich will ehrlich sein, liebe Leserinnen und Leser. Ich kann jeden, wirklich jeden verstehen, dem das Thema Corona mittlerweile zum Hals heraushängt. Mir geht es da nicht anders: Bevor ich begonnen habe, diese Zeilen hier an meinem Schreibtisch zu tippen, saß ich auf der Couch und habe mir die vorletzte Folge der letzten Staffel „Stranger Things“ angesehen. Leider endete diese Folge mal wieder mit einem besonders spannenden Momentum – und nun bin ich mit der Hälfte meiner Gedanken noch bei ... pardon, fast hätte ich es verraten.

Jedenfalls geht es in „Stranger Things“ um unsere Welt (in den 80er Jahren) und eine Parallelwelt, die kopfüber an unsere Welt angedockt ist und allen möglichen Schrecken beinhaltet. Und ein bisschen fühlt sich für mich auch diese Corona-Debatte so an. Wie zwei Welten, die nebeneinander existieren, weil die einen – unter anderem ich – eigentlich längst abgeschlossen haben mit dieser Pandemie, sich halbwegs entspannt zurücklehnen und zusehen werden, wie die Nummer endemisch wird. Während die anderen immer noch im Alarmmodus sind und ganz aus dem Häuschen, wenn irgendwo die FFP2-Pflicht abgeschafft wird. Ja, so fühlt sich das für mich an. Schreiben Sie mir gerne unter diesen Artikel, wie Sie sich fühlen. Ich werde es lesen, versprochen.

Faust in der Tasche

Aber zurück zu Anne Will. Frau Berndt will Echtzeiten-Daten, ich auch, und vor allem aber hätte ich (endlich) gerne gewusst, wie viele der Menschen, die mit Corona auf Intensivstation liegen, überhaupt wegen Corona dort liegen und nicht wegen irgendetwas anderem, aber halt positiv auf das Virus getestet wurden. Denn letztlich lautet die Frage aller Corona-Fragen ja, wie gut die Bundesrepublik auf die kalten Monate mit Blick auf Sars-Cov-2 vorbereitet ist. Doch dafür müssten wir erstmal eine Bestandsaufnahme machen, woher wir überhaupt kommen, und uns im Klaren sein, worüber wir eigentlich reden. Etwas, das immer noch Menschen auf die Intensivstation schickt? Oder etwas, das nebenbei festgestellt wird? Das macht einen gewissen Unterschied, würde ich sagen.

Man habe dafür jetzt noch genug Zeit, also für die Vorbereitung, glaubt FDP-Politikerin Aschenberg-Dugnus. Und auch Lauterbach will schon einiges angeschoben haben, damit die Pflegeeinrichtungen gut vorbereitet sind auf den Herbst und Winter; also nicht überlastet werden. Ricardo Lange gleichwohl gehe die „Faust in der Tasche auf“, wie er sagte, wenn er vor dem Fernseher sitze und irgendwer vom Schutz der vulnerablen Gruppen spreche und davon, dass Intensivstationen nicht überlastet werden sollen. Er hätte deshalb gerne gewusst, warum man das Problem mit dem Personalmangel nicht endlich beseitige? Denn das sei die „tatsächliche Ursache“ für die Überlastung in den Krankenhäusern und Pflegeinrichtungen. Eine sehr gute Frage, finde ich.

Die Lage sei ihm „natürlich bestens bekannt“, sagte Lauterbach. Was auch sonst? Deshalb arbeite er auch „seit Jahren daran, dass wir da Gegenmaßnahmen machen“. Er habe etwa dafür gesorgt, dass man heute mit dem Abbau von Pflegekräften keine Gewinne mehr machen könne. Und Lauterbach will noch vor der Sommerpause Eckpunkte für ein „Pflegeentlastungsgesetz“ vorlegen, kündigte er an. Mit dem soll, hätte man sich denken können, Personal entlastet werden. Dass damit der Personalmangel nicht gelöst wird, worauf Lange kurz darauf hinwies, liegt aber auf der Hand. Und wenn man Lange so zuhörte, drängte sich leider der Verdacht auf, dass weder Lauterbach noch Aschenberg-Dugnus eine echte Ahnung haben, wie der Alltag in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen dieses Landes aussieht – von Berndt ganz zu schweigen.

Evidenz von Fallschirmen

Fast wäre man ob der Personaldiskussion abgeschweift. Denn eigentlich sollte es ja um die Evaluierung der Corona-Maßnahmen gehen. Auftritt Berndt von der SZ, die fordert, dass man jetzt nicht per se Maßnahmen wie Lockdowns oder die Schließung von Schulen ausschließen sollte. „Man muss manchmal auch Maßnahmen ergreifen, für die die beste wissenschaftliche Evidenz nicht gegeben ist“, sagte Berndt schon wieder allen Ernstes. Und damit ich das nicht schon wieder kommentieren muss, lasse ich gerne Lange zu Wort kommen.

Der antwortete Berndt, die ihn davor noch für sein Engagement gelobt hatte, wovon sich Lange aber offensichtlich nicht beeindrucken ließ: „Das sagt sich im Bürosessel immer sehr gut.“ Ob sie schon mal mit einem Menschen gesprochen habe, so Lange zu Berndt, dessen Tumor zu spät erkannt wurde, weil in der Maßnahme-Zeit „eine gewisse Art von Vorsorge nicht möglich war“?

Nicht der erste Punkt dieses Abends, der klar an Lange ging, weil der eben immer wieder darauf hinwies, dass sowas halt von sowas kommt; darauf, dass gute Pandemie-Politik mehr ist als bloße Virus-Bekämpfung, womit Lange bei dieser Corona-Angelegenheit offensichtlich mehr verstanden hat als viele Verantwortliche, die am Ende die Entscheidungsgewalt haben.

Da haben sich zwei gefunden

Lange, das sei an dieser Stelle daher angemerkt, war ein Gewinn für diese Sendung, weil er bei all dem Corona-Gerede bei Will immer wieder hinaufgestiegen ist in den Elfenbeinturm der Theoretiker, um ordentlich an die Tür zu klopfen. „Die Andeutung, die jetzt gemacht wurde, ist problematisch“, so Lauterbach auf den völlig berechtigten Tumor-Einwurf von Lange. Kein Wunder, der Gesundheitsminister versuchte ohnehin redlich, sich jedweder Kritik zu entziehen – und der wichtigen Evidenz-Debatte auch.

Etwa, indem Lauterbach behauptete, manche Maßnahme sei einfach „hochplausibel“, weshalb es keine nachgewiesene Wirksamkeit brauche. Dafür bemühte Lauterbach folgenden schrägen Vergleich: Man bräuchte auch keine Untersuchungen zur Evidenz von Fallschirmen bei Leuten, die aus dem Flugzeug springen. Stimmt schon, lässt sich antworten, aber Fallschirmspringer greifen auch nicht in die Grundrechte von über 80 Millionen Menschen ein. Bundesgesundheitsminister Lauterbach und SZ-Journalistin Christina Berndt: Da haben sich wirklich zwei gefunden.

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