Stanford-Professor Ioannidis über die Corona-Pandemie - „Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich die Lockdown-Politik befürwortet habe“ (Teil 2)

Der renommierte Medizin-Professor John Ioannidis warnte angesichts mangelnder Daten und qualitativ schlechter Studien bereits in der frühen Phasen der Pandemie vor überstürzten politischen Entscheidungen. Im Interview mit Cicero kritisiert er, dass Influencer und Politiker den Takt der kollektiven Hysterie von Beginn an auf Kosten wissenschaftlicher Spielregeln vorgaben.

Zentrales Symbol der Corona-Pandemie: die FFP2-Maske / dpa
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Autoreninfo

Ernst Timur Diehn ist freier Journalist und Buchautor. Für seine politischen TV-Beiträge erhielt er internationale Auszeichnungen.

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John Ioannidis ist Professor für Medizin, Epidemiologie und biomedizinische Datenwissenschaft an der Stanford-University und gehört zu den zehn meistzitierten Wissenschaftlern der Welt. Als BIH-Gastprofessor an der Charité baut Ioannidis derzeit in Berlin das „Meta Research Innovation Center Berlin“ („METRIC B“) auf. Wir veröffentlichen das Gespräch in zwei Teilen.  Hier finden Sie den ersten Teil. 

Herr Ioannidis, Im März 2020 veröffentlichte das renommierte Imperial College eine Studie im ebenfalls renommierten Wissenschaftsmagazin Nature. Die vorgestellte Risikomodellierung diente als Hauptbegründung für die Lockdowns in Großbritannien und den USA. Auch Schweden wurde in der Studie anempfohlen, den Lockdown zu vollziehen. 

Ich rechne den Kollegen vom Imperial College hoch an, dass sie ihre Modelle online gestellt haben, so dass wir uns ihre Simulationen ansehen konnten. Daher wissen wir auch, dass die Modellierungen nicht das untermauern, was aus ihnen abgeleitet wurde, nämlich, dass Lockdowns Millionen von Leben retten würden. Das Imperial Modell, das am besten zu den eigentlichen Beobachtungen passte, zeigte keinen Nutzen von Lockdowns. Dieses Modell haben sie für ihre Studie aber nicht verwendet. 

Vielleicht suchte man unbewusst nach einem Modell, das am besten zu der eigenen Lagebeurteilung passte?

Kein Modell passt perfekt zu den Beobachtungen, sie haben alle Abweichungen. Deshalb muss vor allem der Einsatz von Algorithmen transparenter werden, denn sie sind komplexer geworden. Daten allein können generell nicht für sich selbst sprechen. Wie also wurden die Algorithmen kodiert? Welche Analyseschritte hat man hierzu unternommen? Wie wurden die Daten verarbeitet, verwaltet und ausgewertet? Je komplexer die Methoden, desto besser muss die Dokumentation sein. Nur so können wir Wissenschaftler uns untereinander sinnvolles Feedback geben: Kommt bei mir dasselbe heraus wie bei Ihnen? Oder erhalte ich ein anderes Signal? Die Dokumentation trägt zwar nicht viel zu dem eigentlichen Verständnis der Studie bei. Sie ist aber für die Überprüfung der Ergebnisse und damit für die Beweisführung unabdingbar.  

Ist deshalb Open Science – also die transparente und öffentliche Bereitstellung von Modellen und Daten – so wichtig und ein notwendiger Standard? 

Sicher. Viele Daten, die während der Pandemie ausschlaggebend waren, hat niemand je gesehen, außer den Menschen, die sie erhoben haben. Daten aus randomisierten Studien zum Beispiel. Grundsätzlich sollten alle klinischen Studien vorab registriert werden. Aber selbst bei randomisierten klinischen Studien werden wichtige Aspekte nicht dokumentiert. Zum Beispiel wird der statistische Analyseplan sehr selten registriert. Es heißt stattdessen: „Wir führen diese Studie durch, um klinische Verbesserungsmöglichkeiten zu untersuchen.“ Man füllt die Anmeldung aus, vergleicht Medikament x mit einem anderen. Aber wie genau sucht man nach Verbesserungen? 

Es gibt Dutzende von Suchansätzen und noch mehr Wege, jeden einzelnen dieser Ansätze zu analysieren. Man tastet sich sozusagen an „die Realität“ heran, richtig? 

Und wenn wir dabei vorab nicht genau definieren, was wir zum Beispiel mit „klinischer Verbesserung“ meinen und mit welchen Mitteln wir sie untersuchen wollen, stehen uns am Ende Tausende von Möglichkeiten offen, die Daten zu durchforsten und sie so lange zu malträtieren, bis wir das gewünschte Ergebnis erhalten.

Welche Fehler haben Sie persönlich in den aufwühlenden zurückliegenden Jahren gemacht?

Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich die Lockdown-Politik befürwortet habe. Ich habe sehr früh gesagt, dass ein harter Lockdown zumindest für Wochen sinnvoll ist, bis wir mehr über das Virus und seine Eigenschaften wissen. Sehr schnell wurde jedoch klar, dass jeder Versuch, eine Zero-Covid-Politik durchzusetzen, wenig Aussicht auf Erfolg haben würde. Da könnte man auch gleich versuchen, Moleküle in der Luft unbeweglich an ihrem Platz zu halten. Schier ein Ding der Unmöglichkeit ...

... wie wir in China seit mittlerweile drei Jahren beobachten. 

Lockdowns haben nicht etwa viele Leben gerettet, sondern eine Reihe von neuen Problemen geschaffen, die bis heute andauern. Sozial schwächere Menschen wurden mitten in der Krise allein gelassen. Die Behandlung von Krankheiten wie Krebs, Fettleibigkeit, Depressionen wurde marginalisiert, viele Probleme, die mit psychischer Gesundheit zu tun haben, verstärkt. Letztendlich haben wir Teile der Weltwirtschaft mit Lockdowns abgewürgt, und nun stellt die UNO fest, dass sich die Zahl der Hungernden weltweit nahezu verdoppelt hat – auf eine Milliarde Menschen. Haben Masken viel gebracht? Erste zwei randomisierte Studien haben nur minimale Effekte belegt. Sollen zum Beispiel kleine Kinder, bei denen das Risiko minimal ist, ständig Masken tragen? Mit großer Sicherheit lautet die Antwort hier: nein. 

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Was COVID-19 betrifft, wie ist unsere Situation jetzt – Ende 2022?

Es gibt immer Unwägbarkeiten, aber ich glaube, wir befinden uns in der endemischen Phase. Wir haben zwar keine vollständige, aber eine hohe Immunität durch Impfstoffe und natürliche Immunität, die sich summieren. Insgesamt rechnen wir mit fast 10 Milliarden Infektionen weltweit. Dabei hat sich etwa die Hälfte der Weltbevölkerung bis Ende 2021 mindestens einmal infiziert. An den meisten Orten endete die Pandemiephase etwa zu dem Zeitpunkt, als die erste Omikron-Welle auftrat. Der Großteil der anderen Hälfte durchlebte die Infektion wahrscheinlich im Jahr 2022, viele Menschen zwei- oder mehrmals. In New York City war dieser Punkt möglicherweise schon 2020 erreicht, weil sich dort ein sehr großer Teil der Bevölkerung früh infiziert hat. In Deutschland war es wahrscheinlich Ende 2021 soweit, in einigen anderen Ländern Anfang 2022. 

Endlich hat sich unsere Situation verbessert. Und mit der enormen Menge an Daten und den gewonnenen Erkenntnissen sind wir besser auf die nächste Pandemie vorbereitet – richtig? 

Wir wissen immer noch nicht, wie zuverlässig die Informationen sind, die wir haben. Qualitativ minderwertige Veröffentlichungen in großer Quantität sind aber nur eines von mehreren Problemen, denen sich das Wissenschaftssystem hier stellen sollte. Schon vor der Pandemie hatten wir mit voreingenommenen Schätzungen zu tun, hinzu kommen die Probleme bei der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in praktische Empfehlungen, vor allem die Unterbewertung des Nutzen-Schaden-Verhältnisses von Maßnahmen. 

John Ioannidis / Berlin Institute for Health

Was muss sich ändern, damit wir im Falle einer neuen Pandemie besser reagieren? 

Das Machtgefälle zwischen Pharmaunternehmen und unabhängigen Wissenschaftlern war bereits vor der Pandemie bekannt. Die Unternehmen hatten während der Pandemie klar die bessere Position, sowohl was die Unterstützung durch Politik und Medien, als auch was die ethische Wahrnehmung anging. Millionensummen flossen von Konzernen und Regierungen in die Taschen von Beratern, gefolgt von prestigeträchtigen Jobs und öffentlichem Lob. Gleichzeitig wurden einige unabhängige, pro bono arbeitende Wissenschaftler, die Narrative in Frage stellten, pauschal als befangen verleumdet.

Wachsame Regulierungsbehörden sind daher ebenso wichtig wie zu gewährleisten, dass freie Wissenschaftler, die Daten objektiv prüfen können. Stattdessen wurden Dinge überstürzt und Konzerne zu Rettern der Menschheit hochstilisiert. Wer deren Forschungsergebnisse in Frage stellte, machte sich, gelinde gesagt, verdächtig, selbst wenn Forscher dies in wissenschaftlichen Fachzeitschriften von Rang taten. Einige der besten Epidemiologen und Gesundheitspolitiker Amerikas wurden als ahnungslos und gefährlich verleumdet, und das von Personen, die selbst keine fundierte Ausbildung zu den fraglichen Methoden und Daten hatten. So verbreitete sich ein Narrativ, das zwar nicht völlig falsch, aber doch weitgehend falsch war.

Was müssen wir also erreichen, um uns besser auf die nächste Pandemie vorzubereiten?

Wir brauchen immer noch bessere, gesicherte Daten. Diese gewinnt man mittels randomisierter Kontrollstudien mit einer größeren und diverseren Teilnehmerzahl, einer längeren Nachbeobachtungszeit und einer detaillierteren Datenerfassung. Wir brauchen diese Daten, um zu erkennen, was passiert, wenn wir den einen oder einen anderen Weg einschlagen. Es ist sehr bedauerlich, dass wir das immer noch nicht tun. Was gerade stattfindet, sind randomisierte Studien mit relativ kleinen Stichproben. Die Validität der Ergebnisse sieht gut aus. Und ich möchte glauben, dass sie gut sind. 

Ich unterstütze auch nach wie vor den Ansatz, zu Beginn einer neuen Pandemie intensive Tests durchzuführen. Wir müssen aber schon sehr genau wissen, welchen Nutzen einzelne Maßnahmen haben werden. Was können wir gewinnen? Und was steht auf dem Spiel? Welchen Preis müssen wir bereit sein, für die Maßnahme zu zahlen? In Bezug auf unsere Ressourcen, auf unsere Finanzen, aber auch in Bezug auf alle anderen Anforderungen, die ein Gesundheitssystem auf gute Art zu leisten hat. 

Das Gespräch führte Ernst Timur Diehn.

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