100 Jahre Radio in Deutschland - Innere Bilder gegen die Bilderflut da draußen

Vor genau 100 Jahren ging in Berlin der erste deutsche Radiosender, die „Funk-Stunde Berlin“, in Betrieb. Damit begann eine Medienrevolution ungeheuren Ausmaßes, die bis heute anhält und mit dem Podcast noch einmal eine ungeahnte Renaissance erlebt hat.

Drehen, bis Radio Luxemburg kommt: Musikmöbel aus den Wirtschaftswunderjahren / dpa
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Voxhaus auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig.“ – So begann vor 100 Jahren, am 29. Oktober 1923 um 20 Uhr, in Deutschland das Radiozeitalter. Der Sprecher war Friedrich Georg Knöpfke, der Direktor der für die Sendung verantwortlichen Radio-Stunde AG. 

So bedeutend dieser Moment für die Mediengeschichte war, die erste Radiosendung in Deutschland hatte drei Jahre zuvor stattgefunden. Am 22. Dezember 1920 begann mit der Ansage „Achtung, Achtung – hier ist Königs-Wusterhausen auf Welle 2700“ die erste Testsendung der Reichspost. Das „Programm“ bestand im Wesentlichen in musizierenden und singenden Postbeamten. 

Das Prinzip live Vorgetragenes in den Äther zu schicken, behielt man zunächst bei. Auch an besagtem 29. Oktober 1929. Der damals bekannte und beliebte Cellist Otto Urack spielte das Andantino von Fritz Kreisler und die Träumereien von Schumann, der Geiger Rudolf Deman Stücke für Solo-Violine, und der Tenor Alfred Wilde trug ein paar Arien vor. Zwischendurch wurden Grammophonplatten eingespielt. 

Zwei Tage später, am 31. Oktober, wurde das erste Radiogerät in Deutschland offiziell angemeldet – durch den Tabakhändler Wilhelm Kollhoff in Berlin-Moabit. 350 Milliarden Mark kostete Kollhoff die Anmeldung. Dagegen ist der heutige Rundfunkbeitrag vergleichsweise bescheiden. Man muss allerdings auch darauf hinweisen, dass 1923 Hyperinflation herrschte

Seine größte Zeit erlebte das Radio in der Wirtschaftswunderzeit

Die wirtschaftliche Situation in Deutschland war auch der Grund dafür, dass man hierzulande bei der Entwicklung von Radioinfrastruktur deutlich hinterherhinkte. Schon 1920 hatte in Pittsburgh (USA) die erste kommerzielle Radiostation ihren Betrieb aufgenommen. Auch in Frankreich, England und der Schweiz gab es schon Radiosender. 

In Deutschland holte man allerdings schnell auf. Schon ein halbes Jahr nach der ersten Radiosendung gab es in Berlin über 7000 Hörer. Danach nahmen Sender auch außerhalb der Reichshauptstadt den Dienst auf. Im Sommer 1924 gab es schon fast 100.000 private Radiogeräte. Und schon im Dezember 1924, gerade einmal 14 Monate nach der ersten Radiosendung, eröffnete die erste Berliner Rundfunkmesse. Ende 1925 gab es dann nahezu eine Million Hörer in Deutschland, Ende 1932 etwa vier Millionen. Die Propagandaarbeit der Nationalsozialisten und das Lancieren eines vergleichsweise günstigen „Volksempfängers“ katapultierten dann die Zahl der Zuhörer in Deutschland auf 12 Millionen Mitte 1939. 

 

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Seine vielleicht größte Zeit erlebte das Radio in den frühen Wirtschaftswunderjahren, als sich die Familie jeden Abend vor dem Empfänger versammelte, um Hörspiele, Konzerte oder Sportübertragungen zu hören. Die berühmten Worte „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. – Rahn schießt! – Toooor!“, gesprochen von Herbert Zimmermann 1954 in Bern, erlebten Millionen an Radiogeräten. Fernsehgeräte gab es in Deutschland in diesem Sommer etwa 41.000. 

Der Siegeszug des Fernsehens als das Massenmedium war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aufzuhalten und hat seitdem unsere Vorstellung von der Welt und damit uns selbst erheblich verändert. Bilder sind mächtig. Und noch mächtiger sind bunter Bilder, die sich bewegen. Entsprechend wurde dem Radio mehrfach sein baldiger Niedergang prophezeit. 

Die Liebe zum Radio ist ungebrochen

1979 schließlich sangen The Buggles „Video killed the Radio Star“. Und ihre Diagnose klang durchaus plausibel. „In my mind and in my car, we can’t rewind we’ve gone too far, pictures came and broke your heart, put the blame on VCR“. 

Doch das Radio überlebte nicht nur VCR, MTV und VIVA. Es überlebte sogar den noch viel härteren Angriff der Streamingdienste. Denn wozu sich ein lineares Programm anhören, wenn jeder sein eigener Radioredakteur sein kann – könnte man zumindest meinen. 

Doch die Liebe zum Radio ist ungebrochen. Rund 32 Millionen Menschen in Deutschland hören täglich Radio: in der Küche, im Bad, im Auto. Das Angebot reicht dabei von Retorten-Popmusik über anspruchsvollen Indie-Pop bis zu Klassik, avantgardistischen Hörspielen und den wunderbaren langen Nächten des DLF.  

Und mit dem Podcast erlebt sogar ein Format eine Renaissance, das noch vor wenigen Jahren für tot galt: das einfache, schnörkellose und ausführliche Radiogespräch.

Der Mensch ist ein Augentier, heißt es. Aber eben deswegen hat das Radio eine so große Bedeutung. In der Zeit der visuellen Reizüberflutung erlaubt es uns eine innere Reinigung, in dem es hilft, die äußeren Bilder zu überschreiben, und unsere eigenen, inneren Bilder freisetzt – Erinnerungen anlässlich eines Radio-Songs, Träumereien bei einem Konzert, das innere Kino bei einem Hörspiel oder einem Feature. Fernsehen braucht, ehrlich gesagt, kein Mensch. Doch ohne Radio wäre die Welt trauriger, trister und ärmer. 

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