Attentat auf John F. Kennedy - Das Menetekel Amerikas

Heute vor 60 Jahren wurde John F. Kennedy erschossen. Um den Tatablauf rankten sich schon bald Verschwörungstheorien. Auch deshalb markiert der Mord einen Wendepunkt. Die Konflikte, die heute die USA spalten und schwächen, wurden erstmals offenbar.

John F. Kennedy in Berlin, fünf Monate vor seiner Ermordung / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist der 22. November 1963, Dallas, Texas. Die Sonne scheint von einem makellosen Himmel. Viele zehntausend Menschen säumen die Straßen der Innenstadt. Der Präsident der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, ist mit seiner Frau Jackie in der Stadt, um den Wahlkampf für das kommende Jahr vorzubereiten. Das Wetter hat sich aufgeklart, die Sonne scheint. Man gibt die Anweisung, das Verdeck des 1961er Lincoln Continental X-100 zu öffnen, mit dem Kennedy zum Trade Mart fahren soll, um dort eine Rede zu halten. Um 11.55 verlässt die Kolonne des Präsidenten den Flughafen Love Field. Kennedy hat in diesem Moment noch 35 Minuten zu leben.

Um 12.21 Uhr biegen die Fahrzeuge des Präsidententross in die Main Street ein. Bis zur Dealey Plaza sind es noch anderthalb Kilometer. Acht Minuten später biegt die Kolonne in die Houston Street ein, um dann, nach nur wenigen Metern, scharf links in die Elm Street abzuschwenken. Nellie Connally, die Frau des texanischen Gouverneurs John B. Connally jr., dreht sich zu Kennedy um und sagt: „Sie können nicht behaupten, dass Dallas Sie nicht liebt, Mr. President.“ Kennedy lächelt: „Nein, das kann man nicht sagen.“ Es sind seine letzten Worte.

Zu diesem Zeitpunkt sind etwa 500 Menschen rund um die Dealey Plaza versammelt. Zehn von ihnen filmen die entscheidenden Sekunden. Der bekannteste ist Abraham Zapruder. Er steht in diesem Moment auf einem Betonpodest oberhalb einer Graswelle, die sich zur Rechten von Kennedys Fahrzeug erhebt. Von hier aus hat er einen ausgezeichneten Blick auf die Ereignisse. Zapruder benutzt eine Bell & Howell Zoomatic-Kamera mit Kodachrome-Farbfilm. Er beginnt zu drehen, als das erste Polizeimotorrad in die Elm Street einbiegt, und hält die folgenden 26,6 Sekunden auf insgesamt 486 Einzelbildern fest.

Es muss bei Bild 161 sein, als der erste Schuss fällt. Die Kugel wird von einer Ampel abgelenkt und schlägt in einer nahegelegenen Brücke ein. Wir haben 12.30 Uhr und 30 Sekunden. 3,5 Sekunden später der zweite Schuss. Aus Zapruders Sicht taucht Kennedys Wagen in diesem Augenblick wieder hinter einem Verkehrsschild auf. Auf Bild 224 sieht man, wie Kennedy beginnt, seine Unterarme zu heben. Jackie wendet sich ihrem Mann zu. Die Kugel hat seinen Hals durchschlagen und trifft den vor ihm sitzenden Connally.

Zapruders Film hätte Klarheit bringen können

Es ist 12.30 Uhr und 39 Sekunden, als die dritte Kugel Kennedy in den Kopf trifft. Das berüchtigte Bild 313 von Zapruders Film zeigt den Moment, in dem das Geschoss ein Teil der Schädeldecke samt Hirnmasse wegsprengt. Doch Zapruder dreht weiter. Man sieht, wie Jackie Kennedy auf den Kofferraum des Lincoln klettert und der Secret Service Mann Clint Hill auf die Limousine aufspringt. Dann verschwindet das Präsidentenfahrzeug in einer Unterführung.

Hätte Zapruder in diesem Moment noch ein wenig weiter geschwenkt, der Welt wären viele wilde Theorien erspart geblieben. Denn rechts neben Zapruder befand sich ein Zaun, hinter dem Augenzeugen einen Schützen gesehen haben wollen. Auf allem bekannten Aufnahmen dieser Sekunden ist allerdings nichts Auffälliges zu entdecken. Zapruders Film hätte Klarheit bringen können.

 

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So aber wurde der Mord an Kennedy zur Grundlage der ersten umfassenden Verschwörungstheorie des 20. Jahrhunderts. Und man kann an dem Fall gut studieren, welche Ingredienzien eine nachhaltige Verschwörungstheorie benötigt. Da ist zunächst ein unfassbares Ereignis, das für die Menschen so unglaublich ist, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Ein Einzeltäter, der mit einer postalisch bestellten Waffe, alter Munition und einer ordentlichen Portion Zufall den Hoffnungsträger der westlichen Welt tötet und zwei Tage später von einem Nachtclubbesitzer erschossen wird? Das ist zu banal.

Zweitens braucht es ein paar in der Tat bemerkenswerte Tatsachen. Etwa, dass ein eher durchschnittlicher Schütze mit einem billigen Zielfernrohr und einem Repetiergewehr es schafft, innerhalb von neun Sekunden drei Schüsse abzugeben und dabei zwei Mal ein fahrendes Ziel in der Größe eines Kopfes aus erst 60 und dann 85 Metern zu treffen. Selbst Profis konnten diese Werte nicht reproduzieren.

Die goldenen Jahre Amerikas waren vorbei

Hilfreich sind auch Zeugenaussagen, die Alternativthesen zu stützen scheinen. Zwar gehört es zum psychologischen Basiswissen, dass Zeugenaussagen – zumal unter Stress – mit größter Vorsicht zu genießen sind und sich fast immer widersprechen. Aber als Aufhänger für einer Verschwörungstheorie eignen sie sich allemal.

Und schließlich ist da noch ein erkenntnistheoretisches Problem: die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Erkenntnis. Gerade solide Theorien sind immer offen und widerlegbar – fallibel und falsifizierbar, wie der Fachmann sagt. Diese prinzipielle Fehlbarkeit unseres Wissens macht es anfällig für Leute, die behaupten, sie hätten eine in sich schlüssige Erzählung anzubieten.

Das Attentat auf Kennedy heute vor sechzig Jahren markiert eine Zeitenwende. Die goldenen Jahre Amerikas waren vorbei. Es folgten eine radikalisierte Bürgerrechtsbewegung, die Morde an Martin Luther King und Robert Kennedy, Vietnam, Watergate, der Verfall alter Schlüsselindustrien und ganzer Stadtviertel. Der American Way of Life wurde nachhaltig infrage gestellt.

Im Grunde begann die heutige Krise der USA an jenem 22. November 1963 in Dallas. Nicht, dass unter Kennedy alles anders gekommen wäre. Das ist Unsinn. Allerdings zeigte der Mord am 35. US-Präsidenten, dass hinter der glitzernden Fassade der amerikanischen Gesellschaft tiefe Konflikte verborgen lagen, die in den letzten sechs Jahrzehnten offen zu Tage getreten sind. Insofern war der Mord an John F. Kennedy ein Menetekel, das sich auf bittere Weise bewahrheitet hat.

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