100 Jahre Nationalhymne  - Die Würde der Uneindeutigkeit 

Vor 100 Jahren, am 11. August 1922, erklärte Reichspräsident Friedrich Ebert das „Lied der Deutschen“ zur deutschen Nationalhymne. Weder bei Linken noch bei Rechten war sie je besonders beliebt. Dafür ist sie zu mehrdeutig. Aber genau darin liegt ihre Größe und Würde. 

Fallersleben-Büste auf Helgoland, wo der Dichter sein „Lied der Deutschen“ schrieb / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Was für ein Gemurkse. Es geht schon damit los, dass die deutsche Nationalhymne rechtlich gesehen gar nicht die deutsche Nationalhymne ist. Zumindest ist die Nationalhymne, anders als die Bundesflagge, nicht grundgesetzlich geregelt. Auch ein formelles Gesetz gibt es nicht. Es gilt das Gewohnheitsrecht. Zudem ist der Liedtext der Hymne verstümmelt. Lediglich die dritte Strophe wird gesungen. Die Melodie dazu stammt eigentlich aus einer anderen Hymne, einer österreichischen: „Gott erhalte Franz den Kaiser“. Linke mochten die Hymne nie, weil sie ihnen als zu rechts galt. Rechte mochten sie nicht, weil sie ihnen als zu links galt. Und den Liberalen war sie irgendwie egal. 

Der Dichter, Hoffmann von Fallersleben (eigentlich August Heinrich Hoffmann), besingt in ihr ein Deutschland, das es lediglich im Geist, in der Sprache und in der Sehnsucht gibt, weshalb es ihm „über alles“ ist. Chauvinisten missverstanden das chauvinistisch und fieberten von deutscher Weltherrschaft. Die extreme Linke verstand es ebenfalls chauvinistisch und wollte das Lied daher verdammen. In neulinken Kreisen hat sich dieses Ressentiment gehalten. Und das nicht nur wegen der ersten Strophe. Immerhin besingt die zweite „deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang“ – aus Sicht progressiver Gemüter ein Sakrileg. 

Nein, das Schicksal hat es nicht gut gemeint mit dem „Lied der Deutschen“. Irgendwie war von Anfang an der Wurm drin. Was erstaunlich ist, da das Lied eigentlich, unvoreingenommen betrachtet, recht bieder daherkommt. Aber vielleicht war das schon das Problem. Etwas mehr Pulverdampf, Blut und Revolutionsaura hätten der Hymne mehr Strahlkraft verliehen. Im Vergleich zur eher blutrünstigen Marseillaise etwa klingt eine Zeile wie „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand“ doch arg nach Zipfelmütze. 

Die Nazis konnten sich für das „Lied der Deutschen“ nie erwärmen

Wo jedoch von Blut keine Rede ist, kann man in blutrünstigen Zeiten welches dazu dichten. Also gefiel es der Obersten Heeresleitung im November 1914, den Mythos von Langemarck zu erfinden, wonach „junge deutsche Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen“ vorgingen, wie es im Kommuniqué der OHL hieß. 

Dass an dem Bericht so gut wie gar nichts stimmte, nicht einmal der Ort, konnte nicht verhindern, dass Fallerslebens brave Zeilen nun endgültig den Beigeschmack von Größenwahn hatten. 

Allerdings konnten sich die Nationalsozialisten für das „Lied der Deutschen“ dennoch nie erwärmen. Sie hatten instinktiv verstanden, dass das Lied zutiefst friedlich ist. Und die Melodie Joseph Haydns eignet auch nicht wirklich zu martialischen Aufmärschen, sondern kommt eher melancholisch, besinnlich daher. 

 

Mehr aus der „Grauzone“:

 

Als man nach dem Krieg eine Hymne für die soeben aus den drei Westzonen zusammengestellte Bundesrepublik suchte, war die Verlegenheit groß. Sollte es eine ganz neue Hymne sein? Bundespräsident Heuss schlug das 1950 von dem Dichter Rudolf Alexander Schröder verfasste Lied „Land des Glaubens, deutsches Land“ vor: „Land der Väter und der Erben, uns im Leben und im Sterben Haus und Herberg, Trost und Pfand, seid den Toten zum Gedächtnis, den Lebend’gen zum Vermächtnis, freudig vor der Welt bekannt, Land des Glaubens, deutsches Land“. 

Das war dem Katholiken Adenauer zu protestantisch. Auch die von Linken immer gern ins Spiel gebrachte Kinderhymne von Brecht („Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand“) war nicht vermittelbar, zumal der Beginn der zweiten Strophe („dass die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin“) nicht sehr hymnenartig daherkommt. 

Adenauer wurde in den USA mit „Heidewitzka, Herr Kapitän“ empfangen

In der Zwischenzeit hatte die DDR mit der Hymne von Johannes R. Becher („Auferstanden aus Ruinen“) vorgelegt. Sowohl textlich als auch musikalische (Hanns Eisler) wäre die Becher-Hymne eigentlich die ideale Lösung gewesen („Glück und Friede sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, reicht den Völkern eure Hand“), doch war das als DDR-Hymne wahrgenommene Stück nach 1989 nicht gesamtdeutsch vermittelbar. 

Adenauer, einerseits von bodenständigem Pragmatismus, andererseits um die Sehnsucht nach Kontinuität wissend, drängte Heuss, das „Lied der Deutschen“ zur Nationalhymne zu erklären. Man einigte sich schließlich auf die dritte Strophe. Bis sich diese Lösung durchsetzte, dauerte es jedoch einige Zeit. Als Adenauer 1953, also im Jahr nach der Hymnenfestlegung, die USA besuchte, wurde er in Chicago noch mit dem Karnevalsschlager „Heidewitzka, Herr Kapitän“ empfangen. Der Kölner war nicht amüsiert. 

Als Friedrich Ebert vor 100 Jahren, im August 1922, das „Lied der Deutschen“ als Nationalhymne des republikanischen Deutschlands festlegte, bewies er ein feines Gespür für die Brüche und Unwägbarkeiten der deutschen Geschichte und ihrer Symbole. Es ist gerade seine Ambivalenz, das historisch Gewordene und damit auch Missverständliche, das Fallerslebens Lied so wertvoll macht. Würde bekommt eine Hymne, zumal eine deutsche Hymne, nicht durch auftrumpfende Eindeutigkeit in die eine oder andere Richtung, sondern durch ihre Deutbarkeit, ihre Ambivalenz. Zusammen mit der melancholischen und nachdenklichen Melodie Haydns ist das „Lied der Deutschen“ daher gerade in seiner Vielschichtigkeit die einzig würdige Nationalhymne Deutschlands. Wir können Friedrich Ebert noch heute dankbar für diese Entscheidung sein. 

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