ARD wegen Wagner-Vormarsch in der Kritik - Quid pro quo

Als die Wagner-Truppe meutert, läuft im Ersten unter anderem eine Zoo-Doku. Das sorgt für reichlich Kritik – und zwar völlig zu Recht. Schließlich ist der ÖRR das privilegierteste Mediengebilde der Welt und hat bei Breaking News entsprechend zu liefern.

TV-Kameras stehen für eine Pressekonferenz bereit / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Als Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, insbesondere der ARD, ist man mittlerweile einiges gewöhnt. Talkrunden werden unfair besetzt, der gute, alte „Tatort“ gefällt sich zunehmend in der Rolle des antifaschistischen Aufklärers, für den der Spannungsbogen weniger wichtiger geworden ist als die zeitgeistige Botschaft, die es zu senden gilt, und wenn in der Welt etwas von größter Relevanz geschieht, fällt die ARD regelmäßig damit auf, gar nicht auf Sendung zu gehen oder mindestens viel zu spät dran zu sein. 

Noch im Jahr 1991 berichtete der damalige ARD-Korrespondent Gerd Ruge über Stunden live vom Augustputsch in Moskau. Ältere Leser dürften sich daran noch gut erinnern. Als zehn Jahre später der Anschlag auf das World Trade Center die Welt erschüttert – übrigens der erste geopolitische Großknall in den persönlichen Erinnerungen des Autors dieser Zeilen – muss der Zuschauer RTL einschalten, wo sich Peter Kloeppel bereits seinen späteren Grimme-Preis verdient, während bei der ARD noch gepennt wird.

Nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine am 24. Februar 2022 dauert es Wochen, bis die ARD auf eigene Reporter zurückgreifen kann – Journalisten anderer Medien, wie der ehemalige Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann, füllten die Präsenzlücke – und als am vergangenen Samstag die Wagner-Truppe gen Moskau marschiert, sendet der TV-Kanal der Welt stundenlang, während der geneigte ARD-Zuschauer mit Kinderprogramm („Die Pfefferkörner“), der Arzt-Serie „In aller Freundschaft“ und der Zoo-Doku „Giraffe, Tiger & Co“ mehr oder weniger unterhalten wird. 

Wir haben doch berichtet

Im Nachhinein lässt sich feststellen: Die vom Wagner-Kommandeur Prigoschin angestoßene 36-Stunden-Meuterei gegen den Kreml war fast genauso schnell wieder vorüber wie sie begonnen hatte. Aber am Samstag, während die Welt fleißig sendete, ebenso wie BBC News übrigens, war noch völlig offen, wohin der Marsch führen wird. In Moskau wurden bereits Straßensperren errichtet, um die Wagner-Truppe abzuwehren, sollte diese tatsächlich in die russische Hauptstadt eindringen; Russlands Präsident Putin meldete sich mit einer Fernsehansprache zu Wort und bezichtigte Prigoschin und dessen Soldaten des Hochverrats. 

Jetzt kann es man natürlich machen wie der ARD-Chefredakteur Oliver Köhr, der sich als Reaktion auf die Kritik am Sender – diese wurde am Samstag in den sozialen Medien schon sehr schnell sehr laut – auf zwei Gegenargumente zurückzieht. Im Interview mit dem Spiegel lauten diese sinngemäß: 1. Wir haben doch berichtet („regelmäßig in den ,Tagesschau‘-Ausgaben“ oder mit einem Laufband im Ersten mit Verweis auf Phoenix und Tagesschau24) und 2. Wir wollten nicht spekulieren („Außer der Information, dass die Söldnertruppe Wagner auf dem Weg nach Moskau ist, wo es zu einem Machtkampf mit Putin kommen könnte, gab es zunächst kaum etwas seriös zu berichten.“)

Sesselpupseranalysten

Erwähnt sei an dieser Stelle auch der Tweet eines gewissen Nico Lumma, Unternehmer, Sozialdemokrat und Mitbegründer eines netzpolitischen Vereins. Im Prinzip twitterte der am Samstag, was Köhr später zu Protokoll gab, nur anders: „Immer wieder grandios sind diese Sesselpupseranalysten, die jetzt von ARD/ZDF Live-Berichterstattung erwarten. Wir müssen akzeptieren, dass es Lage-Entwicklungen gibt, bei denen wir schlicht nicht wirklich wissen, was passiert. Egal, wie hoch das Budget des ÖRR auch sein mag.“

Den pubertären Ton mal beiseitegeschoben, dürfte dieser Tweet vielen ARD-Journalisten – von denen nicht wenige ihre Zeit am Samstag damit verbrachten, ihren Arbeitgeber auf Twitter zu verteidigen, statt ins Studio zu gehen und ihren Job zu machen – gefallen haben; klang Lummas Einlassung doch für Menschen, die nicht wirklich wissen, wie Journalismus in der Praxis funktioniert, erstmal irgendwie plausibel. 

Nicht zu wissen, was im Detail gerade vor sich geht, ist allerdings kein Grund, nicht in irgendeiner Weise zu berichten. Wenn die Welt das kann, BBC News auch, dann müsste das die ARD fünfmal können, weil sie über Milliarden Euro vom Gebührenzahler verfügt, ein riesiges Korrespondentennetzwerk hat, ein Telefonbuch mit unzähligen Experten und die technische Infrastruktur wie Studios, in die die Verantwortlichen hätten Gesprächspartner einladen oder schalten können – auch ohne zu wissen, was wenige Stunden später der Stand der Dinge sein würde.

Und wenn das, weshalb auch immer, nicht im Ersten geschehen konnte oder sollte, dann hätte mindestens Phoenix von Anfang an so gut dabei sein müssen, dass dort jene Maßstäbe für Live-Berichterstattung gesetzt worden wären, die man vom teuersten öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt völlig zu recht erwarten kann. Denn Lückenfüller gab es anderswo zuhauf: im russischen Fernsehen zum Beispiel, wo eine halbe Ewigkeit lang Werbung lief, weil man wohl nicht wusste, wie man mit der aktuellen Lage umgehen sollte, ohne den Zorn des Kreml auf sich zu ziehen. 

Journalismus ist nicht nur Breaking News

Anders formuliert: Man hätte am Samstag weder im Kopf von Prigoschin noch auf einem Wagner-Panzer sitzen müssen, um über Stunden guten und informativen Journalismus zu machen. Der Vormarsch selbst war ja nur ein Aspekt von vielen, die Frage, welche Folgen der Vormarsch haben könnte, auch nur eine Frage von vielen. Im Folgenden eine kleine Auswahl weiterer Fragen, die man am Samstag in der ARD hätte diskutieren bis beantworten können: 

Wer ist die Wagner-Truppe? Was unterscheidet sie von der regulären russischen Armee? Wie ist das Verhältnis zum Kreml? Warum ist Prigoschin sauer auf Putin? Welche Rolle spielte die Wagner-Truppe bis zuletzt in der Ukraine? Warum heißen die überhaupt Wagner? Wie blickt die russische Bevölkerung auf den Ukraine-Krieg? Wie würde es weitergehen, sollte Putin seine Macht verlieren? Und gibt es so etwas wie einen möglichen Thronfolger Putins in dessen Umfeld? (Die Antwort auf letztere Frage lautet übrigens nein)

Man hätte Gesprächsrunden organisieren, ältere Beiträge noch einmal hochziehen können. Man hätte Landkarten zeigen können, auf denen zu sehen gewesen wäre, wo Prigoschin und seine Truppen gerade sind. Man hätte Putins Rede ausstrahlen und übersetzen können. Man hätte Politiker ins Studio schalten können, Experten ebenso, die den aktuellen Stand des Ukraine-Krieges zusammenfassen. Man hätte die derzeitigen Frontlinien diskutieren können und an welchen Stellen die Wagner-Truppe zuletzt entscheidend für Putin agierte. Man hätte zu den vielen Korrespondenten schalten können, die dann wiederum erklärt hätten, wie auf die Nachricht von dieser Meuterei anderswo auf der Welt reagiert wird.
 

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Kurzum: Journalismus ist nicht primär Breaking News und Live-Übertragung vom Ort des Geschehens, Journalismus ist vor allem Einordnung und Beschreibung der aktuellen Lage, inklusive all dessen, was man (noch) nicht weiß. Dafür darf man bei Nachrichten von Weltrang, und eine solche war die 36-Stunden-Meuterei Prigoschins ohne Zweifel, auch riskieren, dass man sich im Zuge einer längeren Sondersendung wiederholt; dass nur tröpfchenweise neue Informationen durchsickern; dass Zuschauer wieder abschalten. Denn der Anspruch wäre ja keineswegs gewesen – und das hätte auch niemand erwartet –, den einzelnen Zuschauer über Stunden ans Erste zu fesseln, sondern jeden Zuschauer angesichts der Wichtigkeit der Vorkommnisse abzuholen, ob er nun um 13.56 Uhr einschaltet oder um 17.24 Uhr.

Worüber das Internet längst spricht

Die obigen Themen- und Programmvorschläge formuliert der Autor dieser Zeilen übrigens alleine beim ersten Cappuccino am Dienstagmorgen. Man stelle sich vor, die ARD hätte für solche Fälle eine schnelle Eingreiftruppe aus verdienten Journalisten, die sich spontan zusammenschalten würden, eine Art A-Team, das fähig ist, rasch ein informatives Programm auf die Beine zu stellen: Da stünden der ARD wirklich viele Türen offen. Denn nicht nur das Was entscheidet, sondern auch das Wie. Schon deshalb, weil man sich als ARD-Zuschauer zwangsläufig veräppelt vorkommen muss, wenn beim Einschalten der Eindruck entsteht, die bei der ARD hätten noch gar nicht mitbekommen, worüber das Internet längst spricht. 

Wissen Sie, mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es ein bisschen wie mit den Grundrechten. Beides wurde nicht erdacht, um einfach nur da zu sein. Beides muss sich bewähren, wenn es darauf ankommt, sonst ist beides – so hart das klingen mag – im Prinzip nutzlos oder wirkt zumindest so. Jedes Krankenhaus hat Chirurgen im Bereitschaftsdienst, sollte es zu einer Massenkarambolage auf der Autobahn kommen. Aber die ARD hat kein Bereitschaftsteam für den Fall, dass 25.000 Söldner gegen Putin putschen? Das kann doch nicht der Anspruch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sein, der derzeit übrigens erneut mehr Geld fordert

Ein Mission Statement für die ARD

Womit wir abschließend mal wieder bei der Systemfrage angekommen wären, beim großen Ganzen. Denn der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk ist eben nicht nur das teuerste Medienkonstrukt seiner Art der Welt, er ist auch mit Abstand das privilegierteste. Während private Medienkonzerne ihr Geld mühsam erwirtschaften müssen, wird es ARD, ZDF und Deutschlandradio im Prinzip geschenkt. Das hält den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aber nicht davon ab, auch Werbung zu schalten oder presseähnliche Berichterstattung im Internet anzubieten (tagesschau.de), was ihn längst zur direkten Konkurrenz privater Nachrichtenangebote macht. Ein unfairer Wettbewerb. 

Im Gegenzug bekommt der Gebührenzahler zwar auch etablierte Angebote wie die „Tagesschau“ und „ZDF heute“ – und zeitgemäße Formate vor allem des ZDF auf YouTube – sowie gute bis hervorragende Dokumentationen, die er sich mittlerweile auch remote in der Mediathek ansehen kann (wohlwissend, dass man sich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mittlerweile auch gerne in der Rolle des Volkserziehers sieht, was gesondert zu diskutieren wäre).

Aber er, der Gebührenzahler, wird eben auch bombardiert mit einem gemessen am Informationsauftrag irrelevanten Unterhaltungsprogramm, in dem gekocht, gequizzt, gemordet, gesungen, gesportelt und Rares gegen Bares getauscht wird. Hier lautet das beliebteste Argument der Verantwortlichen übrigens, die Einschaltquoten zeigten, dass die Leute auch derlei in ARD und ZDF sehen wollen. Da geht der Autor dieser Zeilen sogar ein stückweit mit. Wenn die Menschen aber informiert werden möchten über aktuelle Ereignisse von Weltrang, dann zieht man den Kopf ein und exakt dasselbe Argument soll nicht mehr gelten? Das ist schon arg inkonsequent, wenn Sie mich fragen. 

Das angenehme Gefühl

Andersherum wäre eigentlich angebrachter und gegenüber dem Gebührenzahler auch besser zu begründen. Denn mit großen Privilegien geht auch große Verantwortung einher. Hier ein Entwurf für ein, wie man neudeutsch sagt, Mission Statement, weil es von den ÖRR-Verantwortlichen bei Kritik ja auch gerne heißt, nur meckern könne doch jeder. Das Prinzip des öffentlich-rechtlichen Rundfunks müsste in etwa folgendermaßen lauten: „Ja, wir zeigen auch Krimis, Kochshows und Kinderprogramm, aber wenn irgendwo etwas Wichtiges passiert, dann sind wir da, dann gehen wir live, dann liefern wir Informatives gegen Gebührengeld, weil das unser Kernauftrag ist.“ Fakten, Fakten, Fakten und immer an den Leser denken, hieß das früher bei Focus

Würde man dieses Mission Statement konsequent umsetzen – inklusive sofortiger Beendigung des Volkserziehungsauftrags –, wären auch die nächsten Verhandlungen über den Rundfunkbeitrag deutlich angenehmer für alle Beteiligten. Die Debatte über die Existenzberechtigung des ÖRR in seiner derzeitigen Form wäre deutlich leiser und die ARD-Verantwortlichen könnten sich in Ruhe ums Programm kümmern, statt sich in Interviews mit privaten Medien wie dem Spiegel (mal wieder) erklären zu müssen. Außerdem hätte der immer weniger geneigte Gebührenzahler endlich wieder das angenehme Gefühl, dass sein Geld bei ARD, ZDF und Deutschlandradio gut aufgehoben ist. Quid pro quo. 

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