Antisemitismus in Deutschland - Einzelfall, Tagesordnung, Einzelfall

Die öffentliche Kritik an den antisemitischen Werken bei der Documenta 15 in Kassel ebbt bereits wieder ab, da zeigt ein aktueller Jahresbericht, dass die Fälle von Antisemitismus in Deutschland zugenommen haben. Es ist das immer gleiche Muster, das sich im Land beobachten lässt: Konkrete Fälle werden öffentlich verurteilt, mit ganz viel Gestus und stets in der Selbstvergewisserung, nicht verantwortlich zu sein - und dass es handfeste Konsequenzen geben muss. Bis zum nächsten „Einzelfall“...

Gläubige beten zu Beginn des Pessach-Fests im Jüdischen Bildungszentrum Chabad Lubawitsch Berlin / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Hubertus Knabe berichtete an dieser Stelle jüngst über ein neues NS-Dokumentationszentrum, das in Berlin geplant sein soll. Das größte seiner Art, auf einer Fläche von 15.000 Quadratmetern und mit jährlichen Millionenkosten, um es zu betreiben. Obgleich Knabe berechtigte Kritik am Konzept, weniger an der Idee an sich äußert, zeigt das Vorhaben einmal mehr, dass die deutsche Erinnerungskultur mit Blick auf die eigene NS-Vergangenheit und in Gedenken an die Abermillionen ermordeter Juden im Prinzip funktioniert im Land. Wahrscheinlich sogar besser, als in anderen Ländern dieser Welt Erinnerungskultur gelebt wird.

Es gibt zahlreiche Museen, Ausstellungen und Organisationen, die Teil dieser deutschen Erinnerungskultur sind, zudem unterstützt Deutschland jüdische Gemeinden im Land finanziell und strukturell. Auch Bemühungen, Antisemitismus präventiv zu begegnen, gehören dazu. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Man muss nur die Nachrichten verfolgen oder, sagen wir, an der jüdischen Gemeinde in Berlin vorbeigehen, sich den Sicherheitszaun ansehen und die Polizisten, die davor patrouillieren, um zu begreifen, dass die deutsch-jüdische Vergangenheit und ihre Aufarbeitung das eine ist, die deutsch-jüdische Gegenwart aber etwas ganz anderes. Das zeigen auch die Zahlen.

Die jüdische Realität im Land

Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) hat kürzlich seinen Jahresbericht für 2021 veröffentlicht. Wer einen Blick hineinwirft, wird überdeutlich mit der Realität der Juden in der Bundesrepublik konfrontiert. Insgesamt hat Rias 2.738 antisemitische Vorfälle für das vergangene Jahr erfasst, durchschnittlich also sieben pro Tag. Damit ist die Zahl solcher Vor-, oder besser: Ausfälle stark angestiegen. Um fast 40 Prozent, heißt es. Dass sich dieser rapide Anstieg unter anderem mit einer veränderten Datengrundlage erklären lässt, ist das eine. Dass darunter auch Grenzfälle fallen, wie die Frage, ob das Tragen eines Judensterns auf einer Corona-Demo im Wortsinn antisemitisch ist, vielleicht ebenso.

 

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Das andere ist, dass die Dunkelziffer hoch ist – sagen jedenfalls jene, die sich auskennen –, und dass Deutschland trotz seiner flächendeckenden Erinnerungskultur nach wie vor ein Land ist, in dem sich Antisemiten jedweder Couleur wohlfühlen. Vom Verschwörungstheoretiker, der sich nicht zu blöde ist, alles, was schiefläuft in der Welt, „den Juden“ in die Schuhe zu schieben über den anti-imperialistischen Feuilletonisten, der den eigenen Judenhass hinter seiner selbstreferenziellen „Israelkritik“ versteckt. Bis hin zum muslimischen Jugendlichen, der, mit Judenhass vollgepumpt von wem auch immer, Jagd auf Passanten macht, weil die einen Davidstern um den Hals tragen oder eine Kippa auf dem Kopf.

Stets das gleiche Muster

Warum aber, lässt sich fragen, kommt es ausgerechnet in einem Land zu derlei Gedankengut und Übergriffen, das sich seit Jahrzehnten derart intensiv mit der eigenen antisemitischen Vergangenheit auseinandersetzt, ein Land, in dem ein Besuch einer KZ-Gedenkstätte oft fester Teil des schulischen Programms ist? Eine unangenehme Antwort könnte sein, dass eine Konfrontation mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte noch keine antijüdischen Ressentiments zerschlägt. Notfalls werden die halt verlagert, auf das angeblich immer böse Israel beispielswiese, das die immer lieben Palästinenser unterdrückt. Oder auf „die Eliten“.

Eine andere, dass sich ein großer Teil der Öffentlichkeit – wie der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn jüngst in einem Interview erläuterte – dazu neigt, sich eher mit toten Juden zu beschäftigen, also mit den Opfern des Holocaust, statt mit den lebenden, also etwa mit Israel. Das ist zweifellos eine harte, eine nicht ohne Ambivalenzen niederschreibbare Diagnose, aber eine, über die es sich lohnt, nachzudenken. Eine andere (mögliche) Antwort ist außerdem diese: Genauso schnell, wie man sich angesichts konkreter Fälle von Antisemitismus lauthals empört – mit ganz viel Gestus freilich und stets in der Selbstvergewisserung, doch zu den Guten zu gehören – wird in Deutschland auch wieder zum Daily Business übergegangen. Stets dem Muster folgend: Einzelfall, Tagesordnung, Einzelfall.

So, und zwar genau so, stiehlt sich eine Öffentlichkeit einerseits aus der eigenen Verantwortung, weil die punktuelle Empörung, ja, bisweilen sogar – siehe die Causa Gil Ofarim – die punktuelle Hysterie zur gelebten Alternative zu einer echten Aufarbeitung geworden ist, inklusive fühlbarer und schlagzeilentauglicher Konsequenzen. Nicht nur für den einzelnen Antisemiten, sondern auch für jene, die durch ihr Wegsehen, ihr Kleinreden oder – und auch das gehört zur Wahrheit dazu – durch ihr verqueres Verständnis von Toleranz und Multikulturalität überhaupt erst den Acker pflügen, auf dem Antisemitismus prächtig gedeihen kann. 

Nur wer versteht, kann auch begreifen

Nehmen wir das aktuellste Beispiel: die als Kunst deklarierten antisemitischen Ausfälle bei der Documenta in Kassel. Die politischen und kulturellen Hintergründe der dort ausgestellten Werke, in denen israelische Soldaten unter anderem mit SS-Schergen gleichgesetzt wurden, mögen bei näherer Betrachtung der Geschichte Indonesiens komplex sein. Und es lohnt sich, ja, es ist aus Sicht des Autors dieser Zeilen sogar journalistisch geboten, diese in der Debatte zu beschreiben, wie es Ulrich Thiele für Cicero lesenswert getan hat. Denn nur, wer versteht, kann auch begreifen.

Aber auch komplexe Zusammenhänge können und dürfen in einem Land wie Deutschland, nirgends auf der Welt eigentlich, als Vehikel genutzt werden, um Antisemitismus in irgendeiner Form kleinzureden oder als ethnische wie religiöse Eigenwilligkeit abzutun. Genauso wenig wie fetischdeutsche Zuständigkeitsdebatten – inklusive des Versuchs der für die Documenta mit-zuständigen Kulturstaatministerin Claudia Roth, sich nun an die Spitze der Empörten zu setzen – dazu führen sollten, dass am Ende wieder niemand die Verantwortung trägt und wirkliche, auch persönliche Konsequenzen zieht. Nicht dazu, dass in der Folge kein Verantwortlicher zurücktreten will und sich niemand, der über den nötigen Einfluss verfügt, angesprochen fühlt, in den zuständigen Abteilungen und Gremien der – von Steuergeldern üppig mitfinanzierte – Documenta ordentlich durchzufegen.

Aber nicht nur dort, sondern auch in den Rundfunkanstalten des Landes, die immer wieder durch antisemitisches Personal oder einseitige Berichterstattung über Israel auffallen. Auch in den Parteien, Behörden und Ministerien des Landes, die überhaupt erst die Rahmenbedingungen bieten, dass Antisemiten etwa unter dem Deckmantel der Integration oder der Kunst- und Meinungsfreiheit freidrehen können. Auch auf Demonstrationen freilich, gegen wen oder was auch immer, wenn dort Antisemitismus aufflammt. Und eben überall dort, wo es zu Judenhass kommt oder gekommen ist, aber viel zu selten zu echten, zu handfesten Konsequenzen. Wenn sich hier nicht bald etwas ändert, ist die deutsche Erinnerungskultur nur Fassade und wir können die antisemitischen Werke der Documenta gleich stehen lassen für viele Jahre. Einfach, damit die Historiker der Zukunft besser nachvollziehen können, warum auch der letzte in Deutschland lebende Jude irgendwann entschieden hat, lieber seine Koffer zu packen und dieses Land zu verlassen.

Rafael Seligmann spricht im Cicero-Podcast über den letzten Teil seiner Roman-Trilogie über das Leben seiner Familie:

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