60 Jahre „Die Vögel“ - Der Film zu unserer Gegenwart

Im Herbst 1963 kam Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ in die Kinos. Ein Film von bedrückender Aktualität. Denn er ist eine geniale Studie über unseren Umgang mit Katastrophen. Angesichts der schweigenden Bedrohung versagt unsere kommunikative Vernunft.

Tippi Hedren in Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Auf den ersten Blick ist es eine einfache Geschichte: In einer Vogelhandlung in San Francisco begegnen sich Melanie, Tochter eines Zeitungsmagnaten, und der Anwalt Mitch. Melanie und Mitch flirten miteinander. Unter dem Vorwand, Mitchs Schwester Cathy Vögel schenken zu wollen, fährt Melanie in das Küstenörtchen Bodega Bay, wo Mitch mit seiner Schwester und seiner Mutter wohnt. 

Im Hafen von Bodega Bay wird Melanie das erste Mal von einer Möwe attackiert. Ab dann häufen sich die Angriffe der Vögel, bis schließlich ganze Schwärme über die Menschen herfallen und auch das Haus von Mitch verwüsten. Schließlich müssen Melanie, Mitch, dessen Schwester und Mutter Bodega Bay verlassen: Die Rede ist von Alfred Hitchcocks „Die Vögel“. Vor 60 Jahren kam er in die Kinos. 

Man kann diesen Film als simplen Horrorstreifen verstehen. Aber damit täte man ihm unrecht. Tatsächlich sind „Die Vögel“ ein überaus komplexes Kunstwerk mit zahlreichen Bedeutungsebenen, überbordender Symbolik und entsprechend vielen Deutungsansätzen. 

Warum greifen die Vögel eigentlich an?

Die häufig übersehene, aber letztlich zentrale Frage lautet: Warum greifen die Vögel eigentlich an? Ein direkter Grund für die Attacken wird in den Film nicht genannt. Gleichwohl geben einige Personen Erklärungsversuche. Da ist zunächst die Ornithologin, die das Problem bestreitet, da Vögel nicht geplant angreifen könnten. Ein stark alkoholisierter Mann verkündet das Nahen der Apokalypse und vermutet hinter den Vogelangriffen die Strafe Gottes. Und als Mitch und Melanie Schutz in dem Restaurant suchen, in dem Gäste und Einwohner über das rätselhafte Verhalten der Vögel diskutieren, identifiziert eine hysterische Mutter Melanie als Auslöser allen Unglücks: Erst mit ihrem Eintreffen hätten die Angriffe begonnen. 

Was Hitchcock dem Zuschauer hier bietet, ist eine Analyse von menschlichem Verhalten in Krisensituationen. Die einen leugnen das Problem mit rational anmutenden Argumenten, die anderen flüchten sich in fundamentalistische Religiosität, wieder andere beschuldigen das Fremde und Unbekannte als Ursache allen Übels. 

 

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Nun wäre Hitchcock nicht Hitchcock, wenn er nur diese Deutungsebene anbieten würde. Wie immer bei ihm geht es natürlich auch um Erotik. Da ist das verdrehte doppeldeutige Gespräch von Mitch und Melanie zu Beginn des Films. Da ist das ödipale Verhältnis Mitchs zu seiner Mutter Lydia, die schon Mitchs Exfreundin Annie vergraulte und Melanie erschreckend ähnlich sieht. Und da ist das homoerotische Funkeln zwischen Annie und Melanie, die zueinander viel besser passen als das Muttersöhnchen Mitch. Die Vögel sind auch ein Symbol eskalierender erotischer Spannungen. 

Doch im Zentrum des Films steht die Katastrophe selbst und unser Umgang mit ihr, unsere Kommunikation. Auffallend ist zunächst die Präsenz von Telefonen. Laufend wird telefoniert, was allerdings nicht zu einer Verbesserung der Verständigung beiträgt. Dass die Vögel schließlich sogar eine Telefonzelle zerstören, in der Melanie Schutz gesucht hat, ist kein Zufall. 

Katastrophen entziehen sich jeder Rationalität

Aber auch ohne Telefon reden laufend alle aneinander vorbei. Melanies Vater glaubt den Schilderungen seiner Tochter nicht. In Mitchs Elternhaus herrscht Verlogenheit. Die Diskussion im Restaurant ist geprägt von reiner Irrationalität. Die Idee einer kommunikativen Vernunft, sie wird von Hitchcock ad absurdum geführt. 

Besonders drastisch wird dieses Versagen kommunikativen Handelns gegenüber den Auslösern der Katastrophe: den Vögeln. Denn mit Vögeln kann man nicht reden. Vögel krächzen, schreien oder zwitschern, sie sprechen aber nicht. Die Vögel sind die schweigende Bedrohung schlechthin. Man kann sie nicht argumentativ überzeugen oder rational mit ihnen diskutieren. Im Grunde ist nicht einmal klar, was genau sie eigentlich bezwecken außer Tod und Zerstörung. 

Und so stehen die Vögel für das Katastrophische schlechthin. Doch mit Katastrophen kann man nicht verhandeln. Nicht einmal, wenn Menschen sie auslösen. Katastrophen entziehen sich jeder Rationalität. Das ist das Katastrophische an ihnen. 

Da es keine Lösung gibt, sucht man einen Schuldigen

Nicht nur in diesem Sinne sind „Die Vögel“ der Film für unsere Gegenwart. Israel, Ukraine, Taiwan, Mali, Migrationsströme, Klimawandel: Wie ein Schwarm krächzender Vögel senken sich die Krisen und Katastrophen über uns und offenbaren unsere Hilflosigkeit. 

Uns umschleicht das dumpfe Gefühl der Bedrohung, ohne dass wir ihm wirklich etwas entgegensetzen könnten. Wie die Vögel funktionieren die Krisen nach ihrer eigenen Logik, die sich letztlich jeder Sprache entzieht. 

Auf diese Sprachlosigkeit reagieren die Meschen mit kommunikativer Kakophonie. Da es keine Lösung gibt, sucht man zumindest einen Schuldigen. Jeder Versuch, der Katastrophe zu entgehen, scheitert. Man kann sich nicht verbarrikadieren. Schutzräume sind Illusionen. Die Katastrophe erweist sich als letztlich unbeherrschbar. An Ende des Films schauen Melanie, Mitch, Cathy und Lydia zurück auf ihr verwüstetes Haus und die seltsam friedlichen Vögel. Froh, den Ort des Unheils verlassen zu können. Die beiden Sperlingspapageien im Käfig haben sie dabei. 

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