„Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik“ - Die FDP ist endlich aufgewacht

Es klingt wie eine Kampfansage von Christian Lindner an die eigenen Koalitionspartner: Schluss mit immer mehr Umverteilung, Schluss mit der erratischen Energiepolitik, Schluss mit „Doppel-Wumms“ und fehlgeleiteter Migration. Der Bundesfinanzminister wagt den Befreiungsschlag. Doch an seiner liberalen Agenda wird sich er sich künftig auch messen lassen müssen. Kann das funktionieren?

Die Drei von der Baustelle: Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner eröffnen das neue LNG-Terminal in Wilhelmshaven / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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2022 war ein desaströses Jahr für Deutschland. Die toxische Hinterlassenschaft von 16 bräsigen Merkel-Jahren offenbarte sich in voller Pracht vor dem Hintergrund zweier Großkrisen: dem Ukrainekrieg und der damit (teilweise, aber nicht vollständig) verbundenen Energieknappheit. Die Bundesrepublik ist in praktisch sämtlichen Bereichen denkbar schlecht gerüstet für jene „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz nur wenige Tage nach der russischen Invasion der Ukraine zwar benannte – ohne damit jedoch einen nachhaltigen Effekt erzeugt zu haben. 

Seine Rede vom 27. Februar, in der er vor dem Bundestag erklärte, „die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, offenbarte schon mit diesem zentralen Satz jene deutsche Illusion, wonach eigentlich alles beim Alten geblieben wäre, hätte es keinen Angriffskrieg auf europäischem Boden gegeben. Was natürlich Quatsch ist, weil die Welt sich auch so ständig weiterdreht – ob es der Berliner Blase passt oder nicht. Aber immerhin, das Signal war gesetzt. Zehn Monate später bleibt jedoch festzustellen: Die Träger bundespolitischer Verantwortung würden am liebsten immer noch weiterwursteln wie zu Zeiten Angela Merkels. Fahren auf Sicht, es wird schon irgendwie gutgehen.

Deutschland als Baustelle ohne Baufortschritt

Deutschland präsentiert sich im ausgehenden Annus horribilis als eine Baustelle – was ermutigend sein könnte, wenn dort ersichtlich gearbeitet würde. Jedoch wirkt diese deutsche Baustelle wie einer der vielen Straßenabschnitte in unserer heruntergerockten Hauptstadt: seit Monaten, wenn nicht seit Jahren behelfsmäßig abgesperrt, aufgerissener Belag, mit einer provisorischen Ampelschaltung umfriedet – jedoch ohne erkennbaren Fortschritt. Die Simulation von Aufbruch, als Arbeit inszenierter Stillstand. Besucher aus dem Ausland – und mittlerweile auch immer mehr der zu Langmut neigenden Bundesbürger – wundern sich darüber, was alles nicht mehr funktioniert in dieser Nation, in der wir angeblich doch so „gut und gerne leben“: marode Infrastruktur, eine ihren basalen Anforderungen nicht mehr gewachsene Deutsche Bahn, groteske Bürokratie statt einer schlanken öffentlichen Verwaltung, Digitalisierung auf dem Niveau eines Entwicklungslandes, Lieferengpässe, Inflation, ungeregelte Massenmigration, Fachkräftemangel. Und so weiter und so fort. Vom Energiewende-Desaster und der nicht einsatzfähigen Bundeswehr ganz zu schweigen.

„Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand sichern“: Auch dieser Satz stammt aus Scholzens Zeitenwende-Rede. Unterfüttert wurde er bisher vor allem durch allerlei symbolpolitische, in infantiles Wording gekleidete Ersatzhandlungen wie den „Doppel-Wumms“, welche anhand großangelegter Umverteilungsmaßnahmen von den eigentlichen, den strukturellen Problemen „made in Germany“ ablenken sollen. Zum Beispiel von der Tatsache, dass wir uns als Industrienation auf absehbare Zeit nicht auf regenerative Energien werden verlassen können; dass wir als alternde Gesellschaft brutal innovativ sein müssen, anstatt Debatten über ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger Frühverrentung zu führen; dass wir – Wohlstandswahrung als Ziel natürlich vorausgesetzt – nicht so tun können, als wäre die Bundesrepublik als Wirtschaftsstandort so etwas wie ein Naturgesetz. Dass sich eine funktionierende, lebhafte Demokratie nicht auf dem Wege eines sogenannten Demokratiefördergesetzes mit permanent anschwellendem Geldstrom für Hundertschaften selbstgefälliger, oftmals nichtsnutziger NGOs erkaufen lässt. Und dass im Übrigen auch der praktisch sämtliches politisches Handeln überlagernde Klimaschutz überhaupt nur funktionieren kann, wenn er nicht gleichzeitig als ubiquitärer Vorwand für sozialistische Utopien herhalten muss, sondern gekoppelt ist an technologisches Wachstum und an gesellschaftlichen Wohlstand.

Wolkenkuckucksheim mit bunten Wänden

Wenn eine Koalition wie die der Ampel-Parteien sich schon auf eine Agenda unter dem hochtrabenden Titel „Mehr Fortschritt wagen“ verständigt, müssten die oben genannten Rahmenbedingungen eigentlich selbstverständliche Grundlage sein, sofern „Fortschritt“ nicht als Streben nach grünen Wolkenkuckucksheimen mit regenbogenbuntem Wandanstrich, Vollpensionsmentalität und allmorgendlicher Andacht staatlich alimentierter Priester der neuen deutschen Hochmoral verstanden wird. Aber so ist es eben nicht. Insbesondere die grünerleuchteten Ampel-Koalitionäre scheinen die „Zeitenwende“ als Signal dafür missverstanden zu haben, jetzt erst recht mit Volldampf all das zu verwirklichen, was die unselige Langzeit-Kanzlerin mit ihrer untrüglichen Witterung für den grünen Zeitgeist aus blankem Opportunismus in die Wege geleitet hat: raus aus der Kernenergie, raus aus einer grenzbewehrten Staatlichkeit, raus aus einer den Maßgaben von Produktivität und Demografie folgenden Renten- und Sozialpolitik. Raus eigentlich aus allem, was zu tun hat mit Vernunft, Ratio und Respekt vor dem, was den wohl allermeisten Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes als „normal“ erscheint.

Das aktuelle Revival der Kohleverstromung und der übers Knie gebrochene Bau von LNG-Terminals ist aus grüner Perspektive zwar mit heftigen Störgefühlen verbunden, wird aber keinesfalls als Kollateralschaden der eigenen Ideologie wahrgenommen. „Natürlich geht es mir wie wohl den meisten Menschen im Land: Ich finde Winter schön, wenn er kalt ist“, ließ Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck soeben verlauten. Und fügte hinzu: „Aber ich will zugeben, dass ich in diesem Jahr durchaus froh bin, wenn es im Winter nicht so knackig kalt wird.“ Versorgungssicherheit je nach Wetterlage: Da wird der Fortschritt wahrlich zum Wagnis.

Die FDP in der Ampel-Falle

Dass die FDP in diesem denkwürdigen Fortschritts-Bündnis eher wenig zu gewinnen haben würde, war absehbar. Umfragen zufolge steht sie derzeit zwischen 6 und 8 Prozent – und damit deutlich hinter dem Ergebnis der zurückliegenden Bundestagswahl (11,5 Prozent). Was nicht daran liegt, dass die Liberalen in der Regierung schlechte Arbeit leisten würden. Denn das tun sie keineswegs.

Aber ihrer Wählerschaft haben sie ihre Rolle innerhalb der Koalition bisher vor allem damit schmackhaft zu machen versucht, noch mehr rot-grünen Ökosozialpopulismus verhindert zu haben. Zum Beispiel in Sachen Streckbetrieb der letzten im Betrieb verbliebenen deutschen Kernkraftwerke, die nach dem Willen der Grünen zum Jahreswechsel eigentlich vom Netz genommen worden wären. Doch das Verhindern irrwitziger Pläne ist eben noch kein souveränes Gestalten, und dass die FDP insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Medien als gewissenloser Bremser dargestellt wird (während man an gleicher Stelle die Grünen verhätschelt wie die kinderlose Tante ihre kleinen tollpatschigen Neffen), ist dem Renommee der Lindner-Truppe auch nicht gerade zuträglich.

Insofern war klar, dass der Bundesfinanzminister irgendwann einen Aufschlag würde machen müssen. Der ist jetzt erfolgt – und firmiert in Anlehnung an das Diktum von Olaf Scholz unter „Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik“. Tatsächlich geht es Christian Lindner ums Ganze: „Nach einem Jahrzehnt der Verteilungspolitik und der Nachfragestärkung müssen wir eine ordnungspolitische Trendwende zur Angebotspolitik wagen“, heißt es im liberalen Zeitenwende-Papier. Trotz aller Anstrengungen würden die Energiekosten auch in Zukunft höher bleiben als in den vergangenen Jahren – was dazu führe, dass die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen unter Druck stehe und Arbeitsplätze nicht länger gesichert seien.

„Steuerpolitische Brandmauer“ und Investitionsprämien

Konkrete Forderungen aus dem Lindner-Haus: eine „steuerpolitische Brandmauer“, Investitionsprämien, Arbeitszeitflexibilisierung, Stärkung der Arbeitsanreize bei Transferleistungen, qualifizierte Zuwanderung, ein Freihandelsabkommen mit den USA, Aufhebung des deutschen Fracking-Verbots – sowie ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke über April 2023 hinaus. Und noch eine Kröte für die beiden Koalitionspartner hat der Finanzminister auf dem Zettel stehen: Leistungsausweitungen bei den Sozialversicherungen müssten unterbleiben, „solange sie nicht dauerhaft ohne steigende Beiträge oder Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt finanziert werden können“.

Das ist tatsächlich FDP in Reinkultur – und insofern eine Kampfansage an die SPD (den Bundeskanzler selbst wahrscheinlich ausgenommen) und an die Grünen. Aber die „Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik“ ist aus zwei Gründen überfällig. Erstens dient sie der Profilierung der unter Glaubwürdigkeitsschwund leidenden FDP. Und zweitens, noch viel wichtiger: Der bundesrepublikanische Wohlstand kann nur dann – zumindest halbwegs – erhalten bleiben, wenn die Gesetze der Ökonomie nicht noch länger ignoriert werden.

Das Problem ist nur: Wenn Christian Lindner sein Programm nicht bloß als Hilferuf verstanden wissen will, wird er sich an ihm messen lassen müssen. Jetzt wird sich zeigen, ob auch der Rest der Ampel die Zeichen der Zeit verstanden hat. Sonst wird aus „Mehr Fortschritt wagen“ demnächst „Mehr Armut verwalten“. Und zwar ganz unabhängig von Wind und Wetter.

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