Versteckter Sprengstoff - Warum ein zweiter Blick in den Evaluationsbericht zur Pandemiepolitik lohnt

Zu wenig Zeit, zu wenig Daten, zu wenig Unterstützung – dieses Klagelied dominiert weite Teile des Evaluationsberichts zur Corona-Politik der vergangenen zweieinhalb Jahre. Wenn man aber genauer hinschaut, enthält der Evaluationsreport politischen Sprengstoff, der die zukünftige Corona-Politik prägen könnte und müsste. Zum Beispiel mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht: Die Urteile des Karlsruher Gerichts zur Bundesnotbremse waren demnach klare Fehlentscheidungen.

Zu wenig Zeit, zu wenig Daten, zu wenig Unterstützung: Wie sehr haben die politisch Verantwortlichen in der Corona-Pandemie versagt? / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

So erreichen Sie Volker Boehme-Neßler:

Anzeige

Vernünftige Politik orientiert sich an der Wirklichkeit. Sie nimmt die Wirklichkeit zur Kenntnis. Sie reagiert auf reale Probleme und versucht, die Realität zu gestalten. Das unterscheidet sie von ideologischer Politik, der es darum geht, der Realität eine unveränderliche Weltsicht aufzuzwingen. Schon 1981 hat der Journalist Peter Bender das Ende des ideologischen Zeitalters ausgerufen. Dass das viel zu optimistisch war, zeigt sich immer wieder.

Vernünftige Realpolitik ist nichts Neues. Sie gibt es schon seit Jahrtausenden. Moderne Politiker gehen aber noch einen Schritt weiter. Sie betonen nicht selten, dass sie auch aktuelle Erkenntnisse der Wissenschaft in praktische Politik umsetzen wollen. Kein Wunder, dass die wissenschaftliche Politikberatung boomt. Aber funktioniert dieser Ansatz? Der Evaluationsbericht zur Pandemiepolitik, der kürzlich von einer Expertenkommission vorgelegt wurde, und der Umgang der Politik damit, lassen daran zweifeln.

Wissenschaftsbasierte Pandemiepolitik?

Die Pandemiepolitik sollte – das hatte man sich vorgenommen – wissenschaftsbasiert sein. Follow the Science, hieß das Zauberwort. Das war vernünftig. Immerhin war die ganze Welt mit einem völlig unbekannten, gefährlichen Virus konfrontiert. Man wusste wenig bis nichts darüber, wie man SarsCoV-2 bekämpfen konnte. Letztlich gab es keine Alternative zum Trial and Error-Verfahren. Das ist die bewährte Methode, Probleme in undurchsichtigen Situationen ohne sichere Daten-und Informationsgrundlage zu lösen. Und das ist letztlich angewandte Wissenschaft.

 

Mehr zum Thema:

 

Zur angewandten Wissenschaft gehört zwingend die Evaluation. Wenn man etwas ausprobiert, muss man beobachten und analysieren, ob und wie es gewirkt hat. Hat eine Therapie gut gewirkt, wird sie weiter angewandt und fortentwickelt. Ist eine Maßnahme aber unwirksam oder schädlich, wird sie schnellstmöglich beendet. Wissenschaftliche Erkenntnis kann auch darin bestehen, dass ein Gedanke, eine Theorie, ein Konzept falsch, unwirksam und schädlich ist.

Wissenschaftliche Evaluation

Vor diesem Hintergrund war es konsequent, dass der Bundestag eine Evaluationspflicht für alle pandemiepolitischen Maßnahmen ins Infektionsschutzgesetz geschrieben hat. Eine Sachverständigenkommission sollte alle pandemiepolitischen Maßnahmen im Nachhinein analysieren und ihre Wirksamkeit bewerten. Das wäre auch für die Zukunft der Pandemiebekämpfung wichtig: Wir müssen wissen, welche Instrumente welche Wirkungen haben, damit wir auf die nächsten Epidemien und Pandemien angemessen reagieren können.

Die Frage nach der Wirksamkeit der Pandemiepolitik ist nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich relevant. Die meisten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sind nämlich gleichzeitig tiefe Eingriffe in verfassungsrechtlich verbürgte Freiheiten der Menschen. Eine Quarantäneanordnung, die 2 G-Regel oder eine Ausgangssperre sind nicht nur technische Instrumente, um eine Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Sie sind gleichzeitig harte Eingriffe in zahlreiche Grundrechte unzähliger Bürger.

Selbstverständlich erlaubt die deutsche Verfassung Freiheitsbeschränkungen nur, wenn sie sinnvoll und effektiv sind. Die staatlichen Maßnahmen der Corona-Zeit, die nicht wirksam waren, waren deshalb verfassungswidrige Grundrechtseingriffe. Auch darüber sollte die Sachverständigenkommission berichten. Diese Erwartungen hat der Evaluationsbericht nicht erfüllt. Er ist insgesamt zwiespältig ausgefallen.

Angstklauseln im Report

An zu vielen Stellen des Berichts heißt es, eine endgültige Bewertung sei sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Begründung: Es gebe zu wenig Daten. Die Begründung ist nicht völlig falsch, aber trotzdem irritierend. Denn die Experten stützen sich bei ihren Urteilen keineswegs immer auf alle Studien und Erkenntnisse, die greifbar sind. Sie wählen aus, aber die Auswahl wirkt manchmal unsystematisch, wenn nicht willkürlich.

Auch kommunikativ ist der Report völlig misslungen. Im gesamten Bericht wimmelt es von „Angstklauseln“. Die Autoren relativieren ihre Ergebnisse von vornherein und immer wieder. Sie schreiben: In vielen Bereichen hätten sie nicht die Möglichkeit, klare Aussagen zu treffen. Zu wenig Zeit, zu wenig Daten, zu wenig Unterstützung – dieses Klagelied dominiert weite Teile des Berichts. Die Kommission wertet ihren eigenen Report ab. Warum tut sie das?

Es ist die typische Art und Weise von Wissenschaftlern. Sie sind vorsichtig und relativieren. Dahinter steckt eine diffuse Angst. Sie wollen um jeden Preis vermeiden, dass man ihnen einen Fehler ankreidet. Wer keine eindeutigen Aussagen macht und alles einschränkt, sagt auch nichts Falsches, das man kritiseren könnte. Viele Einschränkungen und Relativierungen schützen vor Vorwürfen. Das ist in diesem Fall fatal. Denn wer nimmt einen Bericht ernst, der sich selbst immer wieder relativiert? Und der Bericht der Kommission hätte verdient, dass man ihn ernst nimmt. Denn: Wenn man genauer hinschaut, enthält der Evaluationsreport politischen Sprengstoff, der die zukünftige Corona-Politik prägen könnte – und müsste. Drei Beispiele belegen das.

Kein gutes Haar an der Risikokommunikation

Den Lockdowns stellt die Kommission ein vernichtendes Zeugnis aus. Sie wirken höchstens am Anfang einer Pandemie, und sie haben viele unerwünschte Nebenwirkungen. Ähnlich verheerend urteilen sie über die 2G/3G-Maßnahmen. Ihre Wirkung halten sie für „eher gering“. Das ist eine heftige Ohrfeige für die Merkel-Regierung und die Bundesländer, die solche harten Maßnahmen über Wochen verhängt hatten. Erfreulich deutlich beurteilt der Report die Risikokommunikation des Staates während der Pandemie.

Die Experten lassen kein gutes Haar an ihr. Sie kritisieren die mangelhafte und intransparente Top-down-Kommunikation der Bundesregierung und der Länder. Besonders bemerkenswert: Die Sachverständigen betonen, dass eine erfolgreiche Pandemiebewältigung ohne einen offenen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten langfristig nur schwer denkbar ist. Das ist eine bemerkenswert klare Kritik an den öffentlichen Debatten in der Corona-Zeit. Sie waren intolerant, geprägt von Lagerbildung und Ausgrenzung. Ein unrühmlicher Höhepunkt war etwa die böse – und sachlich völlig falsche – Erzählung von der „Pandemie der Ungeimpften“.

Und das Verfassungsrecht?

Deutschland ist ein Rechts- und Verfassungsstaat. Deshalb ist die Frage wichtig: Waren die pandemiepolitischen Maßnahmen mit der deutschen Verfassung zu vereinbaren? In seinen Entscheidungen zur Bundesnotbremse vom November 2021 hatte das Bundesverfassungsgericht Lockdowns, Schulschließungen und alle anderen harten Freiheitseinschränkungen pauschal als wirksam und verfassungsrechtlich zulässig angesehen. Schon damals war die Entscheidung als empirisch nicht fundiert kritisiert worden. Schaut man genauer hin, ist das Ergebnis der Sachverständigenkommission auch eine heftige Kritik am obersten deutschen Gericht.

Auf einer deutlich breiteren wissenschaftlich-empirischen Basis kommt der Report zu einem völlig anderen Ergebnis als das Gericht: Die Maßnahmen waren wenig oder gar nicht wirksam. Das hat eine verfassungsrechtliche Konsequenz. Freiheitseinschränkungen, die nicht wirksam die Pandemie bekämpfen, können nicht verfassungsgemäß sein. Vor diesem Hintergrund sind die Urteile des Karlsruher Gerichts zur Bundesnotbremse klare Fehlentscheidungen. Die selbst ernannten „Hüter der Verfassung“ müssen sich fragen lassen, ob sie ihre Aufgabe während der Corona-Pandemie erfüllt haben.

Comeback der Ideologie

Trotz dieser brisanten Feststellungen hat der Bericht nur kurz für Aufregung gesorgt. Weil der Bericht so unklar und wenig mutig war, ist er sofort zum Spielball der parteipolitischen Auseinandersetzung geworden. Jeder suchte sich eine Passage heraus, die seine vorgefasste Meinung zur Pandemiepolitik (scheinbar) stützt. Das war kein Sieg der Wissenschaft, sondern ein Comeback der Ideologie.
Für die Zukunft sind das keine guten Aussichten. Alle politischen Probleme schreien nach sachbezogenen pragmatischen Lösungen.

Das gilt für die langfristigen und existenziellen Probleme wie den Klimawandel ebenso wie für die kurzfristigen Herausforderungen der aktuellen Energiepolitik für die nächsten Monate. Und im Herbst und Winter werden wir - wahrscheinlich - eine sinnvolle Corona-Politik brauchen. Vielleicht lesen die politischen Akteure den Evaluationsbericht noch einmal genauer und lassen sich darauf ein? Das wäre dann ein Hoffnungsschimmer.

Hören Sie hierzu auch den Cicero-Podcast mit René Schlott:

Anzeige