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Filmstill/Berlinale

Chilla – 40 Days of Silence - #Aufschrei auf Tadschikisch

Mit erbarmungsloser Kameraführung und Tonalität entblättert "Chilla - 40 Day of Silence" die weibliche Ohnmacht in Zentralasien. Ein Meilenstein im Diskurs um Frauenrechte. Ein stiller Aufschrei. Das Berlinale-Tagebuch, Teil 9

Autoreninfo

Vinzenz Greiner hat Slawistik und Politikwissenschaften in Passau und Bratislava studiert und danach bei Cicero volontiert. 2013 ist sein Buch „Politische Kultur: Tschechien und Slowakei im Vergleich“ im Münchener AVM-Verlag erschienen.

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Heftig ist die Kritik am iranischen Kopftuchgesetz. Aktivistinnen verschaffen den ungehörten Stimmen pakistanischer Frauen Gehör. Lautstark fordern Menschenrechtler die Gleichstellung von Frauen - ­von Nordafrika bis zum Hindukusch. „Chilla – 40 Days of Silence“ setzt in diesem Diskurs um Frauenrechte in der muslimischen Welt einen Meilenstein, der so ganz anders ist: ruhig und unaufgeregt.

Ein rotes Tuch umhüllt das junge Gesicht Bibichas. Tränen quellen aus ihren dunklen Augen. Sie schnieft. Aber sie sagt nichts. Sie hat ein Schweigegelübde abgelegt, das sie bei ihrer Großmutter in einem nebelumwaberten Bergdorf in den tadschikischen Bergen für 40 Tage einzuhalten versucht. Sie schläft, isst, strolcht blumenbunt durch die öden Hügel, wandelt apathisch an zerrissenem Putz entlang, der grau auf der Hauswand liegt.

Sie kann nicht ausbrechen, sich nicht wehren gegen diese Stille. Gegen diese Farben um sie herum, die sich über helles Braun nicht hinauswagen. Gegen die erbarmungslos statische Kamera, die auf ihr Gesicht, ihre Hände, jedes noch so kleine Detail zielt – egal, ob es unscharf ist, über- oder unterbelichtet oder nur einen kleinen Teil der sonst dusteren Leinwand ausfüllt.

Die usbekische Jungregisseurin Saodat Ismailova geht auch beim Ton keine Kompromisse ein. Als die Großmutter mit ihren schwielig-ledrigen Händen Bibichas streichelt, durchdringt den Kinosaal lautes Schaben, das nicht aufhören will. Ismailova hält jedes Geräusch, jedes Bild so lange fest, bis jedes Detail zur Entfaltung gekommen ist, ja unerträglich wird. Bis man schier wahnsinnig wird vor Stillleben, die sich aneinander reihen, vor den Geräuschen der Berge, die nicht loslassen.

„Chilla – 40 Days of Silence“ stülpt das Nicht-entrinnen-Können, das Ausgeliefert-Sein der jungen Bibicha in Tadschikistan dem Berlinale-Besucher über. Diese Ohnmacht spielt der Film an jeder Person durch.

An der verwitweten Tante, der auch das Leben mit dem neuen Mann in der Stadt mit Handy, Popmusik und glitzerndem Lidschatten keine Freiheit gewährt. An der duldsamen Großmutter, die alleine in ihrem Häuschen sitzt und Geschichten über den Krieg anhört, die das Radio erzählt. An der kleinen Cousine, die sich als Halbwaise nicht zurechtfindet, in Übersprüngen handelt. Und an Bibicha.

In der aufgezwungenen Stille driftet sie von der Trauer in geisterhafte Halbwelten. Sie ist gefangen in ihrem Schweigen, in dieser Bergwelt. Ganz ähnlich hat sich Nicole Kidman vor elf Jahren im theatralischen „Dogville“ in der Ausweglosigkeit verfangen.  

Als dann etwa in der Mitte des Filmes eine wirre, kaleidoskopische Szene aus bunten, herumwirbelnden Kleidern und zerrenden Männerhänden die unkonkrete Bedrückung Bibichas als Vergewaltigung ausweist, zeigt sich, dass Ismailova das Drehbuch nicht geschrie-ben hat, sondern geschrie-en: Der Film ist ein stiller Aufschrei.

Ein Aufschrei gegen die Nachwehen der sowjetischen Okkupation, die als russisches Kalenderblatt an der spröden Wand haftet. Ein Aufschrei gegen die Männer, die in dem Film zwar nur zwei Mal von weitem gefilmt werden, aber deren Macht in der Ohnmacht der Frauen den ganzen Film über so präsent ist. Das Patriachat obsiegt.

Doch Soadat Ismailova hinterlässt ein kleines politisches Zeichen, eine Hoffnung. Sie hat als Usbekin nicht umsonst die Handlung im laut usbekischer Staatsdoktrin feindlichen Tadschikistan spielen lassen. Es ist die Botschaft, dass die Solidarität zwischen den entrechteten Frauen keine Grenzen kennt.

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